Zum Inhalt der Seite

Der Glasgarten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Der Besuch der alten Dame

~ Der Besuch der alten Dame ~
 


 


 

Aya fühlte sich seltsam beruhigt durch die Geste der alten Frau und durch ihre Worte. Er hoffte wirklich, dass es Schuldig jetzt besser gehen und dass der Telepath sich nun erholen würde. Er fühlte sich nicht mehr ganz so hilflos wie zuvor.

„Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen für Ihre Hilfe bin, Kazukawa-san“, sagte Aya, als er die Küche betrat und für einen Moment überlegte. Sie hatten nicht mehr viel da, aber er würde den Teufel tun und die Frau ohne eine gescheite Mahlzeit gehen lassen. Eigentlich…wenn er sich den Sturm draußen betrachtete, wäre es am Besten, wenn sie erst morgen früh wieder hinunter ging oder er sie nach Hause brachte.
 

Misumi nickte ein paar Mal gefällig und seufzte erneut. „Sehen Sie es als Nachbarschaftshilfe an, Fujimiya-san.“ Ihr verschmitzt blickendes Gesicht fing das junge, verschlossene des Mannes ein.

Sie setzte sich in dem Wohnraum, blickte hinaus auf die Veranda des Gartens.

„Später geben wir ihm noch einmal diese Tabletten und noch welche gegen Fieber und Schmerzen. Das lindert die Gliederschmerzen…“
 

Während die beiden sich unterhielten und ihr weiteres Vorgehen planten, schlief das Sorgenkind dank der Tabletten ruhiger und erholte sich etwas mehr als die Stunden zuvor.

Dafür nahm der Husten zu und auch der Schnupfen wurde mehr.

Gegen morgen dann fischte Schuldig im halbwachen Zustand gelegentlich schon nach den bereitliegenden Taschentüchern. Seine Kehle fand auch einen dankbaren Helfer, der in Form von kühlem Tee erschien, und er schlief wieder ein.
 

Als er das nächste Mal die Augen aufschlug, war es angenehm dunkel im Raum. Die Läden waren nur angelehnt und draußen war das leise Plätschern des Regens zu hören.

Die Decke etwas hochziehend drehte er sich auf die Seite, rollte sich halb ein, wobei er überraschend feststellte, dass er nicht alleine war.

„Was?“

Er fuhr alarmiert hoch – was sich darin äußerte, dass er sich auf einen Ellbogen stützte und die Stirn runzelte. „Wer sind Sie?“, wisperte er, da seine Stimme angegriffen war. Er brachte kaum einen Ton heraus. Die alte Frau reichte ihm eine Schale, in die er zunächst misstrauisch starrte, bevor er sie an die Lippen führte um einen köstlichen Schluck Tee zu sich zu nehmen. Es tat gut und beruhigte seine Kehle.
 

Aya hatte aus seiner etwas weiter entfernten Position gesehen, wie Schuldig zu sich kam und die Frau argwöhnisch beobachtete. Er kam durch die offene Tür und schob sich in das Blickfeld des Telepathen, kniete sich neben die alte Frau.

Ein leichtes Lächeln spielte um seine Lippen, als er die Hand für die leere Teeschale aufhielt.

„Hey…wieder unter den Lebenden?“
 

Misumi hatte sich vorgestellt, während Fujimiya-san hereingeeilt war. Der junge Mann mit den Feuerhaaren lächelte müde, doch hinter diesem Lächeln lauerte etwas anderes, als Fujimiya-san sprach. Die blaugrünen Augen schimmerten erleichtert, als sein Blick sich in den des anderen legte.
 

„Ja, ich bin mal wieder unter den Lebenden.“ Schuldig nickte zu der Frau und lehnte sich wieder zurück. Es kratzte bereits wieder im Hals. „Ihr seht mich an, als wäre das nicht ganz so normal, dass ich jetzt die Augen aufschlage.“

Sein Blick ging von Kazukawa zu Ran und er strich sich die Haarsträhne hinter das Ohr zurück. Selbst das war anstrengend. Es hatte ihn scheinbar richtig böse erwischt gehabt.
 

„Sagen wir…es ist erleichternd, dass du deine Augen endlich wieder aufgeschlagen hast“, entgegnete Aya mit einem Stirnrunzeln. „Du hast mir…uns ganz schöne Sorgen bereitet, mein Lieber.“

Er füllte die Schale mit dem Tee wieder auf und hielt sie Schuldig ein weiteres Mal hin.
 

Schuldig ließ seinen Blick prüfend über Ran gleiten, beschloss, dass es diesem gut zu gehen schien, auch wenn die sorgenvollen Augen noch immer nicht gegen einen freudigen Schimmer eingetauscht waren.

Sich räuspernd nahm er den Tee entgegen und behielt die Tasse in den Händen. „Ich danke euch Zweien, mir geht es schon besser“, grinste er in Herzensbrechermanier, auch wenn sein Gesicht noch sehr blass, die Haare zwar zusammengebunden, dennoch wild und unfrisiert waren. Er freute sich, dass er sich nicht mehr ganz so bescheiden fühlte.
 

Argusaugen beobachteten, wie Schuldig Schluck für Schluck den Tee zu sich nahm und schließlich nickte Aya bedächtig. „Sehr gut…dann werde ich dir jetzt Suppe kochen, damit du schnell wieder zu Kräften kommst.“

Sprach’s und war ohne Widerworte zuzulassen, aus dem Schlafzimmer verschwunden.

Misumi sah dem nun schon erleichterten Mann nachdenklich hinterher, bevor sie ihren Blick auf den Patienten vor sich richtete und ihn mit prüfendem Blick maß.

„Er hat sich Sorgen um Sie gemacht.“
 

Schuldig hatte Ran mit seinem Blick verfolgt und verzog den Mund nachdenklich. Er hustete verhalten und nahm noch einen Schluck Tee.

„Ja“, nickte er mit ernstem Gesicht. „das ist wohl wahr, Kazukawa-san.“ Schuldig lehnte sich zurück ins Kissen und blickte die alte Frau an.

„Ich danke ihnen, dass Sie da waren und …dass er nicht alleine war.“ Ran… sein Ran alleine, das war nicht gut… da kamen seinem Blumenkind die komischsten Gedanken.
 

Misumi befand, dass dieser Ausländer im wachen Zustand, auch wenn er noch deutlich angeschlagen war, etwas ausstrahlte, das ihren Instinkt für Gefahren ausschlagen ließ. Sie fürchtete ihn nicht…nein, aber er war etwas, das über sein äußeres Erscheinungsbild hinwegging. Wie der Blick Fujimiya-sans, als er ihr gestern die Tür geöffnet hatte.

„Er war erleichtert, dass ich zu Ihnen gekommen bin und mich um seine Familie gekümmert habe“, erwiderte sie mit einem kurzen Lächeln und warf einen prüfenden Blick in die Teeschale.
 

Schuldigs Gedankenleserei war noch nicht auf dem höchsten Level und das brauchte sie auch nicht sein um die Gedanken der Alten deuten zu können.

„Wir müssen Sie um Verzeihung bitten, Kazukawa-san, dass wir ihnen nicht erzählt haben, dass es nicht die Familie im traditionellen Sinne ist. Mir ging es bei unserer Anreise nicht sonderlich gut und ich falle…auf, wie ein bunter Hund. Ich wollte keine Unruhe in Ihre Gemeinschaft bringen. Ran war nicht wohl dabei, dass ich mich nicht habe blicken lassen in Ihrem Dorf.“
 

„Trinken Sie Ihren Tee auf, junger Mann, trinken Sie“, winkte Misumi bedächtig ab und machte eine auffordernde Bewegung in Richtung Getränk.

