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Der Glasgarten

von

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Vorboten

~ Vorboten ~
 


 

Es dauerte etwas, bis sich Aya aus dem blicklosen Starren auf die Steine, die die Asche seiner Familie beherbergten, lösen konnte und sich auf den kalten Untergrund kniete. Schuldigs Blumenarrangement lag neben ihm und er packte es zögerlich, ja beinahe schon widerwillig aus.

Es war das Gleiche wie bei der Beerdigung, fiel ihm auf. Das Gleiche, das er damals hier abgelegt hatte…damals, als er wie in Trance den letzten Weg seiner Schwester begleitet hatte.

Es war ein kleines Arrangement, zwei weiße Lilien, eine dunkelrote Calla, etwas Grün und eine gelbe Gerbera.

Aya schloss die Augen, als sich die Wucht der Erinnerung an diesen Tag in ihm hochschraubte, er sich aber nicht lassen wollte.
 

Es war nicht so, als würden Schuldig nicht auch Erinnerungen plagen. Wobei plagen wohl das falsche Wort dafür war, was ihm durch den Kopf ging, während Ran aus seinem Sichtbereich entschwunden war, in dem er sich wohl hingekniet hatte. Schuldig trat auf den Absatz einer kleinen Steinfigur um sein Sichtfeld zu erweitern und Ran tatsächlich im Schrein kniend vorzufinden. Als er sich davon überzeugt hatte, kehrte er wieder in seine Ausgangsposition zurück und lehnte sich wieder an den schmalen Baum, die Hand stets in seinem Yukata und an seiner Waffe.

Er wollte keine Gedanken an die Vergangenheit haben. Aber er wollte auch nicht …das Vergessen wieder heraufbeschwören. Darum war die Vergangenheit wichtig. Ihre…Vergangenheit. Das was sie gemeinsam durchlebt hatten und das…was sie schlussendlich zueinander aber vielleicht auch wieder trennen konnte. Es war also wichtig, dass er sich damit auseinandersetzte.

Schuldig Gedanken kreisten in diesen einsamen, kalten aber auch ruhigen Momenten um viele Dinge. Und zwischen diesen vielen Dingen kam auch kurz der Gedanke an den Tod von Rans Eltern auf. Er hatte sie früh verloren.

Und Schuldig war sich fast sicher, dass falls ihre Seelen zurückkehren würden – aus welchen Gründen auch immer …warum auch immer – sie würden Schuldig dafür heimsuchen, dass er damals für Takatori gearbeitet hatte und ihrem Sohn die Hölle heiß gemacht hatte.

Die Zeiten hatten sich geändert.

Aber …das Gedächtnis eines rachsüchtigen Geistes kannte das Vergehen von Zeit sicher nicht.
 

Dass Aya eine ganz andere Ansicht vertrat – nämlich, dass seine Eltern Schuldig sehr wohl willkommen hießen, wenn sie noch lebten – wurde in dem Moment klar, als Aya seinen Eltern in Gedanken von Schuldig erzählte, besonders von Schuldigs Tod und seinem Wiederauferstehen, das ihnen nicht vergönnt gewesen war. Er sagte ihnen, dass er es nicht geschafft hätte, dass er keinen Tod mehr ertrug. Er wollte niemanden sterben sehen und er wünschte sich sie zurück wie nichts auf der Welt.

Er wünschte sich sie alle zurück, seine Mutter, seinen Vater und seine Schwester.

Lautlos seufzend ließ sich Aya auf seine Fersen zurück und schloss die Augen. Er wollte sie alle wiederhaben, keimte in einem Moment der kindische Wunsch nach einer perfekten, kleinen Welt auf, die er besessen hatte.

Seine Augen wieder öffnend, starrte er auf ihre Grabmale, hinter denen er die Asche wusste, die Überreste seiner Familie, die nie wieder lachen würden oder ihn umarmen würden. Dafür war jetzt Schuldig zuständig, doch es war nicht das Gleiche.

Es war der Himmel, aber es war nicht das Gleiche.

Aya verlor sich immer weiter in seinen Gedanken, immer weiter in Zwiegesprächen mit seiner Familie, in verlorenem Glück, als dass er noch Zeit oder Ort beachten würde.
 

Schuldig wurde es kalt. Zehn Minuten waren vergangen und ihm wurde klar, dass er nicht gut genug dafür angezogen war, um hier in der Kälte in dieser ungeschützten Gegend herumzustehen. Vor allem nicht wenn er noch an den Strapazen der letzten Wochen zu knabbern hatte.

Eine Zigarette hätte er jetzt gerne geraucht, aber dies wäre zu auffällig für mögliche Beobachter, also ließ er es und wartete.

Weitere fünfzehn Minuten…
 

…in denen immer noch nichts geschah, da sich Aya nun vollkommen von seiner Außenwelt abgeschottet hatte und blind für seine Umgebung in den Strudel an negativen Empfindungen geraten war. An Stressüberladung, die ihn jetzt unbeweglich und still werden ließ, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Seine zum Zopf gebundenen Haare hielt er in einer geballten Hand und zog daran, ohne dass er es selbst mitbekam.
 

In der verstreichenden Zeit dachte Schuldig ein paar Mal darüber nach, zu Ran zu gehen und ihn zu fragen wie lange sie noch bleiben würden. Nicht drängend…natürlich.

Er überlegte sich auch, wie er seine Frage höflich und so gestalten würde, dass Ran sich nicht gedrängt fühlte. Aber er tat es nicht. Er zögerte.

Nur dann… wurde Schuldig unruhig. Die Umgebung wirkte zu ruhig auf ihn, Ran regte sich nicht, er war nämlich nicht aufgestanden aus seiner Haltung.

Und Schuldigs Hände waren bläulich an den Fingerspitzen. Er fror erbärmlich in seiner leichten Kleidung. Seine Atemwege schmerzen durch die kalte Luft und er spürte wie sein Körper sich verkrampfte durch die Kälte. Seine Nase begann wieder zu laufen…

Er wollte gehen. Doch Ran war auch nach weiteren fünfzehn Minuten nicht da und Schuldig setzte sich in Bewegung um nach ihm zu sehen.

Kurz und wirklich nur kurz hatte er die unglaubliche Panik, dass Ran nicht mehr im Schrein sein würde. Plötzlich und unter seinen Augen verschwunden.

Doch dieser Horror wurde nicht wahr. Ran war immer noch da, kniend, seine Hände um den Zopf geschlungen. Schuldig erwog kurz wieder umzudrehen…

„Ran? Brauchst du noch etwas?“, fragte er leise. Ran antwortete ihm nicht. „Es ist kalt, Ran…“

Keine Antwort.

Schuldig sah sich um. In alle Richtungen. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Er ging lautlos näher, kniete sich so zu Ran, dass er dessen Gesicht einsehen und gleichzeitig den Ausgang des halboffenen Raumes einsehen konnte.

Rans Augen waren …blicklos.

Schuldig berührte seine Hand. Kalt und verkrampft, völlig starr war sie.

„Was ist mit dir, Blumenkind?“, wisperte Schuldig.
 

Die blicklosen Augen brauchten ihre Zeit um zu begreifen, dass da jemand vor ihnen war und dass ihnen die grünen, besorgten Augen bekannt vorkamen.

Leben kehrte sehr langsam in Aya, als er Schuldig bewusst in die Augen sah, als er spürte, dass er berührt wurde, doch er brachte keinen Ton heraus, keinen einzigen. Seine Lippen blieben verschlossen, bewegten sich nicht, wenngleich er gerne etwas gesagt hätte. Doch dazu fehlte ihm die Kraft, die in ihm tobenden Erinnerungen und Gedankenfetzen des stummen Dialogs mit seiner Familie, beiseite zu schieben und sie gehen zu lassen.

Es ging nicht.

Er konnte nicht.

Er konnte sich nicht mehr ausdrücken, weder mit Worten noch mit seinen Augen. Alles schien blockiert und eingefroren.
 

Ran regte sich. Schuldig sah untrüglich, dass Ran es zumindest versuchte, aber er scheiterte an was auch immer.

„Ran?!“ Dies war schon etwas vehementer. „Sag etwas. Ich will, dass du etwas sagst. Zeig mir, dass alles in Ordnung ist.“ Er ließ Rans Hand wo sie war, lockerte jedoch den Zopf etwas aus den starren Fingern um die Kopfhaut zu entspannen, bevor er Ran an den Schultern fasste und ihn etwas schüttelte.
 

