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Kontroverse Gesellschaftskritik oder: Wieviele Opfer gab es beim letzten Amoklauf?

Autor:  DarkSpir
Laune: o.o""

Ich hatte gerade wieder mal diese 5 Minuten. Diese 5 Minuten in denen ich mich frage, zu wieviel Prozent unser Volk aus intelligenten, gebildeten Menschen besteht und zu wieviel Prozent unser Volk einfach nur ungebildet und kurzsichtig ist. Ist schon das zweite Mal diese Woche. Das erste Mal war bei einem ganz anderen Thema, hatte aber dieselben Kritikpunkte interessanterweise wie das aktuelle Thema: Amoklauf an deutscher Schule.

Rasseln wir mal grob die Fakten runter, mit denen uns die Medien im Sekundentakt bombardieren. Der Kerl fährt an seine Schule, zieht ne Waffe, schiesst um sich, flieht, erschiesst dabei weitere Leute und am Schluss sich selbst. Die Medien sprechen von 15 Opfern. 9 Schüler, drei Lehrer, drei Passanten. Und was ist mit dem 16. Opfer? Warum wird das nicht so deutlich erwähnt?

Okay, Frage. Was ist ein Amokläufer? Ein Täter? Ein Opfer? Ein Opfer, dass zu einem Täter wurde? Das kann man so allgemein gar nicht sagen, aus der Erfahrung aus den letzten Fällen in Deutschland heraus würde ich aber sagen eher etwas zwischen dem 2. und dem 3. Aber dazu gleich mehr.

Andere Frage: Nach dem Amoklauf, was denken die Leute darüber? Was fordert die Politik? Sie fragen nach dem Warum. Okay, das will ich hier beleuchten. Sie fordern nach Maßnahmen, die so etwas im Vorfeld entdecken und verhindern können. Dazu sag ich auch was. Und dann kommt der Konservative Flügel und verlangt nach dem Verbot von Ballerspielen.

Beleuchten wir mal kurz die Ballerspiele. Laut dem statistischen Bundesamt gab es 2007 in Deutschland rund 9,5 Mio Jugendliche im Alter von 15-25 Jahre. Wieviele dieser Leute verfügen über einen Computer? Ich denke mal fast alle, aber wir nehmen sicherheitshalber mal einen fiktiven Wert von 50% an. Also: 4,75 Mio Jugendliche in Deutschland haben einen Computer. Wieviele davon spielen Ballerspiele? 2003 gab Valve noch an, dass Bundesweit täglich 500.000 Spieler Counter-Strike spielen. Gut, heute spielen sie halt andere Spiele und auch damals gab es schon andere Spiele, nehmen wir mal wieder an, dass jeder zweite auf seinem Computer auch in irgendeiner Form einen Shooter hat. Das wären dann 50% von 4,75 Mio Jugendlichen, ergibt rund 2,4 Mio. Oder anders gesagt: Wir nehmen jetzt an, dass von 9,5 Mio Jugendlichen in der Bundesrepublik Deutschland jeder Vierte Ballerspiele spielt oder sich sonst irgendwie Zugriff darauf verschafft.

Die Argumentation der Konservativen ist folgende: Ballerspiele beeinflussen die Entwicklung der Jugendlichen negativ und führen dazu, dass sie Gewalttaten wie Amokläufe begehen. Aber, man hat sich ja auch schon darauf geeinigt, das das nicht auf alle zutrifft. Machen wir mit unserem Zahlenbeispiel weiter. Nehmen wir jetzt einfach mal an, 50% aller Ballerspiel-spielenden Jugendlichen werden davon beeinflusst und könnten Amokläufe begehen. Oder in Zahlen: 50% von 2,4 Mio = 1,2 Mio potentielle Amokläufer in Deutschland. Mein lieber Mann, wenn jetzt jeder von denen auf seinem Amoklauf 9 Leute und sich selbst erschiesst, entspricht das einem Bevölkerungsverlust von 12 Mio Personen. Mehr als wir Jugendliche in Deutschland haben! Die Zahl kann also nicht stimmen, weil sonst hätten wir täglich mehrere Amokläufe in den Nachrichten.