„Familie ist in der heutigen Zeit ein weit gefasster Kreis, sagt ihr Städter vermutlich…da können wir Alten nicht mithalten.“ Sie lachte leise.

„Unser Dorf hat seit Jahrhunderten seinen kleinen Kreis an Menschen…ein Kreis, der immer kleiner wird. Es verirren sich nicht viele Junge hier herauf.“
 

Einen Schluck Tee nehmend nickte Schuldig. „Als ich das Haus gesehen habe, wusste ich sofort, dass es für Ran wie gemacht ist. Für ihn wäre es erfüllend hier zu bleiben und hier zu leben, kann ich mir denken. Dieses Haus…es ähnelt ihm so sehr.“
 

Misumi dachte an ihren ersten Eindruck…an die alten Augen, die zuviel gesehen hatten, was sie nicht sehen sollten. Und sie dachte an die Geschichten, die dieses Haus in sich trug.

Sie wiegte ihren Kopf leicht hin und her und musste an ihre Tochter denken, die mit Sicherheit eine ganz große Geschichte wittern würde. Doch sie selbst nahm es eher gelassen, mit der Ruhe des Alters.

„Wohl wahr…wohl wahr“, murmelte sie in Gedanken. „Wohl wahr…dieses Haus hat schon vieles gesehen, viele Schicksale…“
 

„Ja und es ist Zeit, dass Ruhe einkehrt, in beide.“

Schuldig musste selbst an diesen Worten einige Augenblicke länger knabbern.

Er machte Ran ständig Sorgen, seit Anfang schon und das musste endlich aufhören. Ran war nicht unendlich leidensfähig. Ruhe und Erholung, Spaß… Ran brauchte Freude und Spaß im Leben.
 

„In alle drei...“, sagte Misumi in ihrem in sich versunkenen Singsang und sie runzelte in Gedanken vertieft die Stirn. Es waren Gedanken an die Narben, die sie gesehen hatte.

„Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?“, fragte sie nach einer kleinen Weile des Schweigens.
 

„Nur beim Schlucken, aber das richtet der Tee ganz hervorragend“, lächelte Schuldig.

„Es fing schon mit Halsschmerzen an. Ein wenig schlapp in den Gliedern, aber das kriegt sich schon wieder ein, bei dieser Pflege“, wieder erprobte er das Lausbubengrinsen. Er mochte alte Menschen sehr. Vielleicht… weil er selbst nie eine Großmutter oder einen Großvater gehabt hatte? Oder weil ihre Gedanken interessanter für ihn waren.
 

Eine der weißen Augenbrauen hob sich, bevor Misumi leise lachte. „Jaja…viel Liebe gehört auch dazu“, bestätigte sie die Zeilen zwischen den Worten und nahm dem Mann die leere Schale ab, füllte sie nachdenklich zur Hälfte.

„Außer der Schlappheit? Der Rücken, wie geht’s ihm?“ Besser, direkt anzusprechen, was auszusprechen war, als um den heißen Brei herum zu reden…
 

Schuldig erstarrte förmlich. Sie hatte seinen Rücken gesehen! Was …was hatte sie dort zu suchen? Warum hat Ran das zugelassen?

Sämtliche Empfindungen flossen über sein Gesicht wie ein kühlheißer Schauer.

Er fixierte die Augen mit einem Blick, von dem er sich nicht sicher war was er erzählte. Er konnte seine Emotionen nicht abschätzen. Verrat, Enttäuschung, Vorsicht, Verletztheit, Unsicherheit, Wut, Dankbarkeit?

Es war eindeutig, woher diese Wunden stammten, wollte Ran sie verraten? Das sollte doch ihr Rückzugsort sein, Rans Platz, falls etwas in ihrer Beziehung schief gehen sollte. Dort wo Schuldig ihn wusste, er aber nie hinkommen würde, wenn Ran es verbot.
 

Misumi hatte zuviel gesehen in ihrem Leben, als dass sie nun diesen Blick nicht deuten könnte, der vor allem von enttäuschtem Vertrauen sprach.

„Der Körper kann manchmal überfordert sein, wenn er an zu vielen Kriegsherden kämpfen muss. Eine Grippe ist nichts Leichtes…eine Entzündung ebenso wenig nicht. Nicht leicht zu verkraften für ein geschwächtes Immunsystem. Daher muss man alle Herde eindämmen und behandeln, damit es nachher wieder bergauf geht.“

Ihre Augen hielten dem Blick des Fremden stand und beobachteten jede Reaktion auf ihre Worte mit Adleraugen.

„Kümmert man sich jedoch nur um das Augenscheinliche, so kann es sein, dass einem etwas Wichtiges entgeht. Fujimiya-san hat sich um Sie gesorgt, in vielerlei Hinsicht.“ Ein Großteil der Trauer, die sie anhand der Erinnerung an diese Verletzungen verspürte, zeigte sich nicht in ihren Worten…ein kleiner Hauch jedoch schon.
 

„Sorge treibt uns manchmal zu seltsamen Dingen.“

Schuldig schluckte und nahm einen Schluck des Tees, den er von ihr entgegengenommen hatte. Er hatte Durst und das Gefühl, er könne nicht genug trinken.

„Ich weiß…ich sollte nicht ungerecht sein“, gab er zu und legte den Kopf in den Nacken. „Sie haben Recht, Kazukawa-san.
 

„Seltsame Dinge sind manchmal die besten Dinge…“, sinnierte die alte Frau mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen. „Vor allem sind das Dinge, die uns gut tun.“

Sie schwieg wieder und lauschte den fernen Geräuschen aus der Küche.

„Manche Fragen bleiben besser unbeantwortet, mein Junge, aber manche Dinge sind dazu da, geändert zu werden. Geheilt zu werden.“
 

Da saßen sie nun, vom Alter meilenweilt von einander entfernt und warfen mit phrasenhaften Weisheiten um sich.

Schuldig musste plötzlich lächeln. „Und manchmal ist man rettungslos verloren und steuert auf einen Punkt zu, bis jemand kommt, der einem den Kopf zurechtrückt. Ran kann das sehr gut“, lächelte er breiter, bis er husten musste und erschöpft zurücksank.
 

„Das glaube ich Ihnen aufs Wort“, stieg Misumi in das Lächeln ein und ihr Blick richtete sich in Richtung Küche, wo besagter Mann herumwerkelte und die stärkende Suppe kochte. Sie sah ihn nicht, dafür war das Haus zu groß, aber sie hörte ihn.

Misumi hatte schon beim ersten Husten dem Mann die Teeschale weggenommen und wartete nun geduldig, bis dieser sich wieder gefangen hatte.

„Was halten Sie davon…Sie bekommen diese sicherlich köstliche Suppe, aber zuvor lassen Sie mich nachsehen, ob die Kräutersalben auch ihre Wirkungen getan haben?“
 

Er wusste, dass er es ihr nicht abschlagen konnte. Dass er aber auch nicht quengeln durfte. Das wäre peinlich und unter seiner Würde gewesen. Bei Ran ging das noch. Verführen …konnte er sie auch nicht, bei Ran auch eine erfolgreiche Methode. Was blieb dann noch?

tot quatschen?

„Sagen Sie…ist diese Kräutersalbe von Ihnen? Dann sind Sie die Apothekerin?“
 

Misumi nickte gemächlich und wandte sich zur Seite, wo sie sich heute Morgen ihren schwer bepackten Rucksack hingestellt hatte.