Doch auch das Schütteln half nichts, denn das Einzige, zu dem Aya imstande war, war ein minimales Bewegen seiner Lippen, als er versuchte zu sprechen. Doch es ging nicht, er bekam seine Lippen noch nicht einmal soweit auseinander, dass er nur ein Wort hervorbrachte. Es war, als wären sie aus Stein, unbeweglich und starr.

Angst zeigte sich in seinen Augen, war in seinen Gedanken ob dieser Tatsache, doch es war nur eine minimale Emotion in den kalten Augen. Nicht viel deutete auf die Beinahepanik hin, die Aya im festen Griff hatte.
 

Und die bald auch Schuldig befallen würde, wenn er nicht bald herausfand, was mit Ran plötzlich los war. Er hörte auf ihn zu schütteln und zog ihn vorsichtig an sich, auf den Knien näher an ihn heranrutschend. „Ran…das wird dir jetzt nicht gefallen, aber ich sehe momentan keine andere Möglichkeit. Ich weiß nicht was mit dir los ist.“ Schuldigs Gedanken arbeiteten fieberhaft. War es etwas Körperliches? Oder doch eher etwas Emotionales?

Er bettete Rans Kopf an seine Brust und hielt dessen Gesicht mit seiner Hand an der kühlen Wange an sich. Ran rutschte dadurch halb in die liegende Position.

Schuldig wusste, dass er durch das was er vorhatte die Umgebung zum größten Teil aus seiner Wahrnehmung ausschließen würde. Zwar würde ein unmittelbarer Angriff von ihm sicher bemerkt werden aber die feinen Warnsignale eines noch weiter entfernten Angreifers würden ihn wohl erst spät erreichen.

Dennoch wollte er es darauf ankommen lassen.

Er senkte seinen Blick auf Ran, schloss seine Augen damit er sich nur auf Ran konzentrieren konnte und war schon im nächsten Gedanken in Rans Gedanken gedrungen. Er fühlte mit seinem Daumen Rans Atem, denn sein Daumen lag nahe der kalten Lippen und der Nase. Eine Versicherung und ein Anker in die Realität, denn er wollte wissen wie es Ran ging und anhand der Atmung konnte er das gut bestimmen.

Die Mauer versinnbildlichte sich für Schuldig als hohe Schranke in Rans Gedankenwelt. Wie eh und je war sie meterdick und undurchdringlich. Er wappnete sich um einen Versuch zu starten hindurch zu gelangen. Und wenn es nur ein kurzer Moment sein würde, vielleicht würde das reichen um sich zu erklären was mit Ran los war.

Seine mentalen Finger berührten einen der Mauerblöcke und … er zerbröselte unter der Last seines Druckes den er ausübte.

Das war seltsam.

Mit dem nächsten Stein geschah das gleiche. Und mit dem übernächsten ebenso.

Die Mauer bröckelte.

Schuldig hielt erstaunt inne.
 

Mehr Körperkontakt sackte zu Aya, ebenso, wie er bemerkte, dass er nicht mehr kniete. Doch…doch da war noch etwas anderes, das sein Inneres aufschreien ließ.

Es war der langsam steigende Druck hinter seiner Stirn, der seiner Panik noch einen Anschub mehr gab, ebenso wie die Worte des anderen. Es würde ihm nicht gefallen…

Er war nicht entspannt…

Schuldig war auf dem Weg in ihn…in seine Gedanken.

Er war nicht entspannt!
 

Nein, das war er nicht, aber es schien hier kein Schutz wie sonst zu existieren. Jeder Block zerbröselte und zerfiel zu Staub. Schuldig stand bereits in der meterdicken Mauer und drang immer weiter in die Gedanken Rans vor, bis er tatsächlich hinter dieser Mauer stand.

Er blieb jedoch dort stehen und tastete sich sanft vor. Wilde Gedankenfetzen haltlos und willkürlich zusammengeführt trieben um ihn herum und er hatte nicht übel Lust, sie sinnvoll zusammenzusetzen. Aber das war nicht an ihm. ‚Ran? Was ist mir dir? Hörst du mich?’
 

Ja, ja, schrie es in Aya und er war erleichtert, sich wenigstens gedanklich äußern zu können…wenigstens das. Doch gleichzeitig war da auch Angst, Angst davor, dass seine Barrieren nicht mehr existent waren.

Doch die Erleichterung überwog deutlich in dem Chaos, das ihn lähmte.

‚Schuldig’, tönte ein Name, eine Versicherung in Aya, wehte hinüber zu dem anderen Mann. Er war da, er konnte sich verständigen. ‚Schuldig…’
 

Aber Ran war nur in Fragmenten vorhanden. ‚Ran, du bist nicht…’ vollständig, wollte Schuldig sagen aber er überlegte es sich anders. Er wollte die Angst nicht noch verstärken.

‚Es ist alles gut, Ran. Du bist nur etwas verwirrt.’ Er blieb zunächst wo er war und weitete seine Präsenz etwas aus, gab ihr mehr Substanz, damit Ran Sicherheit fühlen konnte. Altbewehrtes in sich spürte. Erst dann machte er sich zu dem Ort auf, an dem er sich sonst auch aufhielt.

‚Ran, spürst du mich?’ Gedankenfetzen zogen an ihm vorbei, rasch und unkontrolliert. Trauer, Wut und Verzweiflung aber auch alter Hass und Scham waren daraus zu lesen.
 

Aya spürte Schuldig, jedoch als Gefühl, nicht als Gestalt. Er strebte auf dieses Gefühl zu, strebte auf die Sicherheit, die es ausstrahlte und ließ sich davon einlullen, beruhigen. Es war, als würde das kleine, schwarze Häufchen Chaos, das Aya in diesem Moment darstellte, sich in der warmen, pulsierenden Kraft einrollen und schier in den anderen hineinkriechen aus lauter Verzweiflung über die eigene Lage.

‚Bleib…hier…’, geisterte es zu dieser Kraft und mit den Worten kamen einige Erinnerungen an die jüngste Vergangenheit in ihm hoch.
 

‚Ich bin hier, ganz nah, Ran. Näher kann dir keiner sein, Ran. Ich werde hier immer einen Platz haben und bei dir sein.’ Schuldig zog Rans Gedanken auf sich und auch dessen Fokus. Er tat etwas, was er sich bisher verboten hatte. Er begann mit mentalen Fingern Rans Gedankenfäden zu sortieren. Er leitete eine Art Flussordnung ein, die die Fäden zueinander führen sollte um das Chaos zu mindern.
 

Es schien, als dass der bodenlose Abgrund, vor dem sich Aya zu Schuldig geflüchtet hatte, langsam verdichtete, ihm Halt und Stärke gab. Ganz langsam gewann Aya an Stabilität, an Erkennen, das die Angst in den Hintergrund treten ließ. Verzweiflung und Panik verschwanden langsam, zogen sich zurück in die Tiefe, die ihren Schlund hinter ihnen schloss und ihn nun bewusst und weitaus sicherer zurückließ.

Dennoch sagte Aya nichts, sondern ließ sich von der Wärme des anderen umhüllen, labte sich an ihr, auch wenn er ahnte, dass er zu dieser Ruhe nicht alleine gefunden hatte.
 

‚Ran, ich habe dir geholfen. Es wäre besser gewesen, wenn du es alleine geschafft hättest, aber wir sind hier an einem ungünstigen Ort.’

Schuldigs Hand befand sich immer noch auf Rans Wange, und er fühlte auf seiner Haut wie Rans Atem ruhig und gleichmäßig ging. Er forderte kein Gespräch, da er deutlich erkennen konnte, wie Ran sich in dieser Ruhe und Sicherheit sonnte.
 

‚Ja…’

Eine Zustimmung, eine nachträgliche, zu Schuldigs Handeln, ebenso wie zu Schuldigs Präsenz in seinen Gedanken, in seinem Chaos.

‚Wieso ist das passiert?’, fragte Aya schließlich selbst in Gedanken leise, beinahe flüsternd, die Frage ein Hauch seiner selbst.
 

‚Ran, dir geht es nicht gut. Deine Belastungsgrenze ist erreicht. Wir müssen uns etwas überlegen was wir ändern sollten. Wenn es so weitergeht wird das wieder passieren und heftiger. Verstehst du, Ran?’ Schuldig presste seine kalten Lippen auf Rans Haarschopf. ‚Jetzt ist alles wieder gut. Hast du gebetet, Ran?’
 

