Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 13: Kanjou – Gefühle ---------------------------- Uruha:   Nur widerwillig setze ich mich gerader hin, nachdem sich Aoi aufgerichtet hat und die Wärme von meiner Schulter verschwunden ist. Ich spüre seine Präsenz weiterhin und kann kaum fassen, dass wir den ganzen Film aneinander gelehnt verbracht haben. Als Vorwand dienten uns Aois Kopfhörer, obwohl eine kleine Stimme in mir sagt, dass wir diese Ausrede gar nicht gebraucht hätten. War ich es nicht gewesen, der zu Beginn des Films Aois Hand gar nicht mehr loslassen wollte? Ich senke den Kopf, sodass mir meine Haare ins Gesicht fallen und die leichte Röte verbergen, die in meine Wangen gestiegen ist.   „Hier.“ Ich befreie mein rechtes Ohr von dem Kopfhörer und reiche ihn Aoi, der das Kabel zusammenwickelt und in seinem Rucksack verstaut. „Es war unglaublich interessant, den Film mit Audiodeskription anzusehen“, gebe ich zu und freue mich über das Strahlen, das meine Worte auf sein Gesicht zaubern. Es freut mich, dass ich seine Bedenken, die zusätzliche Erzählstimme im Ohr würde mich ablenken oder nerven, zerstreuen konnte.   „Ehrlich? Das freut mich.“   „Ganz ehrlich. Das Konzept ist mir ja nicht neu, aber mich mal bewusst drauf einzulassen schon.“   „Ach, du kennst dich mit Audiodeskription aus? Ich hab eher die Erfahrung gemacht, dass die meisten nicht wissen, wovon ich rede, wenn ich davon erzähle.“   „Auskennen ist zu viel gesagt.“ Ich lächle etwas peinlich berührt und winke ab. „Ich bin das ein oder andere Mal darüber gestolpert, wenn ich versehentlich den Tonkanal am Fernseher gewechselt habe.“   „Ach so.“ Aois Lachen ist ansteckend und wunderschön zugleich.   „Ich musste mich die ersten fünf Minuten an die Stimme im Ohr gewöhnen, aber dann war es stellenweise richtig witzig. Der Sprecher hat den Humor des Films echt verstanden und manche Details hätte ich vermutlich ohne die zusätzliche Beschreibung erst bemerkt, wenn ich den Film öfter gesehen hätte.“   „Heißt das, du würdest noch mal mit mir ins Kino gehen?“   „Absolut.“ Ich erwidere Aois Grinsen, stehe auf und strecke ihm meinen Arm entgegen. ER hängt sich ein und wir schlendern gemütlich aus dem Kinosaal. Es ist schön, dass es die Möglichkeit einer Bildbeschreibung mittlerweile auch für die große Leinwand gibt. Zwar wird diese noch nicht für jeden Film produziert, der in den Kinos gezeigt wird, aber der erste Schritt ist getan – die Technik ist vorhanden. Irgendwann werden hoffentlich die meisten Kinofilme über diese Art der Barrierefreiheit verfügen, so wie es auf Streaming-Plattformen über die Jahre beinahe selbstverständlich geworden ist. Ich stimme Aoi allerdings voll und ganz zu; generell ist hier noch deutlich Luft nach oben.   „Na, wie hat euch der Film gefallen?“, fragt Tora neugierig, als wir im Foyer zu den anderen stoßen. Eine lebhafte Diskussion entbrennt, bei der ich mich etwas zurückhalte. Ich will nicht zugeben, dass Teile der Handlung komplett an mir vorbeigegangen sind, weil ich mich auf Aois Atmung, seinen Duft oder schlicht auf die angenehme Wärme konzentriert habe, die von ihm ausgegangen war. Wie sehr wünsche ich mir, die Zeit zurückdrehen zu können, um die letzten hundertfünfunddreißig Minuten noch einmal zu erleben.   „Du bist so still“, flüstert eine weiche Stimme in mein Ohr und sorgt dafür, dass sich gefühlt jedes noch so kleine Härchen an meinem Körper aufrichtet. „Ist alles in Ordnung?“ Ich nicke, weil ich meiner Stimme nicht traue, und sehe zur Seite, direkt in Aois schöne Augen. „Willst du auch noch etwas trinken gehen?“   „Trinken?“ Ich blinzle, wie aus einem Traum erwacht, und fühle mich etwas dümmlich, wie ich hier stehe und nur einsilbige Fragen über die Lippen bekomme.   „Ja, trinken“, trällert Ruki und knufft mir in die Seite. „Du weißt schon, die Tätigkeit, den Organismus mit lebensnotwendiger Flüssigkeit zu versorgen.