„Die bin ich“, sagte sie wie zu sich selbst und kramte in den Untiefen des Stoffes nach etwas, beförderte es nach draußen. Sie legte es neben sich und ruckelte sich etwas zurecht. Ihre alten Knochen wollten auch nicht mehr ganz so wie sie, stellte sie von Zeit zu Zeit fest, doch noch bereiteten sie ihr keine größeren Probleme. Nur das Sitzen…das war von Zeit zu Zeit etwas schwierig.

„Haben Ihnen die Salben geholfen?“ Ihre Augen kehrten wieder zu den fremden, grünen zurück, die etwas im Schilde führten. Das sah sie. Ganz genau.
 

Hmm tot quatschen, funktionierte bei Ran schon nicht. Also warum hier bei der weiblichen, alten Ausgabe von Ran?

Seufzend griff er zu einem weiteren Taschentuch und schnäuzte sich geräuscharm.

„Sie müssten doch gesehen haben, ob sie geholfen haben“, meinte er unverschämterweise etwas stur, besann sich aber dann, nachdem er einen Blick in die alten Augen geworfen hatte.

„Es brennt nicht mehr so stark und nässen tut es auch nicht mehr, Kazukawa-san.“ Er verneigte sich angedeutet im Sitzen.

Schuldigs Blick ging zur Seite in Richtung offener Tür, woher ein Duft nach Hähnchen und Kräutern hereindrang.

„Ich will, dass es ihm gut geht. Sie müssen wissen, dass er mein Beschützer ist. Kein leichter Job, kann ich Ihnen sagen“, er lachte und grinste dann nur noch breit. Seine Lippen waren nur leicht trocken, aber scheinbar hatte sich jemand darum gekümmert und sie mit pflegender Creme versorgt. Wer das wohl gewesen sein mag?
 

Graue, alte Augen folgten dem Blick des jungen Mannes und sinnierten über dessen Worte nach. Natürlich hatte sie gewisse Vorstellungen, was die Worte dieses rothaarigen Ausländers anging, doch sie beschloss, sie nicht weiter zu hinterfragen…denn dazu war sie einfach zu alt, die Neugierde ihrer Tochter kannte sie nicht mehr.

„Auf Sie aufzupassen, ist wirklich nicht leicht. Vor allen Dingen Ihre Gesundheit ist schlimmer als ein Sack Flöhe.“ Ihr Blick kehrte zurück und maß den Brustkorb, der neben den Anzeichen von zu wenig Nahrung auch einen Eindruck eines durchtrainierten Mannes vermittelte.

„Ein paar der Verletzungen auf Ihrem Rücken haben sich entzündet und ich musste sie gestern erneut behandeln“, stellte sie schließlich in den Raum. „Doch die anderen sind gut verheilt, da haben Sie Recht.“
 

„Ich bin eigentlich nie krank, Kazukawa-san. Eine Grippe wie diese hatte ich schon seit ein paar Jahren nicht mehr. Und sonst kann ich auch gut auf mich aufpassen. Naja irgendwann geht einfach mal etwas schief und dann kommt eins zum anderen. Danke für Ihre Hilfe“, schloss er ehrlich und lächelte matt.

„In meiner Heimat…da hat mir jemand einmal gesagt: Wenn du glaubst es geht nicht mehr…kommt von irgendwoher ein Engel daher. So verkehrt ist das gar nicht.“ Das Sprichwort mündete in der richtigen Version auf Licht statt auf Engel, aber ihm hatte diese Version als Kind schon immer besser gefallen.
 

„Wie wahr, wie wahr…“, murmelte Misumi und ihre schon leicht knorrigen Finger hoben die kleine Dose, die sie in der Hand hielt, auf ihren Schoß. Engel…sie hatte einmal eine christliche Darstellung dieser Gottesboten im Fernsehen gesehen. Wesen mit Flügeln und leuchtenden Ringen über dem Kopf. Seltsam. „Ihr Engel war sehr besorgt um sie“, nickte sie in Richtung Küche. „Er hat mit Ihnen geschimpft deswegen.“ Sie lächelte in sich hinein, machte eine ausladende Geste.
 

Schuldigs Gedanken gingen zurück zu früheren Zeiten, für einen Moment verlor sein Blick all die Lebendigkeit, als er in Gedanken versank. Doch dann kehrte ein Lächeln in ihn zurück.

„Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Ich hasse es ihn alleine zu lassen.“ Im Prinzip hatte er das, als er hohes Fieber bekommen hatte.

„Ich lade nicht gern etwas auf ihn ab, gerade wenn ich selbst es bin.“
 

Alt wie die Welt selbst, so kam Misumi der Mann vor ihr vor. Aber nur für einen Moment, dann war er wieder ein normaler Mensch. Seltsam, sehr seltsam hier alles.

„Als wenn du das tun würdest, du Zackelschaf“, schallte es von der Tür her und Misumi erblickte die Person ihres Gespräches. Fujimiya-san hatte die Arme verschränkt und eine seiner Augenbrauen erhoben. Prüfend sah er auf seine Familie…seinen Partner hinab.
 

„Hee, keine Vertraulichkeiten in Anwesenheit von unserem Gast, Herr Fujimiya“, tadelte Schuldig obergescheit und obendrein noch rotzfrech – samt dazugehörigen, harmlosen Blick.

Eine gute Gelegenheit sich dieses unseligen Namens zu entledigen. Schließlich gab es einige Namen, die Ran auch nicht mochte. Und genau…das Wort Seidenräupchen lag gerade in seinen Augen, es schrie geradezu von seinen stummen Lippen.
 

Auch Ayas zweite Augenbraue hob sich anhand dieser deutlichen Anspielung. Sehr deutlich war sie…war das, was hinter den geschlossenen Lippen lauerte.

Sich der aufmerksamen, dunklen Augen bewusst, die sie beide beobachteten, wandte sich Aya mit einem höflichen Lächeln an die alte Frau.

„Meinen Sie, der Patient könnte schon etwas Suppe vertragen, Kazukawa-san?“, fragte er weg vom Seidenräupchen und die alte Frau strich sich nachdenklich über das Kinn.

„Er sieht sehr hungrig aus“, erwiderte sie schließlich und nickte.
 

„Aber ich werde unter Garantie nicht alleine essen“, beschloss Schuldig für sich einstimmig.

Wirklichen Hunger hatte er nicht, aber es konnte nicht schaden. Außerdem würde er den beiden Oberpflegern hier sicher einen gefallen tun wenn er etwas aß. Er wusste ja wie schlimm es war, wenn Kranke nichts aßen, weil sie…zu störrisch waren.
 

Das wusste auch Aya, deswegen beschloss er, diese Sturheit gar nicht aufkommen zu lassen, sondern Schuldig gleich sanft und liebevoll zu locken.

„Gut…dann alle! Kazukawa-san, möchten Sie auch etwas?“, fragte er und die alte Frau erhob sich langsam.

„Gegen einen kleinen Schluck ist sicherlich nichts einzuwenden…“, erwiderte sie und besah sich prüfend den Nicht-Alleineesser. „Wie sieht es mit Ihnen aus…fühlen Sie sich schon in der Lage, ein wenig aufzustehen und im Esszimmer zu essen oder wollen Sie die Suppe lieber hier einnehmen?“
 

Aya tendierte für das Bett, aus dem er Schuldig erst lassen wollte, wenn dieser wieder gesund war, sagte jedoch nichts.

„Nein, nein, ich komme mit, ich werde mich nur schnell etwas frisch machen.“ Sprach der Held näselnder Weise und verdrängte den Gedanken daran, wie er es anstellen wollte, so schlapp wie er sich fühlte. Wenn die Zwei in der Küche waren konnte er das alles schön alleine regeln, hübsch langsam, hübsch peinlich und niemand würde es sehen.