‚Ich weiß nicht, wie das geschehen ist…wieso kam das so schnell?’

Natürlich war Aya unwohl zumute gewesen, er war unter Druck gewesen, als sie hierher gefahren waren, doch mit Druck wurde er fertig. War er immer geworden.

Sonst hätte er doch nicht töten können all die Jahre lang.

Aya wollte es nicht wahrhaben, wollte nicht sehen, dass er fertig war. Das ging doch nicht, es wurde alles besser.
 

Schuldig sah das Dilemma, doch er konnte Ran momentan nicht aus dieser Lage hinauslotsen. Um Ran von seinem Irrweg abzubringen, von seinem Weg der perfekten Verdrängung brauchten sie Zeit und …lange Gespräche, Ruhe. Nicht diesen Ort der schicksalsträchtig und vor allem kalt war. Sehr kalt. ‚Wie geht’s dir jetzt?’
 

Es dauerte etwas, bis Aya antwortete. Es war sich selbst nicht sicher, wie er seinen Zustand beschreiben sollte, deswegen musste er erst tief in sich hineinhorchen um eine halbwegs passable Antwort zu finden. Zu tief, als dass es ihm lieb gewesen wäre, doch es schien, als würde ihm alles noch etwas schwer fallen…selbst die Antwort auf eine so einfache Frage.

‚Es geht…wieder. Ich fühle mich sicherer als vorher.’ Es stimmte, denn er gewann schließlich von Sekunde zu Sekunde mehr Stärke. Er schauderte und merkte erst jetzt, dass er schon die ganze Zeit zitterte…doch vor Kälte, denn seine Beine waren schier eingefroren.
 

Schuldig jedoch verweilte noch in Rans Gedanken, wollte zunächst, dass dieser vollends erwachte, in ihre Realität zurückkehrte. ‚Das ist gut, Ran. Denn …wir müssen hier weg. Es ist zu kalt…’, gab er sanft und nicht drängend zu bedenken. Er ließ ein wohlklingendes Lachen in Rans Gedankenwelt erstehen. Auch wenn ihm ganz und gar nicht nach Lachen zumute war, sollte es Ran den nötigen Auftrieb geben.
 

Aya schmiegte sich in dieses Lachen und an den anderen Mann, bevor er sich erheben wollte und feststellte, dass durch die Kälte seine Beine vollkommen eingefroren und steif waren. Und dass Schuldig ihn mit seiner Umarmung wirkungsvoll am Boden festhielt... Wenn sie jetzt überfallen wurden, dann könnte er sich nicht richtig verteidigen…wie achtlos von ihm. Wie unprofessionell.

Ein grimmiger Ausdruck trat auf Ayas Gesicht.

Die rationalen Gedanken kamen schnell wieder, sehr schnell und drängten die Angst und die Panik in seinem Inneren zurück in die dunkelste Ecke. Es war wie der Überlebensinstinkt eines Tieres, kam es Aya in den Sinn. Entweder Angst oder Mut…aber dazwischen gab es nichts….nicht viel. Von einem Extrem in das Andere.

„Ein schöner Killer bin ich“, veräußerte er seine vorherigen Gedanken laut. „Weglaufen wäre jetzt unmöglich, ebenso wie kämpfen. Man sollte nicht meinen, dass ich die Jahre bis jetzt überlebt habe.“

Seine Hand stahl sich zu Schuldig und stellte fest, dass der andere Mann ebenso unterkühlt war wie er selbst.

„Du holst dir wieder etwas…“
 

Der so angesprochene Telepath öffnete langsam die Augen und zog sich aus Ran zurück. Er fühlte sich beschissen. Ja, das traf den Kern der Dinge doch wirklich perfekt. Sein Gesicht verzog sich unwillkürlich leidend und er sah sich um. „Können wir gehen?“, fragte er und sah zurück zu Ran.
 

„Du wirst wieder krank und ich bin Schuld“, grimmte Aya und seufzte schwer. Er nickte. „Du brauchst ein heißes Bad, Schuldig, und ein warmes Bett. So bald wie möglich.“

Aya bedeutete Schuldig, ihm zu helfen, da er halb auf dem anderen, knieenden Mann lag. Alleine aufstehen ging nicht. Und wenn er erst einmal oben war, konnte Schuldig auf seine Hilfe zählen.
 

„Du zitterst, Ran“, murmelte Schuldig, der seine eigene Kälte noch nicht spürte und er half Ran aufzustehen, richtete dessen Schultern auf und brachte sogar ein Lächeln zustande. „Hast du mit ihnen geredet?“, wollte Schuldig trotzdem wissen.
 

Aya kämpfte sich sehr langsam in die Höhe und kam wie ein neugeborenes Giraffenbaby auf seinen Beinen zum stehen. Obwohl, wenn sie jetzt angegriffen wurden, konnte er diejenigen vielleicht mit seinen Eisklötzen von Beinen erschlagen.

Er strich sich die Haare auf den Rücken zurück und reichte Schuldig seine rechte Hand.

„Du auch, Schuldig. Sogar noch mehr als ich.“

Für die nächste Frage brauchte er jedoch einen Moment, um sie beantworten zu können. Ja, er hatte mit ihnen gesprochen, doch das fiel ihm nicht leicht zuzugeben.

Er nickte. „Ein wenig.“ Zuviel, denn dadurch war er ins Nichts abgeglitten.
 

Schuldig ließ sich von Ran aufhelfen und ignorierte sein Zittern. Doch seine Hände schmerzten vor Kälte und sein Gesicht fühlte sich steif und unbeweglich wie der Rest seines Körpers an.

„Gut.“

Als er stand, grabschte er nach Ran und zog ihn für eine heftige Umarmung an sich. „Ich hatte Angst um dich“, wisperte er und küsste Ran auf Eskimoart, bevor er ihn freigab und ihn an der Hand Richtung Auto führte.
 

Ich habe immer Angst um dich, gellte es in Aya. Auch wenn diese Angst schon abgenommen hatte, so graute es dem rothaarigen Japaner vor Schuldigs erstem Auftrag nach seinem angeblichen Tod. Es graute ihm davor, Schuldig durch die Tür gehen zu sehen und darauf warten zu müssen, dass dieser lebend zurückkam…oder auch nicht.

„Es ist alles in Ordnung“, lächelte Aya. „Schließlich ist nichts passiert!“

Bevor sie einstigen, zog Aya Schuldig auf die Ayasche Art an sich und platzierte einen Kuss auf das kalte Ohrläppchen.
 

Nein, es war nichts passiert. Ran war nur wie ein Zombie gewesen und Schuldig hatte Angst gehabt ihn verloren zu haben.

Für einen kleinen Moment erwog Schuldig Ran zu fragen ob er sich dazu bereit fühlte den Wagen zu fahren, er verwarf es aber beim Gedanken an den grimmigen Blick von zuvor.

Ran würde nicht einlenken, wenn er ihm sagte, dass er vielleicht ihm die Steuerung des Wagens überlassen sollte. Das war so klar wie das Amen in der Kirche.

Nichts mehr dazu sagend schloss Schuldig die Tür, schnallte sich an und hoffte auf das Beste: einen möglichst schnell warm werdenden Wagen. Er zog die Karte wieder heran um Ran in die richtige Richtung lotsen zu können.

„Saukalt“, bibberte er nur und fingerte an der Heizung herum als Ran den Wagen startete.

„Wenn du willst, können wir uns ja abwechseln beim Fahren“, meinte er beiläufig, während er die Karte studierte.
 

„Wie weit müssen wir denn fahren?“, fragte Aya, als er sich ein letztes Mal die eiskalten Hände rieb, bevor er sie um das Lenkgrad schlang und den Wagen startete. Ein letzter Blick auf die Grabstätte und ein letzter, wehmütiger Gedanke an sie und er fuhr los, ließ den Ort seiner Familie hinter sich.

Die Heizung rauschte auf Hochtouren, langsam warm werdend.
 

„Etwa noch eine dreiviertelstunde, dann müssten wir da sein, Plus Minus Verkehrssituation“, rechnete Schuldig und nannte Ran die nächste Abfahrt um auf die Straße Richtung Tokyo zu gelangen.
 

„Das schaffe ich noch, aber dann brauche ich ein warmes Bad oder eine warme Dusche.“ Ein kurzer Seitenblick auf Schuldig und Aya zog sich seine Haare unter seinem Hintern weg. Wie immer setzte er sich auf die langen Strähnen und wenn er sich dann falsch bewegte, zog es auf seiner Kopfhaut.