Also müssen wir annehmen, dass es weniger potentielle Amokläufer in Deutschland gibt (sonst gäbe es ja mehr Amokläufe konsequenterweise). Also sagen wir mal von den 2,4 Mio Ballerspiel-spielenden Jugendlichen würden 5% Amokläufe in Erwägung ziehen. 5% von 2,4 Mio sind immerhin noch 120.000 Jugendliche. Für mein Gefühl ist die Zahl immernoch zu gross, aber ich denke, wir haben jetzt mal ein Gefühl für die Verhältnisse, über die wir sprechen, wenn wir sagen, dass 95% der spielenden Jugendlichen davon nicht beeinflusst werden.

Wenn wir also ein Verbot über Gewaltspiele fordern, schränken wir 95% der betroffenen Bevölkerungsgruppe ohne Grund in ihrem Tun ein (sie dürfen nicht mehr diese Spiele spielen) um 5% (warscheinlich weniger) zu schützen. Wir reden hier von legaler Beschaffung, also ich geh in den Laden und kauf es mir da. Wir reden hier nicht von "Ich besorgs mir illegal im Internet oder bestell es im Ausland oder bring es mir aus dem Amerikaurlaub mit". Die 5% würden ihre Ballerspiele also mit größter Warscheinlichkeit trotzdem irgendwie kriegen. Beleg hierzu: Der Besitz und der Vertrieb von Drogen sind in Deutschland verboten. Trotzdem konsumieren viele Menschen hierzulande Drogen. Wurde das Problem durch das Verbot gelöst? Nee. Und genauso wird es auch mit den Computerspielen sein, sofern das überhaupt die Lösung für das eigentliche Problem ist.

Das haben wir nämlich noch gar nicht betrachtet. Womit verübt der Amokläufer so seine Taten? In der Regel mit Schusswaffen. Wo kriegt er sie her? Irgendwer aus der Familie ist im Schützenverein oder sammelt legal Waffen oder dergleichen. War bis jetzt bei jedem Amoklauf hierzulande so. Wenn wir Gewaltspiele verbieten, würden dann die Amokläufer nicht mehr oder schwieriger an diese Waffen ran kommen? Sicherlich nicht schwieriger als vorher auch. Wieviele Waffen und wieviel Munition liegt durchschnittlich bei einem Computerspiel mit in der Packung? Also kann das weder die Ursache noch die Lösung sein.

Aber was ist die Ursache? Erfurt. Robert Steinhäuser schwänzt den Unterrichtim Gymnasium und fälscht dazu ein Attest. Das fällt auf, er wird der Schule verwiesen und wegen landesspezifischen Regelungen hat er plötzlich nichtmal die mittlere Reife. Perspektivlosigkeit. Darüber hinaus die Reaktionen seines Umfeldes (Rektorin z.B.), die letztendlich nur ihm deutlich machen, dass es seine eigene Schuld ist und er sehen soll, wie er da selbst wieder raus kommt. Kernaussagen an diese Leute war also: "Mich interessiert das nicht, ist dein Problem." Ergebnis: Verzweifelung. Perspektivlosigkeit.

Was hat er getan: Er sah sich selbst in unserer Gesellschaft untergehen und hat beschlossen, entweder mit einem Knall unterzugehen, dass wir ihn wenigstens wahrnehmen (nachdem wir ihm so demonstrativ den Rücken gekehrt haben) oder zumindest die noch mitzunehmen, die ihm das angetan haben (oder andere mitzunehmen, symbolisch für diese Leute). Den Rest kennen wir.

Leider ist dieser Ablauf beispielhaft für alle anderen Amokläufe, die bisher stattgefunden haben. Verzweiflung, Perspektivlosigkeit, keine Hilfestellung, stattdessen Ignoranz, mangelnde Hilfsbereitschaft und zu guter Letzt der relativ problemlose Zugriff auf Waffen. Verzweiflung schlägt in Hass um, der Hass zieht den Abzug durch und danach, sollte es zu einer Schießerei kommen, fängt dann der Gedanke an "Entweder ich oder die." Warum erschiessen sich so viele Amokläufer am Ende selbst? Realisieren sie, was sie getan haben? Und dass die Polizei unter Umständen selbst erstmal schießen und dann fragen wird? Es weiss keiner, die Leute haben sich ja selbst erschossen und keiner konnte sie vorher nochmal fragen.