„Geht ihr zwei nur und ich komme gleich nach, ja?“
 

„Die Jugend…die Jugend…“, murmelte Misumi und legte eine Hand auf ihren Rücken. Sie ging den Kopf schüttelnd und vor sich hinlachend aus dem Schlafzimmer heraus, überließ sie es doch lieber Fujimiya-san, dem Helden ein wenig unter die Arme zu greifen.

Aya währenddessen kam zu Schuldig und streckte dem anderen Mann die Hand entgegen. „Ich muss sowieso am Bad vorbei…da kann ich dich auch mitnehmen.“
 

Schuldig nahm Rans Hand, machte aber keine Anstalten aufzustehen oder sich hochzuziehen.

„War’s arg schlimm? War…ich schlimm?“, wollte er ernst wissen, mit einem Hauch von Naivität.

Diese Frage beinhaltete viel.

Viel von dem was er befürchtete. Hatte er viel gesprochen? Wenn ja, was? Wie lange hatte das Fieber gedauert. Ein paar Stunden?
 

Aya lehnte sich zu Schuldig, hauchte ihm einen Kuss auf die Schläfe und strich mit seinen Fingern über die fragenden Lippen. Er schüttelte leicht den Kopf.

„Wie kommst du nur auf solche Sachen? Als wenn dich gesund pflegen jemals schlimm wäre…und ob du schlimm warst, weiß ich nicht, denn du hast kein Japanisch gesprochen. Aber ich denke, ich habe mich ganz tapfer geschlagen - wie du auch.“
 

Schuldig griff nach oben mit beiden Händen und hielt Rans Gesicht fest, die Augen in dieses so sanfte, ruhige Violett hakend. „Aber ich…war nicht gemein zu dir …oder Ähnliches? Sag’s mir, wenn’s so war.“

Er würde sehen, wenn Ran etwas verbarg. Er wusste nichts mehr von dem Fieber. Gar nichts mehr. Als hätte er es vergessen und wenns so war… vielleicht hatte er es vergessen, weil etwas anderes geschehen war.
 

Der Blick der violetten Augen wurde weich unter der verzweifelten Intensität des Telepathen. Aya fühlte ein warmes Gefühl in seiner Brust ob dieser Fragen, fühlte sich seltsam gerührt.

„Nein, das warst du nicht“, murmelte er liebevoll. „Im Gegenteil…du warst außergewöhnlich friedfertig!“
 

Da fiel Schuldig ein großer Brocken Zement vom Herzen, denn er hatte wirklich die Befürchtung gehabt, die Erinnerungslücke mochte daher rühren, dass er wieder irgendetwas…verbrochen hatte.

Er ließ Ran los und behielt dessen Hand in seiner um seine Wange an Rans Handrücken zu schmiegen.

„Wie viel Zeit ist denn vergangen? Hat das Fieber die ganze Nacht gedauert?“
 

„Und den Tag davor…es wollte einfach nicht sinken. Und dann stand Kazukawa-san vor der Tür.“ Aya strich Schuldig über dessen noch klamme Wange. „Sie hat dir geholfen, als ich nicht mehr weiter wusste…dabei wollte sie nur nach den Kindern sehen.“
 

„Oh“, hauchte Schuldig betroffen.

Tja, mehr brauchte er wohl nicht zu sagen. Die Alte kam den ganzen Weg hier herauf, bei diesem Wetter …und musste feststellen, dass sie sie verarscht hatten.

„Oh man. Wir haben doch wirklich das große Los gezogen. Wenn’s kommt, dann Dicke oder?“, grinste er schief und küsste Rans Handinnenfläche, bevor er Anstalten machte die Decke zur Seite zu schieben und seine Beine auf den Boden zu stellen.
 

„Sie scheint nicht böse zu sein…“, sagte Aya nachdenklich.

„Es tut mir leid, dass ich sie angelogen habe.“ Doch was hätte er auch anderes tun sollen? Die Wahrheit sagen in ihrer Lage?

Aya trat ein Stück nach hinten und entledigte Schuldig gänzlich der Decke, half ihm, sich aufzurichten. Das Stehen würde interessant werden…
 

Er meisterte es besser als gedacht…nun, das glaubte Schuldig zumindest. Er stand, allerdings tanzten schwarze und gelbe Flecken vor seinen Augen herum, noch dazu hatte er nicht viel an. Gar nichts um genau zu sein. „Ähm?“, sah er Ran an als die Flecken verschwunden waren.

„Ein wenig Stoff wäre sicher schicklicher…“ murmelte er verdrossen, mit einer Spur Sarkasmus.

Na wenigstens der war wieder da. Also konnte es gar nicht mehr schlimmer werden, behauptete er und nieste gleich zur Bekräftigung.
 

Da hatte Aya fast die Anwesenheit der alten Dame vergessen.

„Ich glaube, bei ihrer Lebenserfahrung ist es für sie nichts besonderes, einen nackten Männerhintern zu sehen“, sagte er trotzdem mit Schalk in seinen Augen. Natürlich griff er gleichzeitig zu einem der Laken und brachte es in einem Akt von künstlerischem Geschick zu ihnen nach oben, da er gleichzeitig Schuldig festhalten musste, der gefährlich schwankte.

„Allerdings ist er momentan etwas blass, das stimmt.“
 

Als wenn der jemals sonnengebräunt gewesen wäre…, meckerte Schuldig in Gedanken. „Weil ja sonst so viel Sonne da ran kommt…“, witzelte er trocken und hustete verhalten. Ohje, sein Schädel fing schon wieder an zu dröhnen, bemerkte er wie nebenbei als Ran ihm das Tuch umwickelte und er sich an dessen Schulter einhielt.
 

„Dann wird es umso mehr Zeit!“

Aya setzte sich langsam in Bewegung, half Schuldig bei jedem, mühsamen Schritt ins Badezimmer. Das alles erinnerte ihn an damals…an Crawford und ihn, wie er damals seinen Kopf hatte durchsetzen wollen. Duschen…war sein Primärwunsch gewesen und wo war er schließlich gelandet? In der Badewanne…unter den wachsamen Augen des Amerikaners.

Dass er nun eine ähnliche Rolle bei Schuldig einnahm…lag in der Natur der Dinge. Oder an der Ironie des Ganzen.

„Wie fühlst du dich, Schuldig?“
 

„Besser.“ Nein, furchtbar.

Er bewältigte den Weg in schleppender kaugummimäßiger Langsamkeit, aber es ging! Das war die Hauptsache. Und er würde den Teufel tun und es nicht bis ins Badezimmer schaffen, samt hinterher schleifendem Zipfel Bettdecke, seinem rasselnden Atem und seiner verstopften Nase. Den dröhnenden Schädel und seinem Helferling an der Seite nicht zu vergessen.
 

„Hört man…ein Neider, wer dich nicht für das blühende Leben per se hält“, erwiderte Aya und konnte die liebevolle Ironie nicht ganz aus seinen Worten fernhalten.

Es hatte vermutlich gar nicht mal so lange gedauert, bis sie im Bad angekommen waren, doch Aya schien der Weg wie eine Ewigkeit…und er konnte hören, dass es Schuldig einfach zu sehr angestrengt hatte. Vorsichtig ließ er den anderen Mann auf der Holzbank nieder.
 

„Witzig“, meckerte Schuldig zurück. „Gib zu du hast heimlich geübt…vermutlich als ich im Fieber lag. Da hast du an mir deine Witze geübt.“

Klaar, sicher war das so. Vermutlich eher, dass Ran verrückt vor Sorge gewesen war…
 

„Richtig. Sonst habe ich ja keine Gelegenheit dazu“, behauptete Aya dreist und hob eine Augenbraue, als er sich die Lage anschaute. „Du weißt, dass Duschen momentan unmöglich ist und Baden auch, oder?“ Er fragte nur Sicherheit nach…nicht, dass es hier noch zum Drama kam. Auch das hier erinnerte ihn stark an sich selbst.
 