Verdammt.

Wie lang sollten diese Zotteln denn noch werden?

Wenn sie auf dem Boden schleiften, gab er Jei einen Dolch in die Hand und schob nachher die Schuld auf ihn. So lautete Ayas Notfallplan.

„Wie sieht es mit dir aus. Hältst du es noch aus?“
 

„Sicher.“

Schuldig bemerkte fast zeitgleich, wie betont unbekümmert und viel zu harmlos seine Versicherung von ihm ausgesprochen worden war und er blickte zu Ran auf. „Es geht schon, es ist ohnehin nicht zu ändern“, zwinkerte er und vertiefte sich wieder in die Karte.
 

„Du weißt, dass wir in kein Hotel fahren können, wenn du wieder krank wirst, nicht wahr? Dann müssen wir beide bei deinem Team bleiben.“

Oder nur Schuldig selbst, aber Aya wusste, dass der Telepath dem nicht zustimmen würde. Außerdem war es nun nicht mehr so, dass er Crawford auf den Tod nicht ausstehen konnte…dafür verband sie ein Gefühl, das einfach zu stark war.

Trauer.
 

Irgendwie hörte sich das nach einer Drohung an oder einer Anschuldigung. Was hätte er denn tun sollen? Ran einfach so dort sitzen lassen?

„Ja, das weiß ich“, antwortete er stirnrunzelnd. „Wir können trotzdem in ein Hotel oder ein Apartment. Solange wir genügend zahlen, können wir überall hin“, fügte er hinzu und ließ seinen gesundheitlichen Status außen vor dabei.
 

„Nein nein. In einem Hotel kann ich nicht richtig für dich kochen, wenn du krank bist. Geschweige denn, dass du dann nicht in bekannten Gefilden bist und das Gemurre will ich mir nicht anhören!“, legte Aya klar und deutlich seine Gründe nieder.

„Außerdem ist es nicht gut für deine Konstitution, wenn du jetzt wieder krank wirst, deswegen untersteh dich!“

Er lächelte kurz zur Seite hin und das Lächeln war warm und neckend.
 

Irritiert aufblickend und ein wenig verstimmt über diese vorbeugende Zurechtweisung blickte Schuldig auf und wollte schon zu einer Frage ansetzen als er das Lächeln erkannte und sich selbst schalt dafür, dass er glaubte Ran würde böse …wirklich sauer auf ihn werden, wenn er es sich erlauben würde erneut durch Krankheit zur Last zu fallen.

Scheinbar war er tatsächlich zu ernst seit der Sache am Friedhof, der Schuldig noch nachhing.

„Du kannst mich ja bestrafen wenn ich wieder krank werde“, schlug er ebenfalls neckend vor verzog aber keine Miene dabei sondern lehnte sich in den Sitz zurück und entspannte seine Beine.
 

„Werde ich. Den Tee der alten Frau habe ich eingepackt. Den gibt es dann in doppelter Dosis. Jede Stunde.“

Ein leises, wenn auch noch untergründig zittriges Lachen brach sich über Ayas Lippen. „Und was wird Crawford nur mit einem kranken Telepathen machen?“
 

„Ihn hoffentlich in Ruhe lassen, sonst gibt’s Tote“, knurrte Schuldig ungehalten, aber leider auch nur gespielt, denn wenn er wirklich krank in Brads Obhut kam, dann … war er hilfloser als ein ausgesetztes Kätzchen.
 

„Genau, wenn du dann krächzend aus dem Bett kriechst und versuchst, ihn zu meucheln, gibt es Tote. Auf den Anblick bin ich gespannt, Schuldig.“ Wie gut es doch tat, herum zu albern und die Dinge, die beim Grab passiert waren zu vergessen.
 

„War ja klar“, maulte Schuldig aber nicht weiter näher drauf eingehend was er genau damit meinte. Vielleicht sprang Ran ja darauf an und er konnte ihn ärgern.
 

„Ja natürlich! Ich würde dich sogar anschieben, damit das Kriechen auch schneller geht.“ Sie bogen rechts auf eine der kreuzenden Hauptstraßen ein und standen erst einmal im Stau. Aya fischte sich die aufgeladenen Strähnen hinter sein Ohr.
 

„Ich muss nicht kriechen um jemanden töten zu können“, meinte Schuldig lapidar und starrte zum Fenster hinaus. Betont gelangweilt natürlich.
 

„Wie gut, dass Crawford seine Vorhersehung besitzt. Das kann er dann vorher mit einplanen.“ So humorvoll Schuldig es auch gemeint hatte, so wenig humorvoll war der Hintergrund. Schuldig war so mächtig, dass er mit seinen Gedanken töten konnte. Er musste noch nicht einmal einen Finger rühren.
 

So wirklich humorig hatte Schuldig es auch nicht gemeint, wie er jetzt - wo er mehr darüber nachdachte - feststellen musste. Sie fuhren zu Brad. Brad, der wusste, dass Schuldig mehr für ihn fühlte. Und Brad …wie würde er darauf reagieren wenn sie plötzlich länger blieben?

„Letztes Mal war ich zu schnell für seine Voraussicht“, murmelte er in Gedanken als er sich daran erinnerte wo er Brad starke Schmerzen zugefügt hatte, bei einem gewalttätigen Eingriff in dessen Gedankenwelt.
 

„Letztes Mal? Was hast du mit ihm gemacht?“, fragte Aya nun ernst, aber ehrlich interessiert. Die beiden hatten ihm nie den Eindruck gemacht, dass sie sich unter einander bekämpften, zumindest nicht bis aufs Blut. Dass Crawford Schuldig gerne schlug, hatte er schon während seines unfreiwilligen Aufenthaltes in Schuldigs Wohnung kennengelernt.

Unfreiwilliger Aufenthalt. Aya schnaubte innerlich. Gefangenschaft, das drückte es besser aus…nicht ganz so euphemistisch.
 

Es vergingen einige Minuten des gedankenvollen Schweigens bevor Schuldig antwortete.

„Ich drang in seine Gedanken ein und verursachte bei ihm Kopfschmerzen, Schwindel und eine Art Bewusstlosigkeit. Ich war wütend. Er hatte mich gereizt und ich fühlte mich verletzt. Normalerweise bin ich es der ihn reizt und verletzt. Dieses Mal war es andersherum und ich schlug mit meiner Waffe zu.“ Ein kurzer Bericht der Lage von damals. Es tat ihm immer noch Leid.
 

„Womit hat er dich denn gereizt, dass du ihn angegriffen hast?“

Wann war das gewesen? Bevor Schuldig und er sich nähergekommen waren? Es interessierte Aya, gab es ihm doch Aufschluss über die Beziehung, die die beiden pflegten.
 

„Das …ist nicht leicht zu erzählen. Ich glaube, dass ist kein gutes Thema für jetzt“, wand er sich heraus. Einerseits würde er es begrüßen darüber zu sprechen andererseits hatte er Angst davor.
 

Aya runzelte die Stirn. Er hatte das Schwanken in der Stimme des anderen gehört, hatte die Unsicherheit wahrgenommen.

„Du musst es nicht erzählen, wenn du nicht willst.“
 

Nun ja, so neu war das Thema auch wieder nicht, seufzte Schuldig in Gedanken und sprach sich selbst Mut zu. „Schon okay“, murmelte er und grübelte über die Situation damals nach. Wo fing er am Besten an. Vielleicht zierte er sich auch nur, weil er nicht wollte, dass Ran Brad in einem zu schlechten Licht sah…

Gott, was dachte er sich da zusammen?
 

Schuldig holte tief Luft ließ diese leise entweichen und lehnte den Kopf an die Nackenstütze.

Erst dann begann er leise zu erzählen. „Er war bei mir in der Wohnung und wir kamen im Laufe des Gesprächs …er machte sich Sorgen um mich, vermute ich. Um mich und das Team. Er mahnte mich, dass ich vielleicht zu sorglos wäre und fragte mich ob mein Selbstmordtrieb wieder zu ausgeprägt wäre um mich selbst zu schützen. Ob es wieder soweit wäre…

Ich fragte ihn, warum er diese alten Sachen wieder aufwärmen wollte und er solle sich nicht wie mein Vater aufführen. Daraufhin meinte er, ich wüsste überhaupt nicht wie ein Vater sich verhalten würde, geschweige denn eine Mutter. Danach rastete ich aus. Ich habe ihn angeschrieen, ich war so enttäuscht von ihm, dass es mir fast körperlich wehtat, solche Worte von ihm zu hören.“
 

Das war etwas, das Aya erst einmal verdauen musste. Er verstand nicht, warum Crawford so etwas sagte, welchen Nutzen er daraus zog, Schuldig so dermaßen zu provozieren. Vor allen Dingen nicht mit solch harschen Worten.