An der Stelle wieder die Frage: Ist der Amokläufer in der Situation noch Täter oder ist er schon Opfer? War er jemals Täter oder wurde er von seinem Umfeld letztendlich auf irgendeine verdrehte Art und Weise zu dieser Tat "gezwungen"? Sind Amokläufer vielleicht auch einfach nur krank und keiner hat ihnen geholfen oder sich dafür eingesetzt, dass sie behandelt werden?

Ich habe heute ein paar Menschen in meinem Bekanntenkreis zu dem Thema befragt. Die Antworten waren leider sehr stimmig: "Das Leben ist heilig. Für das Töten anderer Leute gibt es keine Rechtfertigung.", "Der hätte sich Hilfe suchen sollen.", "Dem hätte jemand helfen müssen."

Hilft ein Verbot von Ballerspielen oder von Schusswaffen in Deutschland denjenigen, die so verzweifelt sind, dass sie keinen anderen Ausweg mehr sehen können? Oder hilft ihnen eher, wenn man auf sie zu geht, sich ihre Sorgen anhört und ihnen sagt: "Scheisse, Mann, aber pass auf. Wir zwei reden jetzt mit dem und mit dem und pass auf, wir gehen jetzt da hin und lassen uns beraten. Du, wir kriegen da was hin, ich bleib bei dir." Unabhängig der Situation, in der sich der einzelne befindet, wenn ich so etwas zu ihm sage und es dann auch tue, würde diese Person noch zur Waffe greifen und blind um sich schiessen? Wer von uns glaub das?

Aber stattdessen fordern wir Verbote, wir fordern Schulungen für Lehrer, Eltern und Polizisten sowie Gesetzesänderungen. Wir fordern von unserer Politik, dass sie eine Anti-Amoklauf-Sicherung in den Köpfen unserer Kinder einbaut, die vom Tüv geprüft und regelmäßig ausgewechselt wird, sollte sie mal durchbrennen. Keiner von uns fordert aber, dass wir uns mal mehr umeinander kümmern, dass wir unsere Kinder nicht vor dem Fernseher parken, sondern mit ihnen auf den Spielplatz gehen oder sonstwie Zeit mit ihnen verbringen. Und: Keiner fordert von uns selbst, dass wir mal über unsere Grundstücksgrenze hinaus denken, vielleicht übers Ortsschild hinaus und unsere gesellschaftlichen Probleme mal aus der Perspektive von Deutschland oder gar der Welt heraus betrachten.

Das Letzteres nicht stattfindet, dafür hab ich auch ein Beispiel aus dieser Woche, bei dem ich das erste Mal diese 5 Minuten hatte, die ich eingangs erwähnte. Da ist ein Kinderschänder. Der ist bestraft worden. Der hat jede Therapie abgelehnt, hat seine Strafe abgesessen und ist freigelassen worden. Der Sinn von Gefängnis und Resozialisierung ist die Leute für ihre Tat zu bestrafen, dafür zu sorgen, dass sie die Tat nicht wieder begehen, sie aber auch wieder zu einem funktionierenden Mitglied unserer Gesellschaft zu machen. Der Richter glaubte an diese Resozialisierung und hat den Mann in die Freiheit entlassen. Natürlich glaubt er daran, sonst müsste er unseren kompletten Rechtsstaat in Frage stellen.

So, jetzt ist da ein Landrat aber der Meinung, dass dieser Mensch nicht resozialisiert ist. Also schickt er ne Warnung an seine Mitbürger raus: "Achtung, dort wohnt ein Kinderschänder. Name. Adresse."

In den Medien war jetzt also dieser Mann, der zu seinem Bruder geflüchtet ist und eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Haus, die laut forderten, dass der Kinderschänder weg muss. Polizeischutz vor dem Haus, damit nix passiert. Der Zyniker sagt jetzt: Und das alles von unserem Steuergeld.

Journalisten haben die Demonstranten interviewt (quelle: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,612010,00.html).
Zitat:
Denn in den Straßen von Randerath herrscht Pogromstimmung. Teils offen, teils hinter vorgehaltener Hand fordern die Bewohner drastische Maßnahmen. "Ich bin kein Rechter", sagt etwa ein Nachbar, "aber da müssen mal ein paar Springerstiefel her ..."