Das brachte Schuldig zum Lachen und er blickte auf.

„Ja, mein Kirschchen, ich bin ja nicht so stur wie manch einer…und unrealistisch… nein…ich denke es reicht, wenn ich mir das Gesicht wasche und mich etwas frisch mache. Zähne putzen wäre auch nicht schlecht, ich hab das Gefühl ich hab nen dicken Pelz auf den Zähnen.“ Eine Rasur war ebenfalls fällig, wie er über seine Stoppeln kratzend feststellte.
 

„Das klingt doch gut…“

Aya wandte sich um und bereitete Schuldig seine Zahnbürste vor, übergab sie ihm schließlich fertig zum Zähneputzen.

„So, Kullerpfirsich…dann wollen wir mal. Während du deine Beißerchen polierst, kümmere ich mich um den Waschlappen und den Rasierer.“
 

Schuldig murmelte nur etwas Unverschämtes zu dem Kosewort, schnappte sich die Zahnbürste und ging der monotonen Beschäftigung des Zähneputzens nach, während Ran sich um alles weitere kümmerte.

Nach einer viertel Stunde waren sie in etwa soweit. „Es reicht…denk ich“, sagte er und legte das Handtuch beiseite, nieste erneut…gleich dreimal hintereinander.

„Falls du irgendwo so eine komische weiße Zellansammlung siehst, nicht drauftreten, das ist mein …Hirn…“, meinte er mitleidig, als er gleich noch mal niesen musste.
 

„Ich werde es pflichtbewusst aufsammeln und konservieren“, stimmte Aya dem zu und reichte Schuldig Papier zum Schnäuzen, welches er schließlich in der Toilette entsorgte.

„Meinst du, du schaffst es bis ins Esszimmer oder willst du dich wieder hinlegen?“
 

„Nein! Das wird durchgestanden, ich krieg das schon geregelt. Wir essen alle gemeinsam die Suppe und dann erst lege ich mich wieder hin.“ So …weit kam es noch, dass der Hausherr – wohlgemerkt… nicht am gemeinsamen Essen teilnahm. Grinsend über diesen Gedanken setzte er an sich zu erheben, damit Ran ihm beim Anziehen helfen konnte. Klassische Rollenverteilung, würde er da mal sagen.
 

Aya fing Schuldig wieder ein, als er sich erhob und hüllte ihn in den bereitgelegten Yukata. Gemeinsam verließen sie in gemächlich, gemütlichem Tempo das Bad und kamen ins Esszimmer, wo Aya Schuldig gegenüber von Kazukawa-san platzierte. Er selbst würde sich vor Kopf niederlassen. Doch erst einmal holte er die Suppe samt Schälchen und gab ihnen allen auf.

„Ich hoffe, es schmeckt“, sagte er und Kazukawa-san schnupperte prüfend, nickte schließlich.

„Da bin ich mir fast sicher“, war ihre Antwort, bevor sie ihrer Rolle als Älteste in der Runde nachkam und zu essen begann.
 

Schuldig schmeckte nicht wirklich etwas, so zu war seine Nase und die Erinnerung an scheinbar mal vorhandene Geschmacksknospen konnte es auch nicht besser machen.

Aber er aß brav auf und die Wärme der Suppe tat sowohl seinem Hals als auch seinem Magen gut wie er feststellte.

Sie aßen schweigend und es war ungewohnt für ihn in dieser Umgebung mit dieser alten Frau hier zu sitzen. Fast wie in der Zeit zurückgereist.

Aber dann würde er wohl hier nicht so unbescholten sitzen. Ausländer waren hier nicht immer so gefragt…naja sie waren heute auch noch nicht so gefragt, korrigierte er sich.
 

o~
 

Kaltes Wasser traf auf seine müden Augen. Wenngleich Aya erschöpft war und einfach nur noch schlafen wollte, war er unruhig, seitdem Kazukawa-san das Haus verlassen und er sie in das Dorf gebracht hatte.

Natürlich nicht, ohne vorher Schuldigs Rücken noch einmal zu verarzten, was der Telepath mit…schmollender Würde über sich hatte ergehen lassen. Zumindest schien es Aya so, wenngleich Schuldig vermutlich nach außen hin einen völlig ausdruckslosen Blick gezeigt hatte.

Er gähnte und trocknete sich das Gesicht ab, kam zu Schuldig ins Schlafzimmer, der schon eingerollt unter den Decken lag.

„Sag bloß, du schläfst schon?“, fragte er und schmiegte sich unverschämt eng an den Telepathen.
 

„Ja…tief und fest. Das was du hier hörst, ist nur der Wind…mein Kind“, alberte Schuldig mit näselnder, verstellt mystisch angehauchter Stimme.
 

„Der Wind also…ich hatte mich schon gefragt, was dieses rasselnde und pfeifende Geräusch ist. Muss wohl irgendwo eine Ritze im Gebälk sein.“
 

„Du wirst auch krank, Ran, wenn du so nah an mich ran kommst“, wandte Schuldig sich um, die Decke halb zurückschlagend. Er betrachtete sich Ran und musste lächeln. Er liebte ihn so sehr, dass es schmerzte. Verliebter Trottel eben, resümierte er seinen Zustand ins rechte Licht gerückt.
 

„Du weißt doch, ich werde nie krank“, war Ayas…beschönigende Antwort und er zog die Decke über sie beide, steckte sie fest. „Zumal ich doch mein Recht einfordern muss, neben dir zu liegen und dich zu umarmen, wenn ich das schon die letzten beiden Nächte nicht konnte.“

Er stützte sich halb auf und betrachtete den schon auf dem Weg der Besserung wandelnden Telepathen.
 

„Besser nicht, ich rotz dich sonst noch voll, mein Kirschchen“, lächelte Schuldig samt verstopfter Nase und kratzendem Hals zu Ran auf.

Er hob die Hand und fuhr Ran mit zwei Fingern die losen kürzeren Strähnen aus dem Gesicht, bevor er ihm sanft über den Hals strich. „Wir haben einiges nach zu holen, aber irgendwie gelingt es uns nicht so wirklich.“ Für einen langen Moment hielt er den Blick in die ihn so sanft ansehenden Augen, als er sagte: „Geht’s dir gut? Sag…ehrlich.“

Eigentlich war es ihm nur so herausgerutscht. Er ahnte ja schon beinahe, was für eine Antwort er bekommen würde. Und das machte ihn nur umso trauriger. Ran, der Held.

Ja, klar.
 

Aya rümpfte gerade noch über Schuldigs leicht unblumige Aussprache die Nase, als sich die Worte des anderen Mannes in seine Gedanken schlichen. Ob es ihm gut ging? Die Antwort schien eindeutig: ja, warum auch nicht? Schuldig war hier, er war am Leben, sie waren in einem Haus voller Ruhe, als das, was er sich immer gewünscht hatte, waren glücklich…natürlich gab es kleine Abstriche, doch da war noch etwas anderes. Etwas, das er nicht greifen konnte, weil es zu tief verwurzelt war. Aya vermutete, dass es an den zwei Wochen lag, in denen Schuldig als tot gegolten hatte…einen anderen Grund konnte er sich nicht vorstellen.