„Ich würde sagen, dann ist er es selbst schuld, dass du ihn angegriffen hast. Diese Provokation war persönlich, sinnlos und nicht notwendig“, erwiderte Aya mit wenig Mitleid…eigentlich mit gar keinem Mitleid.

„Er hat dir wehgetan mit seinen Worten, weil du von ihm Verständnis erwartet hast, nicht wahr?“
 

„Verständnis?“, hakte Schuldig irritiert nach. „Nein, nein, kein Verständnis. Er wusste lediglich, dass ich dich nicht aufgeben konnte. Ich kann mich noch gut dran erinnern wie ich sagte: Ich werde ihn nicht wieder sehen.“

Schuldig schwieg einen Moment und lächelte dann. „Er fragte mich, ob ich bei ihnen aussteigen wollen würde. Offenbar hatte er bezweifelt, dass ich dich hätte loslassen können.“
 

Da sie momentan völlig zum Stehen gekommen waren, hatte Aya ausgiebig Zeit, sich Schuldig zu betrachten. Wenn Aya es richtig verstand, war es nach seinem Verschwinden aus der Wohnung….kurz danach?

Da hatte Schuldig sich schon entschlossen, ihn nicht loszulassen?

„Wir haben damals gegeneinander gekämpft und du hast beschlossen, mich nicht aufzugeben?“, fragte Aya mit leichtem Unglauben in der Stimme nach. „War das vor oder nach unserem Gespräch auf dem Dach?“
 

„Davor glaube ich… es war …nachdem oder zum selben Zeitpunkt, als du von Kritiker verhört wurdest. Ich …habe Youji übernommen weil ich dich trösten wollte… es war alles so verworren. Vielleicht war es einfach nur so, dass ich selbst Trost brauchte, nachdem ich Brad auf die Bretter geschickt hatte - der lag zum damaligen Zeitpunkt auf der Couch.“
 

„Ich hätte also nie eine Chance gehabt, dich aus meinem Leben herauszuhalten, wenn ich es gewollt hätte?“, fragte Aya mit hochgezogener Augenbraue. Er erinnerte sich noch gut an das Gespräch, das sie nach seinem missglückten Frisörbesuch hatten.

„Hast du denn damals Trost von mir bekommen?“ Aya hatte nicht das Gefühl, eben weil er es damals noch nicht gewollt hatte. Weil er zu fertig von Kritiker war.
 

„Doch …ich wollte dich in Ruhe lassen. Das sagte ich doch oder?“, rechtfertigte sich Schuldig vehement und setzte sich etwas in dem Sitz auf. Er sah zum Fenster hinaus, abwesend.

„Ich sagte zu Brad, dass ich dich nicht wiedersehen würde, nur hat er mir nicht geglaubt. Ich hätte dich nicht wiedergesehen, nicht wenn es nach mir gegangen wäre. Erst als wir dich …als ich die Idee mit dem gefakeden Zusammenschlagen hatte …erst da …ich wollte sehen mich überzeugen, ob es dir gut geht, das war alles. Deshalb bin ich auf die Dachterrasse gekommen. Danach …sind wir uns nur noch einmal begegnet“, schloss er verteidigend.

Er hatte von Ran insofern Trost bekommen, dass er ihn trösten konnte, ja.
 

„Du brauchst dich dafür nicht zu verteidigen, Schuldig. Letzten Endes wollte ich ja auch. Und wer weiß, ohne einen Anreiz wären wir vielleicht nicht hier. Ohne deine Bemühungen ebenso nicht…“ Wenn seine Schwester nicht gestorben wäre. Aya lächelte kurz. Er boxte Schuldig auf den Oberarm. „Außerdem war das Zusammenschlagen alles andere als gefaked. Crawford hat verdammt brutal zugeschlagen. Ich konnte drei Tage später immer noch nicht ohne Schmerzen sitzen.“ Da musste Aya doch den Lädierten heraushängen lassen.
 

Schuldig getraute sich nun doch wieder zu Ran hinüberzublicken und es tauchte sogar ein Lächeln auf seinen Gesichtszügen auf. „Aber nach der Show, die ich dem Kritikerspitzel geboten habe hättest du innere Blutungen haben müssen“, sagte er und ein altbewährtes Grinsen war andeutungsweise zu erkennen.
 

„Da bin ich ja richtig froh, dass ihr diese Show nur dem Agenten geboten habt“, schnarrte Aya wenig begeistert von dieser Aussage. „Ansonsten wäre ICH euch hinterher gekrochen und hätte euch getötet, sogar noch mit Infusionsständer, das kannst du mir glauben.“ Sicherlich…wenn er nicht vorher gestorben wäre an besagten inneren Blutungen.
 

Ja, Ran hätte ihn beinahe getötet. Kurz darauf sogar.

„Damals habe ich dich zum ersten Mal Blumenkind genannt …ich meine damals als du von Kritiker zurückgekommen bist“, lenkte er das Thema um.
 

Es ging wieder etwas vorwärts in der großen Blechschlange, die sich durch die Stadt schlang und kroch.

„Nicht ganz. Im Keller und in deiner Wohnung hast du mich auch schon so genannt…nur da hast du nicht mitbekommen, dass ICH es mitbekommen habe. Ebenso wie Crawfords Rotfuchs.“ Seine Stimme hatte einen leichten ironischen Klang.
 

„Stimmt“, gab Schuldig nach einigem Überlegen zu. Hatte er das wieder vergessen? So etwas Wichtiges? Ging das schon wieder los?

Er runzelte die Stirn. „Ich kann mich am besten aber an die Sache mit Yohji erinnern. Aber es wird schon so sein, dass ich dich vorher schon so genannt habe. Liegt ja auch nahe…“, lächelte er müde.
 

„Anscheinend liegt es sehr nahe…man könnte fast sagen, dass du mich so genannt hast, bevor du mich mit meinem Namen angesprochen hast. Das sollte mir zu denken geben.“ Blumenkind…damals hatte er es für eine Provokation gehalten. Jetzt wusste er, dass Schuldig ihn eben nicht damit provozieren wollte, sondern dass er ihn liebevoll necken wollte. Was für ein Unterschied…

„Vielleicht erinnerst du dich deswegen so gut daran, weil du mich dort zum ersten Mal umarmen durftest.“ Aya musste nun doch lachen. Es würde ihn wirklich nicht wundern, wenn es so wäre.

Er blieb vor einer roten Ampel stehen und richtete seinen Blick auf die Massen an Fußgängern, die an ihnen vorbeiströmten. Was für ein Gegensatz zu dem ruhigen Haus…was für ein Ameisennest.
 

„Hmm …das könnte stimmen.“ Schuldig verfiel nun tatsächlich in trübes Brüten und hing seinen Gedanken nach, während die Leute vor ihrem Wagen vorbeiströmten.

Gerade jetzt fragte er sich wieder, wie er es ausgehalten hätte, ohne Ran zu sein…

Vielleicht lag es daran, dass er daran hatte denken müssen, wie Brad nach seinem Selbstmordtrieb gefragt hatte. Hätte er ohne Ran leben können? Einmal Liebe erfahren und dann ohne diese Liebe weiterleben? Ging das für ihn?
 

Die Stadt war brechend voll und Aya stöhnte widerwillig auf, als er für den sechsten Fußgänger eine Vollbremsung hinlegen musste, als dieser beschloss, bei rot über eine Ampel zu springen. Er wollte wieder zurück in diese Ruhe, zurück in das Leben, das so normal schien. Er wollte sich nicht der Gefahr aussetzen, die hier in Tokyo lauerte.

Doch er wollte auch sein Team sicher wissen. Er wollte nicht, dass noch jemanden von ihnen etwas geschah. Außerdem musste er sich um Youji kümmern.

„Wie lange noch?“, fragte er schließlich und leichte Unzufriedenheit wie auch Widerwillen war in seiner Stimme zu hören.
 