"Ich will's nicht offen sagen", sagt ein Passant, "aber vor 50 Jahren hätte man so was schnell erledigt". Rechtsradikale haben bereits eine Demonstration organisiert.

Jeden Abend treffen sich die Bewohner von Randerath und den umliegenden Gemeinden vor dem Haus, in dem Karl D. bei seinem Bruder und dessen Familie wohnt. "Raus, raus, raus", fordern sie. Auf die Frage, was geschähe, wenn Karl D. nun das Haus verließe oder morgens zum Bäcker ginge, lächeln die meisten nur. Verlegen. Vielsagend.


Mir ging beim Lesen nur eins durch den Kopf: "Raus, raus, raus... WOHIN DENN?"

Wohin mit dem Kerl. In die Nachbargemeinde? Vielleicht nach Hessen? Oder in den Osten? Bauen wir ihm ein Ghetto irgendwo? Oder vielleicht nach England? Oder in die Türkei? Nach Polen? Schieben wir ihn ab nach Amerika? Oder setzen wir ihn auf einem Fluß in der Nordsee aus? Was für eine Lösung fordern diese Leute, was soll man mit ihm machen? Und welche Mittel gegen ihn sind gesetzlich legal?

An dieser Stelle wurde mir klar, dass diese Leute vor dem falschen Haus stehen. Sie hätten eigentlich vor dem Landtag in München stehen und dort demonstrieren müssen, damit eine gesetzlich legale Lösung für dieses Problem gefunden oder geschaffen wird. Damit könnte man das Problem lösen, aber dafür müsste man das Problem als Solches erstmal verstehen und sich mit seinen Ursachen befassen.

Da dreht man sich dann doch lieber um und sagt sich: "Da muss sich jemand drum kümmern (aber bitte nicht ich!)"

Genau wie beim Thema Amokläufe.

Warum sind wir eigentlich ein so verdammt ignorantes Volk? Bildungsmangel? Ich weiss es nicht. Aber es macht mich traurig.
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Datum: 24.03.2010 09:54
Ignoranz - der Virus unserer Gesellschaft.
Du hast es auf den Punkt gebracht.
Solche fünf minuten bekomme ich täglich - eigentlich auch immer, wenn man Zeitung liest, Nachrichten hört oder sieht...
Eine am Boden liegende Frau wird von einer anderen geschlagen und getreten (u.a. gegen den KOPF) - die Sicherheitsbeamten stehen daneben und greifen nicht ein, so wie auch sonst niemand eingegriffen hat. Wozu gibt es nun also diese Security, wenn sie dann doch nichts tun?
Zivilcourage - wird im übrigen ja auch bestraft, man muss ja um sein Leben fürchten, wenn man jemandem helfen möchte - scheint es nicht zu geben.

Bei einem Amoklauf sage ich immer: "Keiner hat was gemerkt."
Denn das ist doch die typische Aussage, oder? Er war ganz normal...
Sowas sagen die Menschen auch, wenn sich jemand umbringt - was ja auch auf Amokläufer zutrifft.

Wie war das damals? I don't like mondays...

Und der Kinderschänder ist auch eine interessante Sache. Wo soll er hin? Ganz recht.
Menschen haben eine zweite Chance verdient, aber ich möchte ehrlich sein, ich würde sie ihm wohl auch nicht geben - aber ich würde mich wahrscheinlich auch nicht vor das Haus seines Bruders stellen und demonstrieren.
Kennst du den Film Woodsman mit Kevin Bacon? Sehr bewegend, erschreckend, ehrlich. Irgendwer hat dazu gesagt: "Soll man jetzt Mitleid mit ihm haben?"
Nein, das soll man nicht, aber man soll auch mal hinter die Fassade blicken. Vielleicht mal sein Hirn einschalten.

Es gibt viele kranke Dinge auf dieser Welt - die Menschen wollen nicht hinsehen, beklagen sich hinterher aber.

Ach, ich weiß auch nicht. Ich kann dir eigentlich nur zustimmen.
Das Leben ist eine Herausforderung, nimm sie an.

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