“   „Ich bezweifle, dass Bier und Sake zu den lebensnotwendigen Flüssigkeiten gehören.“   „Ach Kai, sei kein Spielverderber.“   „Also ich würde mich rausnehmen“, schaltet sich Aoi ein und unterbricht damit die spielerische Zankerei meiner beiden Kollegen. Ich für meinen Teil habe es noch immer nicht geschafft, meine Absichten kundzutun, aber das ist nichts Neues. Ich bin so unfähig. „Bei mir bahnen sich Kopfschmerzen an. War wohl ein bisschen viel Flackern auf der Leinwand.“   „Wie schlimm ist es?“ Reita, der sich bis eben noch köstlich über Kais Versuche amüsiert hat, Ruki davon zu überzeugen, dass Alkohol für keinen Organismus als lebensnotwendige Flüssigkeit durchgeht, ist von einer auf die andere Sekunde ernst geworden.   „Nicht so schlimm, dass eine Schmerztablette und Ruhe das nicht wieder richten könnten.“   „Gut, dann sollten wir zusehen, dass wir nach Hause kommen.“   „Och, schade“, kommt von Kai und Ruki fast zeitgleich und auch Tora sieht so aus, als hätte ihm Reita sein Lieblingsspielzeug weggenommen.   „Ich …“ Mir versagt die Stimme und mit einem Mal schlägt mir mein Herz bis zum Hals. Ich bin kurz davor, den Kopf zu schütteln, nur damit die neugierigen Blicke der anderen von mir ablassen, reiße mich aber zusammen. „Ich hab keine gesteigerte Lust darauf, noch etwas trinken zu gehen. Ich könnte mit Aoi fahren; der Umweg stört mich nicht.“ Aoi an meiner Seite bewegt sich leicht und ich spüre seine Finger, die ganz kurz die meinen umschließen. Ich widerstehe dem Drang, ihn anzusehen, oder debil vor mich hin zu grinsen, und bin nur froh, dass ich seinen Wink mit dem Zaunpfahl nicht fehlgedeutet habe.   „Bist du dir sicher, dass es dich nicht stört?“, versichert sich Aoi und ich kann nicht sagen, ob er seinetwillen fragt oder um unsere kleine Scharade für die anderen glaubhafter zu machen. Nonchalant zucke ich mit den Schultern und sehe erst ihn, dann Reita und den Rest unserer Gruppe an.   „Ich bin mir sogar sehr sicher. So schön der Kinobesuch mit euch war, so froh bin ich, schnellstmöglich weg von all den Leuten zu kommen.“   „Mensch Uruha, du bist und bleibst ein Einsiedlerkrebs.“   „Motz nicht rum“, kontere ich und schaffe es gerade so, Ruki nicht die Zunge herauszustrecken. „Ich bin erst letzte Woche mit Kai und dir in dieser dubiosen Bar versauert. Mein Pensum an zwischenmenschlicher Interaktion ist für diesen Monat definitiv erfüllt.“   „Dass er sich aber auch immer wie eine Diva zieren muss“, flüstert der zu kurz geratene Kerl für alle hörbar in Kais Richtung, der uns daraufhin nur mit seinem strahlenden Grinsen beglückt. Ist es nicht immer wieder schön, wie leicht ich meine Mitmenschen fröhlich stimmen kann? Ein Augenrollen zu unterdrücken, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit, aber ich schaffe es.   „Ich weiß nicht, was du hast.“ Aoi verwundert mich, indem er in diese unsinnige Unterhaltung einsteigt. „Als ich Uruha gefragt habe, ob er heute mitkommen will, hat er sich überhaupt nicht gesträubt.“   Was zum …? Mein Mund hat sich selbstständig gemacht und steht ein kleines Stück offen. Aoi hat Ruki eiskalt angelogen! Ich habe mich geziert und er musste mich sehr wohl überreden. Zugegeben, Ruki und Kai hätten sich wahrscheinlich die Zähne an meiner Abneigung ausgebissen, abends in die Innenstadt zu fahren, aber hey, so genau wollen wir das nicht nehmen.   „Genauso war es.“ Ich nicke, noch bevor mir richtig klar wird, was ich tue. „Es kommt eben nur darauf an, wie man mich fragt.“ Schmunzelnd strecke ich meinen Ellenbogen zur Seite aus und seufze innerlich erleichtert auf, als Aoi ohne zu zögern meine angebotene Hilfe annimmt. „Schönen Abend euch noch und übertreibt es nicht, ihr müsst morgen den Laden aufsperren“, sage ich an Ruki und Kai gerichtet und nicke Tora und Reita zum Abschied zu. Rukis Gesichtsausdruck ist köstlich – eine Mischung aus Unglaube, Empörung und … Amüsement? Der Kurze überrascht mich immer wieder.   „Take care, the both of you“, schickt uns Reita noch hinterher und ich nicke ihm über die Schulter hinweg zu.   „Er macht sich immer Sorgen.“   „Das ist so lieb von ihm“, murmle ich und muss unwillkürlich lächeln. Die Frage, warum mir Reitas Fürsorge schmeichelt, schiebe ich allerdings schnell weit von mir.   „Ja, das ist es.“ Aoi seufzt und seine bis eben noch ausgelassene Stimmung scheint sich eintrüben zu wollen. Das kann ich nicht zulassen.   „Sag mal …“, wispere ich verschwörerisch und als er fragend die rechte Braue hebt, setze ich erklärend nach: „Bei Ruki weiß man nie, ob er nicht gerade sein Raubtiergehör ausgepackt hat. Der Kerl ist neugieriger als eine Katze.“   „Raubtiergehör, soso.“ Aoi lacht und ich hätte in diesem Moment nicht beschreiben können, wie sehr mich dieser kleine Laut freut. „Aber was willst du mich denn Geheimnisvolles fragen, was er nicht hören soll?“   „Geheimnisvoll ist es nicht, aber vielleicht etwas privat.“ Ich zucke mit den Schultern. „Außerdem muss Ruki nicht alles wissen.“   „Verstehe, also?“   „Was hat es mit Reita und seinem sporadischen Englisch auf sich?“   „Es erstaunt mich, wie lange du es ausgehalten hast, nicht danach zu fragen. Ich hätte schon viel früher damit gerechnet.“ Ein leises Lachen kommt ihm über die Lippen, bevor er den Kopf dreht, um mich ansehen zu können. Plötzlich liegt in seinem Blick so viel Zuneigung, dass mein Herz nicht weiß, was es fühlen soll. Gilt sie mir? Reita? Uns beiden? „Reita ist in Michigan aufgewachsen. Als er dreizehn war, musste die Firma seines Vaters Konkurs anmelden und die Familie ist zurück nach Japan gegangen. Er ist zwar zweisprachig aufgewachsen, hatte mit Japanisch also nie Probleme, trotzdem schleicht sich auch heute noch hier und da ein englischer Satz ein.“ Aois Blick geht in die Ferne und ich frage mich, ob er in Erinnerungen an längst vergangene Tage schwelgt. Meine Neugierde ist geweckt, ich will mehr über diesen jungen Reita erfahren, will wissen, wie Aoi und er sich kennengelernt haben. Haben sie dieselbe Schule besucht? Haben sie sich über ihre Eltern kennengelernt? Aber da spricht Aoi weiter und ich bin froh, mir meine Fragen verkniffen zu haben. Ich werde sie Reita selbst stellen … wenn ich den Mut dazu finde. „Ich glaube ja, es erinnert ihn an seine Kindheit, auch wenn er behauptet, dass er das nur tut, weil ihn das Englisch interessanter macht.“ Ich kann nicht anders, ich muss mir die Hand vor den Mund schlagen, um mein Lachen dahinter zu verbergen. Reita ist wirklich so ein entzückend verschrobener Kerl. „Was denn?“ Aoi grinst offen. „Findest du etwa nicht, dass es ihn interessanter macht?“   „Um ehrlich zu sein, hat es mich anfangs nur irritiert.“   „Mh, nur anfangs?“   „Ja, ich hab mich schnell daran gewöhnt. Mittlerweile finde ich es …“ Niedlich ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommen will, aber ich werde mich hüten, das laut auszusprechen.   „Ja~?“, fragt Aoi lauernd.   „Ehm … charmant. Es passt irgendwie zu ihm.“   „Das sag ich ihm, er wird sich freuen, dass du ihn charmant findest.“   „Aoi!“   „Was denn?“ Ich schnaube und spare mir einen Kommentar, bevor ich mir mein kleines Grab noch tiefer schaufele. Aoi legt für einen Moment den Kopf an meine Schulter und augenblicklich durchflutet Wärme jeden Winkel meines Körpers. „Nimm mir mein Necken bitte nicht übel, Uruha.“   „Keine Sorge, das tue ich nicht. Ich bin nur weitaus weniger schlagfertig als du.“   „Und das ist gut so, würde ich sagen.“   Ich summe verstehend; Schlagfertigkeit ist in unserer Gesellschaft kein Charakterzug, der erstrebenswert ist. Ich finde das schade, denn ich mag Aois offene, spontane Art unglaublich gern. Vorsichtig lotse ich uns um eine Gruppe junger Frauen herum, die sich genau vor dem Ausgang platziert haben und sich für meinen Geschmack mit etwas zu viel Körpereinsatz über den soeben gesehenen Film unterhalten. Erst als wir heil draußen angekommen sind, kommt mir wieder unser Gespräch mit den anderen in den Sinn. Auch hier hat Aoi bewiesen, wie schlagfertig er ist.   „Danke übrigens, dass du vorhin mitgespielt hast.“   „Was meinst du?“   „Na ja, wir wissen beide, dass ich nicht gerade Feuer und Flamme war, als du mich gefragt hast, ob ich mit ins Kino will.“   „Ach das, immer gern. Außerdem war das nicht ganz uneigennützig.“   „Mh? Das musst du mir jetzt erklären.“   „Der Reaktion deiner Freunde nach zu urteilen, kann ich mir etwas darauf einbilden, dir den Kinobesuch schmackhaft gemacht zu haben. So ein bisschen Bewunderung für mein angebliches Überzeugungstalent einzuheimsen, tat echt gut. Außerdem haben wir vorhin quasi schon unser nächstes Kino-Date verabredet.“ Ich höre nur Date und meine Ohren stehen gefühlt in Flammen. Irgendetwas, was ich nur als Stottern beschreiben kann, verlässt meinen Mund und ich würde am liebsten hier und jetzt im Erdboden versinken. „Du bist süß, wenn du verlegen bist.“   „Und du weißt hoffentlich, dass du es mit solchen Aussagen nicht besser machst?“   „Dessen bin ich mir mehr als bewusst.“ Aoi drückt meinen Oberarm, während wir den nicht allzu langen Weg zur U-Bahnhaltestelle antreten. Es ist kalt geworden, der Gehweg ist rutschig und bietet mir die perfekte Ausrede, ihn noch näher an mich zu ziehen. Ich wünschte, wir hätten nicht so viele Lagen Stoff zwischen uns, so wie im Kinosaal eben, aber ich finde mich damit ab, dass ich nicht alles haben kann. Aoi seufzt leise, als uns die warme Luft des Untergrunds entgegenschlägt.   „War dir kalt?“   „Ein wenig.“   „Die nächste Bahn müsste unsere sein.“   „Mhmh.“   Ich wende mich ihm zu, als wir am Bahnsteig angekommen sind, und mustere ihn. Er ist in den letzten Minuten eigenartig still geworden, sieht aber nicht so aus, als missfiele ihm irgendetwas. Ein feines Lächeln ziert seine Lippen und wieder lehnt er gegen meine Seite, wirkt gelöst. Mein Herz macht einen Hüpfer – bin ich dafür verantwortlich? Fühlt er sich in meiner Gegenwart wohl? Sicher genug, um sich entspannen zu können? Ich setze zum Reden an, noch bevor ich wirklich weiß, was ich sagen will. Genau in diesem Augenblick fährt unsere Bahn ein und sowohl das Quietschen der Bremsen als auch der Fahrtwind verschlucken meine Worte. Wir steigen ein und ich bin nicht sicher, ob ich froh über die verpasste Gelegenheit bin oder nicht.   „Glück muss man haben, wir können uns setzen.“ Ich gehe auf die eben erspähten freien Plätze zu und lasse mich nieder, Aoi neben mir.   „Tut mir leid, dass ich so mundfaul bin, aber irgendwie war der Abend anstrengender, als ich bis eben gedacht habe.“   „Das macht doch nichts, alles gut. Wenn du willst, kannst du etwas dösen, ich passe auf, dass wir unsere Haltestelle nicht verpassen.“   „Lieb von dir, dass du mich nach Hause bringst.“   „Das versteht sich von selbst.“   Aois Mundwinkel sinken leicht herab und ich beeile mich zu sagen, dass ich gern noch mehr Zeit mit ihm verbringen will. Ich denke, ich habe die richtigen Worte gefunden, denn mit einem leisen, zufriedenen Seufzen lehnt er sich wieder gegen mich und schließt die Augen. Seine Hand schleicht sich auf meinen Oberschenkel, wo ich sie einfange und unsere Finger miteinander verschränke. Oh ja, so ist es perfekt.   Uns gegenüber sitzt eine junge Frau, die uns verstohlen über den Rand ihres Buches beobachtet. Als sie meinen Blick bemerkt, senkt sie eilends den Kopf und wirkt angestrengt in ihre Lektüre vertieft. Der ältere Herr neben ihr hingegen grinst mich offen an, was seine Falten um Mund und Augen zu tiefen Furchen werden lässt. Ich lächle zurück, glücklich darüber, dass mir soeben wieder einmal bewiesen wurde, dass in unserer Gesellschaft langsam aber sicher ein Umdenken stattfindet. Mein Blick bleibt an der Dunkelheit vor den Fenstern hängen und insgeheim wünsche ich mir, in hohem Alter auch so runzlig zu sein, wie dieser Opa, und Aoi noch immer an meiner Seite zu wissen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)