„Wir müssen den Wagen noch loswerden. Und wir müssen zunächst durch die Stadt. Sie wohnen nicht mehr in Tokyo direkt.“

Schuldig bemerkte wie ungeduldig Ran war und fand zu seinem üblichen Humor zurück. „Du hast es ganz schön eilig… vermisst du Brad so sehr?“, grinste er leicht und konnte es auch so gar nicht verbergen.
 

Schuldig brauchte es auch gar nicht zu verbergen, denn Aya hörte das Grinsen schon aus dieser infamen Unterstellung.

„Würdest du uns gerne zusammen sehen oder warum unterstellst du mir das immer wieder?“, fragte Aya mit teuflischem Einschlag nach. Schuldig brachte dieses Thema nicht zum ersten Mal auf zwischen ihnen und langsam gab es Aya zu denken.

„Außerdem will ich schnell ankommen, damit ich eine warme Dusche nehmen kann. Mir ist kalt bis auf die Knochen.“
 

Kalt war ihm auch, jedoch längst nicht mehr so kalt wie auf dem Friedhof.

Schuldig musste tatsächlich länger überlegen, ob er Ran zusammen mit Brad sehen wollte. Denn es war nicht das erste Mal, dass er mit einem solchen Gedanken konfrontiert wurde. „Ich will dich nur ärgern“, gab er schließlich ein wenig kleinlaut zu.
 

„Nenn mich Kirschchen, das ärgert mich auch“, gab Aya zurück und schielte kurz zu Schuldigs Seite. Der Verkehr wurde wieder etwas flüssiger und er konnte mittlerweile in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit fahren.

Aber den Wagen loswerden? Jetzt schon? Er war doch noch gar nicht bereit.

Aya seufzte niedergeschlagen und strich über das Lenkgrad. „Wo sollen wir denn so schnell einen Neuen herbekommen?“, fragte er und stellte sich auf einen fünf Stunden Marathon ein. Wenn nicht sogar noch mehr.
 

„Was hältst du davon, wenn wir den Wagen verkaufen und mit nem Taxi weiterfahren? Morgen kaufen wir dann einen neuen, je nachdem.“ Schuldig sah das Ganze nicht als so schlimm an. Sie mussten das schon des Öfteren tun. Dieses Mal jedoch waren sie zu lange an einem Ort geblieben. Zwei Jahre waren zu gefährlich und zu unvorsichtig mit ein und derselben Identität.
 

Aya nickte. Aus sicherheitstechnischen Gründen klang das gut, sehr rational. Doch seine Gefühlsseite sprach sich dagegen aus. Aber diese Seite konnte sie alle in Gefahr bringen, also brachte er sie zum Schweigen.

„Gut, dann können wir uns auch noch überlegen, welches Modell wir uns dann zulegen“, stimmte er schließlich zu…schweren Herzens…aber er stimmte zu.
 

Also führte Schuldig Ran zum nächsten Autohändler, der seines Erachtens wenigstens noch einen einigermaßen annehmbaren Preis für Rans Wagen mit hohem ideellen Wert rausspringen ließ. Dumm nur, dass der ideelle Wert hierbei nichts zählte. Aber …Schuldig wäre nicht Schuldig, wenn er den alten Geizkragen nicht ein wenig auf die Sprünge helfen würde…
 

Genau das merkte auch Aya, als er sich im übertragenen Sinne zurücklehnte und mit missmutiger Miene beobachtete, wie hier sein Porsche unter den Hammer kam. Das Erstgebot des Händlers war lächerlich. Viel zu niedrig. Dass Schuldig seine Finger im Spiel hatte, merkte Aya aber spätestens dann, als der Preis plötzlich dann doch in annehmbare Höhen glitt, während Aya selbst und der Händler über das Fahrzeug fachsimpelten.

Aya beschloss, bei hundert Millionen Yen Schuldig Einhalt zu gebieten…ganz gönnerhaft. Nein, so hoch wollte er es nicht treiben.

Bei der fünften Runde um seinen Wagen herum und einer immer geringer werdenden Mängelliste blieben sie bei 30 Millionen Yen.
 

Während Ran den Verkauf abwickelte, stellte sich Schuldig etwas abseits und benutzte Rans Mobiltelefon für den Anruf bei einem Taxiunternehmen.

Als Ran zu ihm kam und sie gehen konnten, änderte er die Erinnerungen des Mannes, der Rans Wagen gekauft hatte, etwas ab, er veränderte ihr Aussehen in seinen Gedanken und sie konnten abziehen. Ein wenig warten mussten sie noch, bis das Taxi kam. „Wir müssen noch ein paar Minuten warten, bis der Wagen kommt.“
 

Aya erwiderte darauf nichts. Er war viel zu sehr beschäftigt, sich seinen Wagen…den er gerade verkauft hatte, dessen materieller Wert nun in seiner Brieftasche lag, zu betrachten. Er verspürte einen kleinen, dummen Stich an Sehnsucht nach dem Porsche, nach dem letzten Stück Eigentum, das er sich in der letzten Zeit wirklich von seinem Geld geleistet hatte…und das rechtmäßig ihm gehörte.

Schuldig würde da anders denken, sicherlich, doch für Aya war diese Selbstständigkeit immens wichtig. Aber vielleicht würde sich das geben, wenn er erst einmal wieder regelmäßig arbeitete.
 

Schuldig fühlte sich noch immer etwas zu auffällig gekleidet in seinem traditionellen Gewand mit seinen leuchtend roten Haaren auf blauem Grund. Der Tag neigte sich jedoch bald seinem Ende und soweit er es beurteilen konnte, wurden sie hier an dieser Straßenecke von nicht allzu vielen Leuten gesehen. Sie warteten und in der Zwischenzeit fiel Schuldigs Augenmerk des Öfteren auf Rans Gesicht. "Zieh nicht so einen Schmollmund sonst küsse ich dich vielleicht noch", meinte er und tat dies so, als wäre das kein glücklicher Umstand, sondern durchaus sehr unglücklich für Ran. Sein Gesicht drückte das kümmerliche Leid aus, welches sich über Ran mit diesem Kuss ergießen würde. "Dein Wagen wird es gut haben, ganz sicher wird der neue Besitzer ihn hegen und pflegen und du wirst deinen neuen Wagen ganz sicher genauso lieb haben!" Schuldig runzelte für einen Moment die Stirn als ginge es hier um ein Haustier...ein Pferd oder von ihm aus auch eine Katze, die man leider weggeben musste. Nein...es war ein Wagen. Viel schlimmer als ein Haustier...oder?
 

Das Stirnrunzeln wurde energischer. "Wie lange hattest du den Wagen?", beendete er seine Grübeleien.
 

Aya zeigte nicht gerne viel Zärtlichkeit in der Öffentlichkeit, doch jetzt wäre es ihm egal gewesen, sehr egal, ob Schuldig ihn geküsst hätte.

Er seufzte schwer.

„Um mit Crashers zu arbeiten, habe ich auch noch in einer Art Schnellkurs den Führerschein machen müssen…schon mit sechzehn anstelle mit achtzehn. Mit einem gefälschten Personalausweis ist eben alles möglich. Mit achtzehn habe ich mir dann den Wagen gekauft, quasi als Geschenk an mich selbst.“ Als Erinnerung daran, dass auch er etwas verdient hatte. Dass er auch etwas privat für sich brauchte. „Youji hat mich dazu angespornt, ihn zu kaufen, weil er Konkurrenz für einen Seven benötigte. Aber schließlich hat er mir dann doch gut gefallen. Es war schließlich mein Wagen.“
 

„Das hört sich an, als wäre es dein Kind, zwar nicht so schön wie andere Kinder aber schließlich dein Kind“, lächelte Schuldig und neckte Ran ein wenig damit.

Ran sah sehr kläglich drein und Schuldig konnte nicht widerstehen und küsste Ran sanft auf die Wange. Nicht ganz so provokant in der Öffentlichkeit, denn er wusste, dass Ran das nicht mochte. „Hey Kopf hoch! Bald hast du dein eigenes Leben wieder zurück, was zählt da schon das Auto?“
 

Ein kleines Lächeln entlohnte Schuldig für seine Mühen und violetten Augen sahen kurz in ihre grünen Gegenstücke, bevor sie zum treuen Gefährt wiederkehrten, das bald nicht mehr seins war.

Er konnte momentan eben einfach nicht gut loslassen.

„Ich weiß, Schuldig, ich weiß. Aber es ist eben mein Auto gewesen. Oder würdest du deinen Bären einfach so mit der Wimper zu zucken abgeben?“ Zugegeben, das war kein Vergleich, denn er hatte seinen Wagen nicht schon im Kindergartenalter besessen. Dennoch.
 