„Ich bin etwas erschöpft.“ Er lächelte. „Aber sonst ist alles in Ordnung. Gibt es einen bestimmten Anlass zu deiner Sorge?“
 

Erschöpft, ja das traf es genau. Aber es war keine momentane Erschöpfung, denn sie saß tiefer und fester, als Ran es vielleicht wahrhaben wollte.

„Nicht wirklich.“

Schuldig hustete halb in seine Decke hinein, drehte sich leicht von Ran weg deshalb. Nachdem der Hustenanfall vorbei war sah er wieder zu ihm auf.

„Du hast die letzten Monate so viel mitgemacht, meinst du nicht, dass du nicht nur „etwas“ erschöpft bist? Es ging drunter und drüber. Von einem Hoch ins nächste Tief.“

Gut, aber was sollte Ran mit dieser Erkenntnis anfangen? Sich schonen?

Er wollte einen Job, jetzt hatte er ihn und er hatte diesen Schritt getan – zugegeben mit Brads Hilfe – in einer wohl schlimmen Zeit. Vielleicht fand er auf diese Art in ein Stück Normalität hinein. Nur musste er sich hierbei wieder anstrengen, wieder kämpfen.
 

„Das ist wohl wahr…“ Aya zuckte mit den Schultern. „Was soll ich machen? Winterschlaf halten?“ Er lächelte müde.

„Das Leben geht eben weiter, Schuldig, das ist es immer und wird es immer. Ich muss mich diesem Tempo eben anpassen.“ Sonst würde er sich selbst verlieren, das wusste Aya. Er konnte nicht stehen bleiben und halt machen, nicht in die Vergangenheit schauen oder überlegen, was passiert war. Er musste in die Zukunft sehen, weg von dieser immensen Schwärze, die hinter ihm lauerte.
 

Wie immer die gleiche Antwort, merkte Schuldig für sich selbst an. Als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen, keifte etwas in ihm und Schuldig begehrte innerlich auf.

Er wollte Ran schütteln, ihm sagen, dass er nicht alles ertragen konnte und musste, dass er das nicht länger musste. Dass es eine Zeit geben musste, die ruhig und geordnet für den Japaner sein sollte.

Nicht so chaotisch… wie mit ihm.

Schuldig sagte nichts, sondern robbte näher an Ran und schmiegte sein Gesicht an dessen Brust. „Ja…wenn du es kannst“, murmelte er.
 

„Sicherlich. Ich starker Mann, ugah!“, kam die zuversichtliche Antwort und Aya zog Schuldig an sich. Was sollte er auch anderes? Verzweifeln? Das konnte er nicht, hatte sich das schon nach dem Tod seiner Eltern abgewöhnen müssen. Der Zeit davon fliehen, hatte Knight ihm einmal gesagt. Der Zeit und damit den Schuldgefühlen und danach richtete er sich.
 

„Blödmann“, murmelte Schuldig nicht wirklich überzeugt von Rans Foppen.

Er schloss die Augen und wollte nichts mehr hören und sehen. Momentan schien es ihm zuviel zu sein, obwohl er dieses Thema aufgebracht hatte.

„Lass uns schlafen, Blumenkind.“
 

„Gute Idee!“
 

Ja, Schlaf wäre das Beste für sie beide…wirklich das Beste. Und für Schuldig schien dieser Schlaf wirklich nötig zu sein, so schnell, wie er schließlich in seinen Armen in ein leises Schnorcheln glitt und Aya in der Dunkelheit alleine zurückließ.

Es war nicht das erste Mal, dass er nicht schlafen konnte und noch wach lag, doch nun gingen ihm die Gedanken ihres Gespräches durch den Kopf. Er war erschöpft…sollte sich ausruhen. Das konnte er nicht, also hatten sie eine Pattsituation.

Aya schloss seine Augen. Es würde sich wieder einrenken, ganz sicherlich.
 

Dennoch brauchte es seine gute Zeit, bis er schließlich eingeschlafen war und sich nun ins Reich der Träume gesellt hatte…der dunklen, schwarzen Träume, die ihn oft, aber nicht regelmäßig befielen.
 

o~
 

Hass wellte hoch, gepaart mit Verzweiflung und der unbändigen Wut, die er im Anblick dieses Mannes verspürte. Rote Haare, heller als die Seinen und grüne, teuflische Augen, die ihr ätzendes Lächeln lächelten.

Schmale Lippen verzogen sich und grüßten ihn.

„Abyssinian…wie SCHÖN.“

Aya zischte und seine Hand umgriff das Schwert fester.

„Lass sie in Ruhe!“, grollte er als sein Blick auf das scheinbar seelenlose Mädchen fiel, das sich ihm nun näherte, eindeutig unter Schuldigs Einfluss.

„Sakura! Wach auf!“ Auch wenn er keine besonderen Gefühle für sie hegte - außer, dass sie wie die ältere Ausgabe seiner Schwester aussah - konnte er es nicht zulassen, wie sie von Schuldig benutzt wurde…aber sie hatte…

…eine Waffe…

…und…

Das Bild verzerrte sich von jetzt auf gleich und er hörte den Donner des abgefeuerten Schusses, er sah ihre Augen, er hörte Schuldigs Lachen. Er spürte sich selbst zurücktaumeln, zu Boden gehen vor Schmerz. Die Kugel hatte ihn voll getroffen, sah er, als er die Hand auf seine Brust legte. Mitten ins Herz. Er keuchte verzweifelt auf und die grünen Augen genossen jede Sekunde seines Endes, jeden Funken des Lebens, der mit dem Blut aus ihm heraus floss.

Sie waren…

…das letzte, was er sah…

als er…
 

Aya schoss hoch, röchelte verzweifelt nach Luft, nach Leben, nach irgendetwas. Sein Brustkorb schmerzte, war angefüllt von Phantomschmerz. Er wollte noch nicht sterben…vor allen Dingen nicht so! Die Augen weit aufgerissen starrte er in die Dunkelheit und wusste im ersten Moment nicht, wo er war…wie er hier hinkam und was er hier machte. Nichts wusste er.

Wild sah er sich um und blieb mit Entsetzen bei einer Gestalt neben sich hängen. Rote Haare…lange rote Haare. Abrupt wie auch gefangen in Erinnerungen taumelte er zurück, aus dem Bett, auf den Boden und von dort aus nach hinten. Was in aller Welt? Wieso war das Schuldig? SCHULDIG! Schuldig, der auf ihn geschossen hatte!
 

Schuldig ruhte noch immer in gleicher Position, die Hände vor sich liegen, in der kleinen Kuhle zwischen Ran und sich selbst, allerdings war er durch etwas wach geworden. Durch… etwas Lautes. Seine Hand fand ihren Weg zu seinen Augen, die sich den Schlaf aus ihnen rieben.

„Ran…?“ wisperte er rau in der Kehle, noch schlaftrunken.
 

Ran…

Abyssinian…

Nein, Ran. Hier, das hier war…

Die Gegenwart.

Vergangenheit, der Schuss war die Vergangenheit. Nichts weiter. Vergangenheit.

Gegenwart. Schuldig. Hier. Mit ihm.

Ayas Augen weiteten sich im schwachen Lichtkegel der kleinen Lampe, als er zu sich kam und wusste, dass das eben nur ein Traum gewesen war.

Nein, Vergangenheit in einer abgeänderten Version.

Noch zu deutlich hatte er seinen Traum vor Augen. Aya schluckte mühevoll und wollte, dass er sich beruhigte, doch das leichte Zittern, was ihn ergriffen hatte, ließ nicht nach. Auch jetzt nicht, wo er sich bewusst wurde, wer es war. Dass der Mann, der so schlaftrunken nach ihm fragte auch derjenige war, der Sakura manipuliert hatte, ihn anzuschießen.