Über diesen herben Vergleich musste Schuldig dann doch länger nachdenken. Als er schließlich antwortete hatte er seine Stimme neutral gehalten.

„Ich habe ihm schon einmal ein Messer durch den Bauch gerammt. Ja, ich denke ich könnte ihn weggeben. Vermutlich ist er ohnehin schon weg. Wenn sie schon in unserer Wohnung die Spielzeuge gefunden haben…“
 

„Ein Messer in den Bauch gerammt…stimmt. Und ihn schutzlos deinem Feind ausgeliefert. Das ist kein gutes Verhältnis zu einem Teddybär, Schuldig“, nickte Aya und musste nun doch etwas breiter lächeln. Und doch hatte Schuldig den kleinen über die Jahre hinweg zerzausten Bären gern.

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen ihnen, als Aya seinen Mantel enger um sich zog. Der Steinboden am Grab war zu kalt gewesen, viel zu kalt.

„Der Bär ist in Sicherheit“, erwiderte er kryptisch. Crawford hatte ihn.
 

Schuldig hielt nach dem Taxi ausschau und blickte die Straße hinab. „Woher willst du das wissen?, fragte der nebenbei. Ran klang so als wüsste er es sehr genau und Schuldig fragte sich, wie er sich so sicher sein konnte. Es sei denn er wusste wo der Bär sich aufhielt. „Hast du ihm einen Peilsender verpasst?“
 

„Ich habe hellseherische Fähigkeiten“, war Ayas noch geheimnisvollere Antwort, die scheinbar nichts und doch alles zu erklären schien, zumindest in seinen Augen. Aya drehte sich um, weg von seinem Wagen. Irgendwann musste er einfach Abschied nehmen, er konnte seinem Porsche schließlich nicht ewig hinterstarren.
 

„Brad hat ihn?!“ entfuhr es Schuldig plötzlich und er wandte das bleiche Gesicht zu Ran herum.
 

„Ja“, erwiderte Aya schlicht, seine Augen in die des anderen vergraben. Vermutlich war es für Schuldig der Untergang oder unfassbar, so wie dieser Blick vor Entsetzen schier überquoll.

„Ich hab ihn ihm in die Manteltasche gesteckt, als du…weg warst. Er schien mir auch etwas von dir zu brauchen.“
 

Das Taxi kam. Gott sei Dank.

„Vermutlich hat er das alte Ding bereits entsorgt. Er ist nicht so der Typ, der sowas braucht“, erwiderte Schuldig in einem Ton, der sagen sollte: war völlig unnötig ihm den Bären aufzuhalsen.

Schuldig signalisierte dem Fahrer, dass sie die Gäste waren und sie gingen auf den Wagen zu.
 

Da war Aya anderer Meinung, doch er behielt es für sich. Schuldig schien es wichtig zu sein, von Crawford zu denken, dass dieser überhaupt nichts für ihn empfand. Das konnte Aya verstehen, denn für Schuldig war es sicherlich ein Schock gewesen, dass er mit Crawford über ihn gesprochen hatte…vor allen Dingen, WAS er gesagt hatte. Und nun noch der Bär, der sich in der Obhut des Amerikaners befand.

Gemeinsam stiegen sie ein und labten sich an der molligen Wärme, die ihnen das Taxi bot. Ein letzter Blick auf seinen Wagen und der Fahrer startete, brachte sie von hier weg.

Ayas Blick fiel auf die Sporttasche zu seinen Füßen, in der sich seine Geldbörse befand. Der Wagen war mehr wert gewesen, viel mehr.

Quasi unverkäuflich.

Aya seufzte im Stillen.

Genug davon, Zeit nach vorne zu schauen.

„Mal sehen, ob Banshee uns abtrünnig geworden ist“, sagte er um sie beide auf ein anderes Thema zu bringen.
 

Schuldig, der neben Ran saß musste jetzt an seinen Bär denken.

Wenn er jedoch ehrlich zu sich selbst war, musste er an die Hände denken, die den Bär gefunden hatten, in der Manteltasche. Wie Brad wohl darauf reagiert hatte?

Und wenn er jetzt wieder lebte, existierte der Bär überhaupt noch? Oder war Brad nachhause gegangen und hatte seine Restwut an dem Bären ausgelassen?

„Ich glaube nicht, sie steht nicht so auf Wölfe“, murmelte Schuldig und der Witz trat durch seinen abwesenden Tonfall etwas in den Hintergrund.
 

„Dann bin ich ja beruhigt“, erwiderte Aya mit einem Seitenblick auf den Mann, der mit den Gedanken sicherlich nicht bei ihm verweilte, sondern bei Crawford.

„Hätte ich ihn leer ausgehen lassen sollen, Schu?“, fragte Aya schließlich. „Hätte der Bär in der Wohnung bleiben sollen?“

Das Taxi roch…anders als sein Porsche. Schmutziger. Aber wenigstens fuhr der Fahrer gut und zügig, redete nicht viel, eigentlich gar nichts, sondern summte nur namenlose Volkslieder mit, die aus dem Radio dröhnten.
 

Schuldig sah weiterhin zum Fenster hinaus, suchte aber mit seiner Hand die von Ran die in dessen Schoß lag. „Nein, ist schon gut. Besser er ist da, wo er jetzt ist, als dass diese Typen ihn in ihre Hände bekommen. Es ist nur …etwas seltsam.“
 

„Wieso? Kannst du dir nicht vorstellen, wie er mit dem Bären im Arm einschläft und ihn an sich kuschelt?“, fragte Ayas kleiner Teufel, der hin und wieder zum Vorschein kam und Schuldig triezte, wo er nur konnte. Seine Finger jedoch strichen währenddessen liebevoll über die Finger der ihn haltenden Hand.
 

„Ra~an“, seufzte Schuldig gequält auf. „Das ist irgendwie geschmacklos. Kannst DU es dir denn vorstellen?“ Er sah zu Ran hinüber der sich gerade so mal ein fieses Lächeln verkneifen konnte.
 

„Ja“, kam es staubtrocken zurück und Aya hob eine Augenbraue. Er konnte es nicht wirklich, denn dafür war Crawford zu sehr Crawford eben, zu kalt und zu ernst, aber das Bild, das er im Kopf hatte, brachte ihn zu einem Lächeln.
 

„Du kennst aber schon den Unterschied zwischen Wunschvorstellung und Realität?“, kam nun Schuldigs innerer Teufel hervor und somit auch ein kleines gemeines Lächeln - als Replik auf das verträumte Lächeln das er auf Rans Gesicht ausmachen konnte.
 

„Richtig. Aber meine Wunschvorstellungen laufen da in ganz andere Richtungen.“ Aya hatte nun wirklich das Gefühl, dass Schuldig ihm irgendetwas aufschwatzen wollte und dass dieses Irgendetwas Crawford hieß. Was durchaus möglich war, wie er befand, wenn es Schuldigs unterbewusster Wunsch war, sowohl mit dem Amerikaner als auch mit ihm ein Verhältnis zu haben.
 

„In welche? Brad mit einem Teddybär im Arm?“, zweifelte Schuldig sehr an dieser Vision. „Das ist grotesk und eines der Vorzeichen zum Weltuntergang. Sowas wie… eine Heuschreckenplage oder Ähnliches…“

Brad mit einem Teddy im Arm.
 

„Vielleicht verkennst du ihn und er macht so etwas öfter. Du weißt nur nichts davon, weil er dir gegenüber immer den harten Mann spielt.“

Hart vor allen Dingen.

Aya schüttelte innerlich den Kopf über sich selbst. Ja, Crawford begehrte Schuldig, das konnte er sich denken, doch das musste er nicht gleich so plakativ machen.
 

Schuldig blickte wieder zum Fenster hinaus, verfolgte das Geschehen um sie herum mit trübem Blick. Er wurde langsam müde. Seine Augen brannten und er rieb sie sich mit der freien Hand.

„Keine Ahnung. Ich kenne ihn … überhaupt nicht“, sagte er leise aber mit der Spur von Bitterkeit.
 

Auch Ayas zweite Hand strich nun über den kostbaren Schatz, der auf seinem Schoß lag. Aya vermochte nichts dazu zu sagen, da Schuldig vermutlich mehr als Recht hatte mit dem, was er gesagt hatte. Crawford zeigte nichts von sich und Aya konnte sich vorstellen, dass er es die sieben Jahre, die Schuldig ohne Erinnerungen verbracht hatte, absichtlich getan hatte. Um sich zu schützen und um Schuldig nicht auf dumme Gedanken zu bringen.

Würde sich das ändern?
 

Sie fuhren schweigend weiter, Schuldig hing seinen Gedanken nach und erst, als sie die genannte Adresse erreicht hatten hielt der Wagen an. Schuldig wurde aus seinen Gedanken gerissen und sah sich um. Hier war nicht die richtige Adresse, aber sie waren in der Nähe, ein paar Minuten von hier entfernt würden sie zu Nagis, Jeis und Brads neuem Domizil gelangen.
 

Aya bezahlte das Fahrtgeld und sie stiegen aus. Aya besah sich die Gegend. Es war ruhig hier, aber nicht zu abgeschieden, jedoch deutlich gehoben. Für japanische Verhältnisse gab es hier viel Platz zum Wohlfühlen.

Dennoch konnte diese Gegend hier nicht mit seinem neu geschenkten Haus mithalten, dachte Aya mit Genugtuung grimmig und sah zu, wie der Taxifahrer wegfuhr.

„Auf geht es in die Höhle des Löwen…wie weit müssen wir noch laufen?“ Er wusste, dass Schuldig sich nie direkt nach Hause bringen ließ.

Nach Hause.

Crawford war Schuldigs Zuhause?

Komisch, dass Aya es so wahrnahm. Crawford war Schuldigs erstes Zuhause gewesen.
 

„Ein paar Minuten“, sagte Schuldig während er sich zu orientieren versuchte und er die Karte hervorzog.

„Hier bin ich noch nie gewesen. Sieht ordentlich, nett aus. Unauffällig beinahe schon.“ Er blickte wieder auf die Karte. „Hier runter müssen wir.“

Er deutete die Straße hinunter auf der sie standen. „Die Zweite Rrechts und dann bis zum Ende…“
 

Aya kam sich wie ein Tourist vor, wie sie hier suchten und Schuldig die Karte in der Hand hielt.

Als sie dann schließlich vor dem Haus standen, staunte er nicht schlecht. Nicht, dass es pompöser war als das Alte, ganz im Gegenteil. Es war ein Ryokan, nur etwas kleiner und sehr schlicht gehalten von außen. Allerdings konnte er durch das Tor nicht viel erkennen…er hörte nur Wasser plätschern. Ein Teich also?

„Du klingelst.“
 

„Ist doch egal wer klingelt“, murrte er und drückte die Klingel. Kurz darauf öffnete sich das Tor wie von Geisterhand und sie gingen hinein. Das Tor schloss sich wieder und Schuldig sah aus dem Augenwinkel, dass sich etwas bewegte hinter ihm. „Hey Kleiner!“, begrüßte er Nagi, der das Tor soeben verschloss. „Schuldig“, lächelte Nagi etwas angespannt und begrüßte ebenso auch Ran. „Du siehst nicht gut aus. Bist du krank?“
 

„Lass uns reingehen, wir sind beide müde“, lenkte Schuldig von seinem Befinden ab und er zog Nagi leicht an sich heran um ihm die akkurate, fedrige Frisur zu zerwuscheln.
 

„Könntest du dies bitte unterbinden“, kam es indigniert zurück und der junge Schwarz strich sich die impertinent durcheinander gebrachten Haare glatt. Doch wirklich Biss hatte diese Zurechtweisung nicht, dafür war er viel zu besorgt um den Telepathen, der doch eigentlich ausgeruht aussehen sollte, oder?

Was er nicht wusste, war, dass Aya hinter ihm schmunzelte, als er das Haus betrat. Wie Brüder, die beiden.

Der rothaarige Japaner sah sich in dem spärlich möblierten Raum um, der kalt wirkte. Nicht richtig wohnlich, ungemütlich gar. Da war selbst das Haus, das Schuldig ihm geschenkt hatte, gemütlicher gewesen, nachdem er es aufgeräumt hatte.

Vielleicht könnte man aus dem Haus noch viel machen, denn Platz war da.

„Wollt ihr etwas trinken?“, fragte Nagi und riss Aya damit aus seiner Beobachtung. Er nickte schweigend.
 

„Ich hätte Lust auf etwas Warmes. Habt ihr was da?“, Schuldig grinste, als er sich aus den Schuhen kämpfte und in die bereitgestellten warmen Hauspuschen stieg.

„Sake?“ Brads Stimme veranlasste Schuldig sich aufzurichten und sich umzudrehen. Für einen Moment wurde er durch die Wucht der Autorität, die ihm hier entgegenschlug, stumm. Und vermutlich glotzte er auch.

Brads Stimme, seine Haltung - die verschränkten Arme - das Anlehnen an der Wand. Lässig, aber dennoch hatte Brad nichts mit Lässigkeit zu tun. Schuldig versuchte angestrengt, Brad mit einem Teddy in Verbindung zu bringen, scheiterte aber kläglich.

„Wäre gut“, stimmte Schuldig zu. So ein wenig Alkohol hatte noch jeden aufgewärmt und schadtete sicher nicht. Zumindest war das seine Meinung.
 

Wie gut, dass Aya viel zu beschäftigt war, seine Schuhe auszuziehen, dass er nicht das erste Zusammentreffen zwischen Schuldig und Crawford miterleben musste. Dass er Crawford nach ihrem zweiwöchigen Zusammensein in die Augen sehen musste.

Er wollte nicht wissen, wie er reagierte, wie sie miteinander umgingen. Genauso feindselig wie vorher? In ruhiger Akzeptanz wie in den zwei Wochen?

Er richtete sich auf und folgte Nagi in die Küche, die sich direkt an das Wohnzimmer anschloss.

„Willst du auch einen Sake?“

Aya schüttelte den Kopf. „Tee.“

Nagi nickte und machte sich daran, aus einem der noch leeren Schränke, wie Aya sah, eine Tasse zu holen und einen Beutel hinein zu legen. Zumindest gab es hier schon einmal einen Wasserkocher.
 

Schuldig bemerkte, wie Ran sich mit Nagi in einen Raum verzog, vermutlich die Küche. Der Vorraum war groß und so etwas wie ein Empfangsraum. Brad sah ihm zu, wie er seinen Blick schweifen ließ. Und er war nervös.

„Was ist passiert? Du siehst schlimmer aus als zuvor“, merkte Brad an und selbst für ihn hörte sich seine Stimme strenger an als beabsichtigt.

Schuldig war blass. Dieser Eindruck wurde durch die roten Haare nur verstärkt. Die Augen glänzten unnatürlich.
 

Diese Augen suchten nun Brads Blick. „Ich hab mir ne Grippe eingefangen. War wohl doch alles zu stressig in letzter Zeit“, versuchte er sich etwas zu rechtfertigen, wenn auch mit wenig Kraft dahinter. Er wandte sich ab, als Brad sich ebenfalls von der Wand löste und sie gingen in die Küche, wie er bemerkte. „Schönes Haus“, sagte er und fühlte sich seltsam beklommen in Brads Nähe.
 

„Es ist noch nicht ganz fertig eingerichtet“, bemerkte Nagi und schüttete Ayas Tee mit heißem Wasser auf, während er für Schuldig und Brad Sake aufsetzte. Warm natürlich, denn Schuldig sah mehr als erfroren aus.

„Wo wart ihr die Tage denn?“, fragte er schließlich in die Stille des Raumes hinein, da keiner der Männer auch nur einen Ton sagte, sondern nur Blicke hin und her schwirrten. Nagi hatte das Gefühl, dass sie alle auf einem Pulverfass saßen.
 

„In einem Ferienhaus, sehr ländlich das Ganze.“

Schuldig setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf auf. Es war warm hier und er war hundemüde. Jetzt wo er sich etwas entspannen konnte - trotz Brads forschendem Blick - jetzt kam die Müdigkeit wie ein bleiernes Gewischt zurück.

„Meint ihr wir könnten ein oder zwei Tag bei euch bleiben, bis wir in die Wohnung gehen?“, fragte er und sein Blick wanderte zu Brad.

Er war nicht sicher ob das ein so guter Plan war aber er fragte sich in seiner jetzigen Müdigkeit ob er dazu in der Lage sein würde, ohne eine Mütze voll ruhigen und sicheren Schlafs frohen Mutes in seine Wohnung zurückzugehen - und sei es nur um sie aufzugeben.



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