Das Zittern wurde stärker…die Übelkeit ebenso.
 

Träumte er?

Was er da sah, war das ein böser Traum, der Ran ihn so hasserfüllt und doch voller Abscheu und versteckter Furcht anblickte?

„Was ist…?“, fragte er vorsichtig nach und richtete sich auf. „Ran…du hast geträumt?“ Und das war kein guter Traum gewesen, wie es den Anschein hatte. Oder war es etwas anderes?

Plötzlich war Schuldig hellwach, setzte sich auf.
 

Erst als sein Körper noch in den Fängen des Traums zurückzuckte, kam Aya völlig zu sich und atmete tief durch. Er schloss seine Augen und fuhr sich müde über die Lider.

„Ja…nur ein Traum. Es ist nichts“, versuchte er zu beruhigen, doch dafür war seine Stimme zu…ja, undefinierbar. Er konnte nicht ausmachen, was alles mitschwang. „Ist schon okay…leg dich wieder hin, ich gehe eben ins Bad“, sagte er und erhob sich. Eben…eben um die Übelkeit loszuwerden, die ihm mittlerweile bis zum Hals stand und sich ihren Weg nach draußen bahnen wollte.
 

Ran ging und Schuldig saß völlig überfahren da. Zunächst einmal konnte er sich gut vorstellen, wer der Hauptakteur in dem kleinen Horrorstreifen war, den Ran just erfahren hatte. Und er war nicht stolz auf die Rolle.

Er streckte sich und wandte sich auf die andere Seite, trank etwas Wasser und schnäuzte sich. Herrlich. Wirklich herrlich. Warum musste er ausgerechnet jetzt krank sein?

Schuldig zog seinen Yukata in eine geordnete Position, erhob sich und schlüpfte in seine Hausschuhe bevor er Ran folgte. Den leichten Morgenmantel in Nähe der Tür zog er ebenfalls über, bevor er in Richtung Bad ging.
 

…wo Aya gerade die Toilettenspülung betätigte und sein Abendessen der Kanalisation übergab.

Er hatte es noch geschafft und all seinen Ekel, all seine Angst in einer körperlichen Reaktion aus sich herausgelassen, aus sich herausgewürgt.

Er erhob sich und drehte mit zitternden Fingern den Wasserhahn auf, wusch sich das Gesicht und die Hände, während seine Gedanken weit weit weg waren von hier.

Wie konnte er?

Das war die Frage, die in ihm brodelte. Wie konnte er jemanden lieben, der früher nichts als Gewalt übrig hatte, der schier sadistischen Spaß daran hatte, Weiß und die Menschen, die Weiß in einer Art und Weise nahe standen zu quälen?

Er hatte die Vergangenheit zurücklassen wollen, doch sie hatte ihn eingeholt. Gerade eben, mit diesem Traum, der ihm so einiges verdeutlichte.

War er gerade ein leichtes Zittern gewesen, so spürte Aya nun, wie seine Zähne aufeinander schlugen. Er presste sie aufeinander. Nein…aufhören, befahl er sich selbst, doch so recht hören wollte sein Körper nicht.
 

Schuldig hörte wie die Spülung lief, aber Ran danach nicht herauskam, wartete und klopfte schlussendlich an die Tür. Er wollte wissen, was mit Ran war, aber er wollte ihm auch Zeit geben.

Vielleicht, weil er selbst Angst vor dessen Reaktion hatte. Und weil er Rans Gesicht nicht mehr so hasserfüllt sehen wollte. Nie mehr.

Und wenn…du musst da durch, sagte er sich grimmig.

„Ran? Lässt du mich rein?“
 

Seine violetten Augen im Spiegel sagten nein. Sie waren schon lange nicht mehr so mit Hass angereichert wie noch vor ein paar Minuten, nein, jetzt wohl eher mit stummem Entsetzen. Er schloss sie und schulte sich auf Ausdruckslosigkeit.

Dann erst fand er die Kraft zum Sprechen.

„Komm rein, es ist offen.“
 

Schuldig öffnete die Tür, den Morgenmantel offen gelassen, schleifte der Gürtel lose in den Schlaufen herab. Mit einer Hand kämmte er sich die wüsten Haare aus dem Gesicht hinter die Ohren, als er ins Bad eintrat. Er wollte gerade ansetzen etwas zu sagen, als er mitten drin stockte. Ran hatte sich vor ihm verschlossen, doch dessen Leib zitterte unmerklich.

„War dir übel?“

Seine Frage war absichtlich betont harmlos gestellt, auch die Tür war nicht geschlossen. Ran erschien ihm wie ein Tier… bereit zur Flucht.

Wie in ihren Anfängen, als Ran unfreiwillig bei ihm war.
 

Es war doch offensichtlich…

„Ja.“

Aya atmete tief ein und öffnete die Augen, konnte sich aber immer noch nicht umdrehen oder Schuldig gar in dessen grüne Iriden sehen, aus Furcht, er würde mit seinem Traum konfrontiert werden.

„Ich habe schlecht geträumt.“
 

‚Ja, das war klar. Aber so schlecht gleich, dass du dich übergeben musst? Ran, verdammt sprich mit mir.’

Doch das kam nicht über Schuldigs Lippen. Nichts davon.

Stattdessen zog er seinen Morgenmantel herunter und kam zu Ran, hängte ihn sanft über dessen Schultern. „Du zitterst, als hättest du ein Monster gesehen.“ Seine Finger fuhren den Rand des Mantels nach als er ihn Ran umhängte und sich abwandte.

„Ich…bin kurz draußen, frische Luft schnappen.“
 

Erst als er aus dem Bad kam, bemerkte Schuldig erst, wie aufgeladen die Spannung zwischen ihnen war. Er hatte die Luft angehalten, die er nun entließ und in die Küche ging. Er holte sich seine Zigaretten und ging hinaus auf die Terrasse des Gartens. Setzte sich unter das Dach auf die hölzerne Bank und zog die Kleidung um sich. Er brauchte jetzt diese beißende Kälte und den Rauch der Zigarette, die er sich anzündete.

Ran brauchte Zeit, das zeigte allein schon der ihm zugedrehte Rücken. Das hieß: fass mich nicht an, sag ja nichts Falsches, lass mich… lass mich einfach…
 

Aya nickte, als er die Worte verspätet wahrnahm…sehr viel später, als Schuldig sie ausgesprochen hatte, obwohl dieser schon längst das Bad verlassen hatte.

Nur langsam löste er sich vom Waschbecken und kam gerade einmal bis zur hölzernen Bank, auf der er nieder sackte und sich den Morgenmantel enger um die Schultern zog.

Das Zittern wurde dadurch nicht besser, ganz im Gegenteil. Er wusste doch, dass er Schuldig liebte, aber er wusste auch, dass er ihn eigentlich nicht lieben durfte.

Schuldig war so viele Jahre lang das Böse in seinem Leben gewesen und der Traum, die Erinnerung an Sakura, war nur ein kleiner Ausschnitt davon. Takatori…von Schwarz beschützt, Ouka, von Farfarello getötet, Weiß als Spielball für die gegnerische Gruppierung. Dem gegenüber stand das Menschsein. Schuldig war ein Mensch, er litt, war traurig…verzweifelt, wie jeder andere auch.

Der Unmensch von damals ein Mensch mit Gefühlen gewesen.

Ein Zwiespalt.

Aber das Schlimmste war das Gefühl des sich verkauft habens…für die Liebe, das Glück hatte er sich verkauft, sich und seine Ideale. An den Mann, der ihn liebte. Den er liebte.
 

Es stürmte nicht mehr, nur noch ein leiser Wind zog durch den verwilderten Garten und Schuldig zog ein Bein auf die Bank. Verdammt war das kalt, grimmte er in Gedanken als ihm eine Bö unter den Yukata fuhr.

Ein weiterer tiefer Zug tröstete ihn über die Situation hinweg. Es würde bald Frühling werden, vielleicht würde es dann besser…wenn dieser elendslange furchtbare Winter endlich rum wäre.
 

Sein Team…ja, sein Team hatte er auch verraten, Omi vor allen Dingen. Oder? Er war sich so uneins mit sich selbst, so zerrissen vom inneren Widerstreit seiner Emotionen, die sich in dem Zittern entluden, das ihn heimgesucht hatte.

Aya stützte seinen Kopf auf die Hände und starrte blicklos zu Boden. Was tun, fragte er sich, die Welt, seine Schwester, alle, die im Gegensatz zu ihm eine Antwort parat hatten.
 

Schon seltsam wie schwer einem das Atmen fiel, wenn man eine Erkältung hatte und wie leicht es plötzlich ging wenn man unbedingt eine Zigarette rauchen wollte.

Schuldig verzog den Mund zu einem nachdenklichen Lächeln und seufzte, bevor er erneut daran zog.

Vielleicht sollte er reingehen und Ran zur Vernunft bringen, wenn er wieder in diesen Zweifeln versank? Wieder das Gleiche, wie damals, als er in Shanghai war, als er mit Yohji allein im Haus war.

War es wirklich gut ihn jetzt alleine zu lassen, oder hätte er doch bei ihm bleiben sollen?

Man…so leicht war das nicht, sich zu beherrschen und hier sitzen zu bleiben. Er hätte ihn am liebsten an sich gerissen und geschüttelt.
 

Es gab eine kleine Stimme, die schlug Aya vor, sich mit Schuldig auseinander zu setzen und dem anderen Mann von seinem Traum zu erzählen. Von der Vergangenheit…doch wozu? Sie beide kannten die vergangenen Monate und Jahre und hatte er nicht vor dem Schlafengehen noch groß getönt, dass er nicht erschöpft war und dass er nach vorne sehen konnte?

Hatte er es die ganze Zeit nicht gekonnt und war es nun ausgebrochen? War das das unruhige Gefühl, diese unterschwellige Angst und das Unwohlsein gewesen? Dieser ständige Drang nach Beschäftigung, nach Entspannung aber auch und nach Nähe zu dem anderen Mann, so als müsse er sich beweisen, dass er ihn trotz allem liebte?

Aya atmete tief ein und es war ein unsicheres Einatmen. Er konnte jetzt nicht schweigen, er musste mit ihm reden, das wusste er.
 

Doch was dabei herauskommen sollte…außer Erinnerungen, die er lieber tief in sich vergrub, das wusste Aya nicht, nur sein Körper konnte anscheinend schon sagen, was zu tun war, als er sich schlaff erhob und sich auf die Suche nach dem Telepathen machte.

Er fand ihn auf der Terrasse und schweigend lehnte er sich an den Türrahmen. Jetzt, wo er da war, fehlten ihm die Worte.
 

Schuldig musste seinen Kopf nicht aus dem Nacken heben, musste nicht aufsehen und seinen Kopf drehen um zu sehen, dass Ran zu ihm gekommen war.

Er nahm einen Zug aus der Zigarette und entließ ihn langsam.

„Früher…im Waisenhaus…da hatte ich einen Freund, er hieß Marc. Er war zwei Jahre älter als ich und wir machten alles zusammen. So richtig tolle Kumpels. Durch dick und dünn, du weißt schon.
 

Bis ich angefangen habe seine Gedanken zu lesen. Er war der erste, bei dem ich es wirklich tat, ohne dass ich mich schämte, ohne dass ich es als etwas Schlimmes angesehen habe. Und ab da … konnte ich ihm nicht mehr in die Augen sehen. Ich konnte es einfach nicht mehr. Ich hätte schreien mögen, wenn er mir etwas tolles erzählt hatte, was gar nicht stimmte, oder verdreht war, nur weil er sich toller darstellen wollte, sich über mich stellen wollte. Das war so dumm. Ich mochte ihn doch auch so. Er war doch mein einziger Freund.

Ich stellte fest, dass jeder so war. Mal mehr, mal weniger.

Es machte mich schier verrückt. Diese Lügen, diese Intrigen, diese Aufwertung.

Ich glaube, damals war ich acht, wenn ich mich richtig erinnere.“

Er hatte Lust, das zu erzählen. Wem sollte er es sonst erzählen, wenn nicht ihm?

Er war zu nervös um etwas zu fragen, Angst vor der Antwort, vor den Zweifeln in Ran, hatte er zu Genüge.
 

Aya stellte fest, dass er diese Worte gar nicht hören wollte, dass er sich lieber die Hände auf die Ohren pressen wollte, als noch einmal bestätigt zu bekommen, WIE menschlich Schuldig war… doch liebte er nicht genau das an dem Telepathen, hatte ihn nicht genau das damals überzeugt?

Damals…wie das klang. Es waren doch nur ein paar Monate her, seit sie sich das erste Mal näher gekommen waren. Seit sie den Feind im Privaten kennen gelernt hatten.

War es das, was Schuldig meinte?

„Ich habe von Sakura geträumt…und dir. Dir als Mastermind.“ Nicht als achtjährigen, unschuldigen Jungen, der enttäuscht und verletzt über seine Freunde war, die Menschen, mit denen er sich umgab. Aya wusste nicht, was mehr schmerzte…Schuldigs Schmerz oder seine Erinnerungen an die Vergangenheit.
 

Oh. Die Kleine.

Er konnte sich an sie erinnern. Ran… hatte wohl damals was für sie übrig. Und er hatte sie ihm …und er hatte sie und Rans Schwester ihm weggenommen. Ja beide, ihm weggenommen um Weiß zu schwächen.

Zu seiner Verteidigung könnte er anbringen, dass es Brads Plan gewesen war. Was keinen Unterschied machte, denn die Ausführung oblag ihm und die hatte er immer möglichst kreativ und unterhaltsam für sich gestaltet.

Was sollte er sagen…? Scheißtraum. Übel.

Nein. Ja.

Es war eine andere Zeit?

Krieg?

Im Krieg zeigten sich die Menschen immer von ihrer schlimmsten Seite?
 

Er zerdrückte die Zigarette vorsichtig auf der Bank und legte den Stummel daneben. Er würde ihn später mit hineinnehmen.

„Wir wollten uns verletzen, Ran. Schon vergessen?“, fragte er sanft und drehte den Kopf noch immer in den Nacken gelegt und am Holz angelehnt zur Seite damit er ihn ansehen konnte.

„Wir wollten das, weil wir einen Grund hatten. Du hattest einen Befehl und wir hatten einen Befehl.“
 

Einen Befehl…

Er hatte den Befehl gehabt, Verbrecher zu morden, selbst zu einem zu werden, eben weil er mordete. Schuldig hatte den Befehl, mit ihnen zu spielen. Mit allen zu spielen.

Es machte es nicht einfacher…gar nichts vereinfachte das. Im Gegenteil…es ließ Sakuras Blick in seinem Inneren wieder aufkommen, ihre leeren Augen und die Waffe, die auf ihn zielte, abdrückte, das Lachen…

„Nein, ich habe es nicht vergessen“, sagte er mit Mühe ausdruckslos und wandte seinen Blick ab, sah nach draußen in die Dunkelheit. Der Grund, ein unschuldiges Mädchen dafür zu missbrauchen, ihm zu schaden…ja, dafür hatte es einen Grund gegeben, nur Aya wusste nicht, welchen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück