Zum Inhalt der Seite

Der Glasgarten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Sex nach Plan

~ Sex nach Plan ~
 


 

o~
 


 

Ein sachtes Schnurren kündigte Omis Wachheitsphase an, als er versuchte, sich schlaftrunken zu räkeln. Doch dieses Vorhaben misslang auf ganzer Linie… denn er war an einen warmen, schlanken Körper geschmiegt, der ihn beinahe gänzlich vereinnahmte und ihn in seine Arme gezogen hatte.

Er schlug seine Augen auf und musste lächeln, als er Nagis schlafendes Gesicht sah, das so entspannt aussah.

Deswegen mochte er den Telekineten so… mochte er ihre gemeinsamen Nächte und das Aufwachen danach.

Wenn er gekonnt hätte, hätte er Nagi durch die Haare gestrichen, wie er es immer gerne tat, doch Nagi hatte heute seine Arme an sich gefangen.
 

Die er so schnell nicht hergeben würde, denn der Schlafende bemerkte zwar, dass sich etwas neben ihm regte, doch er dachte nicht daran aufzuwachen.

Zu lange hatte er noch wach gelegen und sich über viele Dinge schier den Kopf zerbrochen und war schlussendlich zu keinem guten Ergebnis gelangt.

Was ihm das Einschlafen nicht wirklich erleichtert hatte.
 

Omi nutzte währenddessen die Zeit, Nagi genau zu beobachten und jeden Zentimeter des anderen in Augenschein. Die fedrigen Haare, die dem anderen auf die Stirn gerutscht waren, die spitze Nase, die schmalen Lippen, die so sanft küssen konnten, die attraktive Kinnpartie… das Schlüsselbein… nicht zu vergessen die langen Wimpern…

Langsam wurschtelte Omi eine Hand hervor und zupfte Nagi an einer der Strähnen.

„Hey Sleeping Beauty!“, wisperte er.
 

Nagis Hand löste sich und schlafwandelte zu der störenden Stelle und rieb sich den Kopf. Dabei öffnete er die Augen einen verschwommenen Spalt und erkannte, dass sich etwas vor ihm bewegte. Er drehte sich auf den Rücken und wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht.

„Hmmm“, murmelte er verschlafen. Er fühlte sich wie erschlagen.
 

„Wie geht es dir?“, versuchte sich Omi vorsichtig in Kommunikation, ganz darauf bedacht, was am gestrigen Abend zwischen ihnen vorgefallen war.

Seine Hand ging auf Nagis Brust spazieren.
 

„Ich habe regeneriert, aber bin erst spät eingeschlafen“, brachte Nagi mit schlafesschwerer Stimme heraus.

So richtig wach war er noch nicht.

Er öffnete die Augen, wischte sich den Schlaf aus ihnen und blinzelte gegen die Decke. Sie waren im Ryokan und sie waren im Süden Japans. Nicht in Tokyo.
 

Omis Hand wanderte hoch zum Gesicht des anderen und drehte es leicht zu sich.

„Warum? Konntest du nicht schlafen?“ Seine Stimme war sanft, besänftigend, vielleicht auch um Entschuldigung bittend.
 

„Es gab einige Dinge zu bedenken“, gab Nagi bereitwillig zu, wollte allerdings nicht näher darauf eingehen und schloss die Augen.

„Wie spät ist es?“
 

„Gegen sieben Uhr vermute ich… also noch richtig früh.“ Omi zog seine Hand langsam zurück und rollte sich ebenso auf den Rücken. Die Decke war sehr interessant… ebenso wie Nagis Worte, die eine Barriere zwischen ihnen erschufen.
 

„Um sieben?“ Wenn er genau hinhörte, konnte er leise Gespräche im Flur vernehmen, hin und wieder ein Wort und das langsam erwachende Haus. Das Personal war mit Sicherheit schon wach und bereitete das Frühstück zu.

Nagi setzte sich auf. „Vielleicht sollten wir uns anziehen…“, meinte er zögerlich und sah sich um. Er hatte nichts Frisches zum Wechseln dabei. Aber es würde schon gehen. Er kaufte sich am Besten später etwas.
 

„Warum willst du nicht noch im Bett bleiben?“, fragte Omi mit einem Stirnrunzeln. Er konnte sich die Antwort schon denken, doch er wollte sie aus Nagis Mund hören… höchst persönlich.

Sie waren hier um zu entspannen, aber Nagi schien ihm seit dem gestrigen Abend, als sei er auf der Flucht und Omi sein Verfolger… bloß weg von ihm.
 

„Weil es sicher bald Frühstück gibt und es geziemt sich nicht davon fern zu bleiben…“ Dabei war der Hauptgrund - sein Hunger noch nicht einmal genannt. „Andererseits sind wir im Urlaub“, gab er laut vor seiner eigenen Gerichtssprechung zu bedenken. „…und wenn wir später irgendwo ein wesentlich… luxuriöseres Essen zu uns nehmen würden, wäre ich dem nicht abgeneigt.“ Sein Blick ging zu Omi, der neben ihm lag.

Wenn er sein Kalorienlevel niedrig hielt, war er wesentlich gehemmter in seiner körperlichen, aber auch - und das war das Wichtige dabei - in seiner telekinetischen Aktivität. Somit konnte er sich selbst austricksen. Gefährlich war dabei, dass er sich auch weniger gut im Griff hatte.
 

„Schwebt dir da denn etwas vor?“, fragte Omi und lächelte ein schelmisches Lächeln, das jedoch nur ein Abklatsch seines sonstigen Lächelns war.

Er hatte selbst noch keinen Hunger, wusste aber um Nagis Problem mit dem Essen… von daher war es schon vernünftig, nun essen zu gehen.

Doch bevor er noch weiter über das Problem nachdenken konnte, durchbrach ein unaufdringlicher Klingelton seine Gedanken.
 

„Ich…“

Nagis Kopf ruckte beinahe augenblicklich herum, seine Hand fuhr nach oben und kurz darauf schwebte sein Mobiltelefon zu ihm heran und wurde von selbiger in Empfang genommen.

Er sah auf das Display, erkannte die Nummer und nahm das Gespräch sofort an.

Es war Schuldig. Aber warum rief dieser an? Schuldig rief selten an…
 

Nagi war noch während er sich meldete innerlich in Alarmbereitschaft.

Er erhob sich langsam als ihm Schuldig mitteilte… dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Schuldigs Stimme war plötzlich so leise, so fern. Es rauschte in seinen Ohren und er hatte das Gefühl, dass seine Brust unerwartet eng wurde. Seine Kehle trocken und zugeschnürt.

Ohne darauf zu achten erhob sich Nagi und ging durch das Zimmer, schob die Tür auf und lief zügigen Schrittes den Gang hinab… in den Garten, hinaus.

Nichts wie hinaus… die Wände erdrückten ihn schier. Schuldig sprach eindringlich mit ihm und er konnte nicht antworten, die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

Nur hinaus. Weg von den Wänden und dem Dach.
 

Omi runzelte die Stirn ob des plötzlichen Abgangs, hatte er doch nicht mitbekommen, um was es ging. Doch es konnte nichts Positives sein, anhand von Nagis Logik zu schließen.

Langsam erhob sich Omi und zog sich um, folgte Nagi dann den Gang hinunter nach draußen, sah den anderen schon von fern, wagte es jedoch noch nicht, ihn anzusprechen oder ihn zu berühren.
 

Doch Nagi hielt immer noch den Hörer krampfhaft in der Hand und sprach nichts hinein. Er hielt den Kopf leicht gesenkt und die Augen halb geöffnet, doch sein Sichtfeld war eingeschränkt von dunklen Rändern gezeichnet und sein Blick verschwommen.

Er atmete schwer. „… wie…?“ Seine Hand begann zu zittern.
 

Die ganze Gestalt des jungen Telekineten sprach von Entsetzen, von Schock und Verstörung, die Omi selbst lindern musste. Er spürte, wie sich die Luft um ihn herum auflud und wusste, dass er Nagi das Telefon wegnehmen musste, da es sonst zu einer Katastrophe kommen würde.

Omi trat vor und an den Telekineten heran, umarmte diesen vorsichtig und entnahm ihm das Mobiltelefon.

„Ich übernehme“, sagte er ruhig, mit dem Ton des jungen Takatoris, dessen er so oft beschuldigt wurde. „Wer ist da?“
 

„Das könnte ich dich auch fragen“, blaffte Schuldig unfreundlich zurück, denn er hatte Probleme Nagi telepathisch zu finden. Was ihm Sorgen bereitete. Kurz darauf wurde ihm in seiner momentanen Laune bewusst, dass er den jungen Takatori am Telefon hatte.

„Tsukiyono, bist du das? Wo zum Teufel seid ihr?“
 

„Ja, bin ich, Nagi geht es nicht gut. Wir sind nicht in Tokyo… im Süden Japans, circa drei Stunden entfernt“, erwiderte Omi, sofort Schuldigs Stimme erkennend… wie konnte er auch nicht, denn der unfreundliche Ton des anderen war ihm nur zu sehr bekannt… aus sämtlichen, früheren Begegnungen.

„Was ist passiert?“
 

Schuldigs Stimme kam schleppend, überlegend.

„Hör zu Kleiner“, fing er an und ging hinaus auf die Terrasse, er brauchte frische Luft. Dort nahm er seine Zigaretten vom gemauerten Geländer und zündete sich eine an. Seine Tasse samt kaffeehaltigem Inhalt. „…am Besten ihr bleibt, wo ihr seid. Pass auf Nagi auf… er ist etwas labil was das Thema angeht…“
 

„Labil? Was ist passiert?“, fiel Omi Schuldig ins Wort, dabei seine Frage noch einmal wiederholend. Schuldig klang ernst, sehr ernst… es war doch nichts passiert, oder? ODER?
 

„Ich habe vor ein paar Minuten einen Anruf über Nagis Leitung bekommen. Scheinbar ist er nicht rangegangen. Wenn er nicht rangeht, schaltete es automatisch zu mir weiter. Ein Anruf aus dem Krankenhaus. Crawford ist heute Nacht schwer verletzt aufgefunden und dort eingeliefert worden. Über eine seiner Identitäten, die er bei sich hatte, kamen sie an die Nummer. Ich habe sie auf dem Display erkannt.“ Schuldig nahm einen Zug und inhalierte den Rauch tief. Als er zur Seite blickte, da er eine Bewegung im Augenwinkel bemerkte erkannte er, wie Ran vom Flur in den weitläufigen Wohnraum trat.

Auch wenn ihn die innerliche Angst, die Ungewissheit und die große Sorge fest im Griff hatten konnte er aus dem vertrauten Anblick von Ran, der zerzaust mit kleinen verkniffenen Augen, Morgenmantel samt herabhängenden Gürtel und Schlafanzug, Kraft schöpfen.

Er wandte sich zu Ran um und lehnte sich ans Geländer.

„Einer dieser kryptischen Quacksalber meinte, er sei nicht ansprechbar und beatmet.“
 

Sowohl Aya als auch Omi waren mit einem Mal gänzlich Ohr und ließen Schuldig ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen.

„Nicht ansprechbar? Was ist mit ihm passiert? Wer war das?“, fragte Omi und seine Stimme klang gehetzt. War es ein Anschlag der unbekannten Gruppierung gewesen mit dem Ziel, Crawford zu töten?

„Wird er überleben?“ Beatmung klang nicht gut, gar nicht gut!
 

„Weiß ich nicht. Ich weiß gar nichts.“ Ran war bei Schuldig angekommen. Er drückte die Zigarette aus und machte langsam zwei Schritte auf Ran zu, zog ihn an sich und küsste die warme Stirn.

„Ich hab den Anruf gerade erst bekommen, Kleiner und bin dabei alle zu kontaktieren und zu warnen. Ihr wart die Einzigen, die ich nicht erreicht habe, deshalb musste ich auf die altbewährte Methode zurückgreifen. Ich bin also gerade dabei Schadensbegrenzung zu betreiben.“

Schuldig hielt Ran nah an sich, seine Wange an Rans Schläfe gebettet.

„Wenn es diese Typen waren, dann haben sie heute Nacht bereits zugeschlagen und uns verschont. Falls sie es waren. Bleibt also, wo ihr seid, und haltet die Augen offen.“
 

„Wir sollen nicht nach Tokyo zurückkehren?“, fragte Omi überrascht und nicht im Geringsten überzeugt von dieser Idee. „Was, wenn unsere Teams uns brauchen? Wir können doch nicht einfach hier bleiben!“ Ein Arm hielt immer noch Kontakt zum zitternden Nagi, der absolut abwesend schien.
 

„Kontaktiere dein Team, falls es dir möglich ist und tu was sie sagen. Ich kann dir keine Order geben, Kleiner“, sagte Schuldig im Anführermodus, den er sehr sehr selten übernahm, aber durchaus - wenn es die Umstände erforderten - dazu fähig war.

„Keiner deiner Leute vermeldete ungewöhnliche Vorkommnisse - Manx keine auffälligen Aktivitäten. Genauso gut kann es sein, dass Crawford von einer der Westgruppen erwischt wurde.“
 

„Scheiße!“, fluchte Omi unterdrückt. Es konnte sein, aber wer gab ihnen die Garantie?

„Ich kümmere mich um meine Leute, werde aber mit Nagi erst einmal hier bleiben… reisen ist momentan sowieso schlecht, Flugzeug wäre sehr schlecht! Halte mich auf dem Laufenden!“

Damit legte er auf und besah sich das Handy… danach wanderte sein Blick zu Nagi, dessen ganze Gestalt nach Angst schrie.
 

o~
 

Schuldig legte auf und umarmte Ran mit beiden Armen, das Mobiltelefon krampfhaft in der Hand haltend. „Sieht nicht gut aus, Blumenkind“, murmelte er in Rans Schopf.

Dieser roch noch nach Schlaf, nach Bett und die Haare dufteten herrlich nach Rans Shampoo.

Die Augen für einen Moment schließend, presste Schuldig seine Lippen aufeinander und klammerte sich fast an Ran.

Er wähnte sich bereits im Fadenkreuz eines Gewehres, allerdings hätten sie dann schon längst angegriffen, deshalb hatte ihn eine gewisse Gleichgültigkeit, was ihren Schutz für den Moment betraf, erfasst.

Schuldig hob seinen Kopf und strich Rans Haare aus dem Gesicht, betrachtete sich selbiges ruhig. Das Meer war zu hören, die Stadt auf der anderen Seite. Der Wind hatte heute scharfe Klingen von der Meerseite her.

„Gehst du mit?“
 

„Das glaubst du doch wohl.“ Ayas Stimme war ernst. Er würde den Teufel tun und Schuldig alleine gehen lassen, wo die Gefahr, gerade jetzt angegriffen zu werden, größer war denn je.

Er fuhr mit seiner Hand langsam durch Schuldigs Haare und ließ seinen Blick durch die Wohnung streifen. Man könnte meinen, Crawford machte das extra… doch angesichts der Ernsthaftigkeit der Situation bezweifelte das selbst Ayas emotionale Seite.
 

Ein wenig wollte Schuldig noch in Rans Armen bleiben, denn er scheute sich davor ins Krankenhaus zu fahren. Es war sein absoluter Horror… Brad im Krankenhaus liegen zu sehen. Schwerverletzt. Nicht ansprechbar.

Das war schlicht und ergreifend unmöglich, nicht vorstellbar. Inakzeptabel.

„Es reicht jetzt. Was auch immer geschehen ist, aber es reicht. Ich mache das alles nicht mehr mit“, sagte Schuldig mit ruhiger Stimme nach außen getragen, doch innerlich fühlte er sich dumpf und zugleich aufgewühlt.
 

„Und was willst du machen? Ihn einsperren?“ Ein bitteres Lachen bahnte sich seinen Weg über Ayas Lippen, wurde jedoch dort gestoppt, wo es Schaden anrichten konnte.

Er grollte leise.

„Wenn er wieder bei Bewusstsein ist, werde ICH ihm den Kopf zurechtrücken.“ Er, als Außenstehender… besser als Schuldig oder Nagi, das wusste Aya. Ihm fehlte der Einblick in dieses Team… die Blindheit, die die anderen vielleicht entwickelt hatten.

Was nicht hieß, dass er Crawford nicht weniger emotional eine reinhauen würde.
 

„Kein guter Witz, Ran“, sagte Schuldig im Hinblick auf ihre Vergangenheit und löste sich langsam von Ran. „Ich… du verstehst das nicht… das ist zuvor noch nie passiert.“ Zumindest versuchte er es zu erklären, gestenreich.

„Es ist, als würde der Fuji ausbrechen. Crawford im Krankenhaus.“
 

„Der starke, unbesiegbare Anführer ist gefallen… wurde verletzt, wo er es doch sonst immer ist, der den Überblick behält.“

Aya schüttelte den Kopf. „Ich verstehe sehr wohl, wo das Problem liegt und was dich fertig macht, Schuldig.“ Seine Lippen verirrten sich an die Wange des Telepathen. Einsperren war kein guter Scherz, das stimmte, aber was sollten sie mit Crawford machen? Dieser Mann spielte verrückt und er war nicht nur Schuldig wichtig genug, dass er gleichwohl auch sein Team mit verrückt machte.
 

„Ich geh mich anziehen“, erwiderte Schuldig nach einer Erwiderung des Kusses und verließ die Terrasse.

Mit flauem Gefühl im Magen schlich er unter die Dusche und begann sich fertig zu machen.
 

Währenddessen machte ihnen Aya erst einmal Kaffee und einen kleinen Happen zu essen. Was in aller Welt war passiert? Bisher hatten sie nur die Nachricht erhalten, dass der Amerikaner schwer verletzt und bewusstlos im Krankenhaus lag und dass sich die Angehörigen bald einfinden sollten. Ihm ging es den Umständen entsprechend gut, schwebte nicht in akuter Lebensgefahr.

Ob nun Unfall oder Überfall oder etwas anderes… das wussten sie nicht.
 

Und Schuldig scheute sich davor, gedanklich ins Krankenhauspersonal einzudringen und so etwas mehr über die Lage zu erfahren. Er wollte sich nicht verrückt machen und womöglich etwas Falsches herauslesen.

Es war besser, sie gingen persönlich ins Krankenhaus.
 

Fertig geduscht und rasiert trottete er wenig motiviert ins Schlafzimmer um von dort ins Ankleidezimmer zu gehen und sich anzuziehen. Er wählte einen Anzug, ließ die ersten zwei Knöpfe offen und schlüpfte in seine Schuhe.

So ausstaffiert kehrte er zurück zu Ran in die zum Wohnraum offene Küche und setzte sich an den Tresen.

„Ich hab sowas von keinen Bock“, seufzte er aus vollem Herzen.
 

„Das weiß ich… und genau deswegen wirst du dem Amerikaner auch die Hölle heiß machen, sobald er aufwacht“, grimmte Aya und stellte Schuldig seinen Kaffee hin. Der Rest stand schon auf dem Tresen.

„Ich mache mich eben fertig.“ Er verschwand aus der Küche und duschte sich im Schnelldurchlauf, mit einem ebenso großen Unwohlsein in seiner Brust wie Schuldig auch… doch das rührte eher woanders her.

Er wollte diesen Stress nicht – noch nicht, fühlte er sich doch außerhalb der Arbeit, die er vor kurzem wieder aufgenommen hatte, nicht wirklich in der Lage, anderweitigen Stress zu kompensieren.

Fertig geduscht, die mittlerweile gefährliche nahe an seinem Hinterteil heranwachsenden Haare hochgebunden, wie er sie in der letzten Zeit gerne trug, warf er sich einen Bademantel über und entschwand ebenso ins Ankleidezimmer.

Ganz schwarz.

Danach war ihm heute. Der schwarz Tod… der Crawford ereilen würde.
 

Die Sonnenbrille thronte auf seinem Kopf, der sandfarbene Anzug mit schwarzem Hemd würde zumindest zu Rans Traueranzug passen.

„Sieht aus als gingest du auf eine Beerdigung. Du hast doch nicht vor die Maschinen heimlich abzustellen?“, klang der alte Humor durch Schuldigs Stimme, auch wenn ihm der Witz schier im Hals stecken blieb.

Ran sah sehr gut aus in dem schwarzen Aufzug - seine Lieblingslederhose plus einem schwarzen Shirt.
 

Sie hatten seit längerer Zeit keinen Sex mehr gehabt und Schuldig wollte Ran nicht bedrängen, doch er vermisste Ran… auf diese Art.

Trüben Gedanken nachhängend lümmelte Schuldig auf dem Tresen herum - einen Ellbogen aufgestützt.
 

„Doch, habe ich.“ Ernst schallte aus Ayas Mund, doch seine Augen sprachen von bösem Humor. Crawford hatte einen gnädigen Tod nicht verdient, sondern einen richtig kräftigen Tritt in den Hintern.

Er kam zu Schuldig und besah sich den anderen Mann zweifelnd. Irgendetwas war anders heute Morgen. Irgendetwas hatte sich geändert, aber wenn Aya nur darauf kommen würde, was genau…

Er nahm sich einen Kaffee und stürzte die ersten schlucke schwarz hinunter.

Dann fiel es ihm auf.

Die Stirn runzelnd kam Aya näher und vergessen war Crawford für einen Moment.

„Da sind ganz viele Sommersprossen auf deinem Gesicht… die waren da gestern noch nicht…“, stellte er zweifelnd fest.
 

Mist. Jetzt hatten sie den Salat. Oder er… hatte den Salat.

Schuldig drehte sein Gesicht weg und versenkte es schier in der Kaffeetasse, als er daraus trank.

„Kann sein. Die waren aber vorhin auf der Terrasse auch schon da“, murmelte er wenig begeistert von Rans Feststellung.

Er mochte seine Sommersprossen nicht sonderlich und bei SZ hatte er gelernt sie zu übertünchen.
 

Aya nutzte Schuldigs Trinkpause, um dessen Gesicht zu sich zu drehen und mit sanfter Gewalt festzuhalten, es gleichsam kritisch unter die Lupe zu nehmen.

„Aber ich sehe sie jetzt erst! Kommen sie immer so schnell und alle auf einmal?“ Da war Ayas Neugier geweckt, vor allen Dingen, da sie sich fast ausschließlich um die Nase tummelten um dann auf dem Rest des Gesichtes vereinzelt ihr Unwesen zu treiben.

„Wieso habe ich das früher nie bemerkt?“, runzelte Aya die Stirn. „Das hätte dein Bösen-Image sehr schnell kaputt gemacht…“
 

Schuldig ließ sich begucken und sah mit trotzigem Blick zu Ran auf. Bis sich die Miene erhellte…

„Tja~a…Make up? Getönte Tagescreme?“, auf Schuldigs Gesicht breitete sich ein Lausbubengrinsen aus, ein waschechtes!

„Hab euch alle… verarscht!“
 

Ayas Blick war alles, nur nicht intelligent.

Schuldig veräppelte ihn.

Ganz stark.

„Make-Up? DU?“ Wenngleich es möglich war… war er doch Schuldig desöfteren damals nahe genug gekommen um sie zu sehen. Ein Finger ging mutig auf Wanderschaft und fing an zu zählen. „Glaube ich dir nicht!“, murmelte Aya währenddessen.
 

„Naja… im Winter sind sie eben heller“, Schuldig fing Rans Finger ein, gab einen Kuss darauf und schnappte sich eines der von Ran gezauberten Frühstückshäppchen.

„Und im Sommer haben wir uns selten am Tag getroffen, eigentlich so gut wie gar nicht.“
 

„Ich war noch nicht fertig…“, grollte Aya und stahl sich von Schuldig besagtem Häppchen. Es war ja nicht so, als wäre nicht noch genug da.

Nein.

„Unverschämtheit. Wenngleich es mich damals den Kopf gekostet hätte… dir zu lange ins Gesicht zu starren und den Kampf zu vergessen. Aber wie gut, dass ich jetzt alle Zeit der Welt dazu habe!“
 

„Ja… du kannst sie ja später zählen“, gab Schuldig unbestimmt zurück, lächelte ein wenig mager. Er fragte sich tatsächlich in diesem Moment ob sie auch wirklich alle Zeit der Welt dazu hatten und vor allem, wann Ran diese Zeit endlich wieder nutzen würde, um mit ihm zu schlafen. Er kam sich langsam sehr vernachlässigt vor.
 

„Hast du auch an anderen Stellen deines Körpers Sommersprossen?“, fragte Aya, als hätte er die Gedanken des anderen gelesen… was er definitiv nicht konnte. Doch hinter seiner Frage steckte eine Absicht, die er in den letzten paar Wochen nicht gehabt hatte.
 

„Du kannst ja nachsehen“, zwinkerte Schuldig herausfordernd.

„Doch jetzt sollten wir langsam los. Willst du nicht noch etwas essen?“
 

„Ich sehe heute Abend nach…“, erwiderte Aya und es klang wie ein Versprechen, wenngleich Aya sich nicht gänzlich sicher war. Die letzten Tage und Wochen hatte er in der Sicherheit des Verhülltseins geschwelgt, der Nähe, aber auch Distanz zu dem anderen Mann. Er hatte das Gefühl genossen, zu jeder Tageszeit angezogen zu sein, zu jeder Tageszeit eine Grenze zwischen sich, seiner absoluten Privatsphäre und den anderen zu haben.

Ja, auch Schuldig zählte in diesem Moment zu den anderen, auch wenn der Telepath ihm wesentlich näher als alle anderen war. Doch soweit er sich an die Zeit „davor“ erinnerte, hatte er seine eigene Zurückhaltung zugunsten seiner Verwirrung aufgegeben und hatte sich in einer Weise entblößt, die er sich sonst niemals gestattet hätte.

Doch die Zeit der körperlichen Distanz sollte nun vorbei sein, er wollte, dass sie vorbei war und war bereit, Schuldig wieder gänzlich an sich zu spüren, nicht nur in der von ihm ständig gesuchten partiellen Nähe.

Aya spürte, dass auch Schuldigs Geduld, seine Akzeptanz sich langsam dem Ende neigte… und dass er selbst nicht mehr so weitermachen konnte, selbst wenn er es wirklich gewollt hätte.

Das hatte er gerade an Schuldigs Gesichtsausdruck gesehen, an der Erleichterung in dessen Augen.

Aya hätte noch warten können, doch letzten Endes machte es keinen Unterschied. Er wollte Schuldig glücklich machen.

Er schob sich noch ein kleines Häppchen zwischen die Lippen und küsste Schuldig anschließend auf dessen Schopf.

„Auf zum Gang nach Canossa.“
 

Schuldig erhob sich. „Ich habe nicht vor mich vor Brads Bett auf die Knie zu werfen und ihn um Vergebung zu bitten“, meckerte Schuldig wegen Rans letzten Worten und des sprichwörtlichen, aber historischen Vergleichs.
 

o~
 

Es sah nicht gut aus um den darniedergestreckten Amerikaner… Schuldig hatte einen der herumschwirrenden Ärzte dazu gebracht, ihnen Auskunft über den Zustand des Orakels zu geben und der sah noch schlechter aus als die bewusstlose Gestalt.

Zwei Rippen waren gebrochen, ebenso wie ein Schulterblatt und er hatte einen Schuss in die Flanke bekommen. Das klang verdammt nach einem Überfall.

Aya war froh um die kleine Waffe in seinem rechten Stiefel… zum einen und zum anderen für den Dolch im linken.

Sie hatten viel Schmerzmittel gebraucht und noch war er schutzbeatmet, da sie noch nicht alle Untersuchungen hatten machen können. Sie vermuteten, dass alles in Ordnung war, doch eine Computertomographie stand noch aus.
 

„Er wird wieder werden“, sagte Aya mit einem Zähnknirschen, das man nicht überhören konnte. Verdammter Dreckskerl!
 

Schuldig stand nun mitsamt einer weiblichen Pflegeperson in dem Intensivzimmer. „Der Beatmungsschlauch kann sicher bald entfernt werden.“ Sie lächelte sie zuversichtlich an. „Gehen sie ruhig näher, wenn sie ihn ansprechen, dürfte er wach sein. Er atmet selbst und braucht nur wenig Unterstützung vom Beatmungsgerät.“

Schuldig nickte und mimte den ruhigen, aber besorgen Stiefbruder.
 

„Ich lasse Sie jetzt alleine. Seien Sie unbesorgt, wenn etwas alarmiert, wir sehen dies sofort in der Zentrale.“ Die Schwester ging und ließ sie alleine.

Schuldig stand noch immer drei Schritte vom Bett entfernt und starrte auf die Gestalt Brads. Er konnte nicht näher gehen. Keinen Schritt. Keinen einzigen verdammten Schritt. Durch die dünne Decke, die ihm bis zur Brust gezogen war, konnte man die Silhouette Brads darunter erkennen.
 

Schuldig spielte einige Szenarien im Kopf ab. Angenommen, er würde näher gehen und Brad ansprechen, mit ihm in Gedanken kommunizieren… NEIN. Das ging nicht.

Er konnte nicht mit Brad in Kontakt treten. Brad würde sich aufregen.

Oder war Schuldig selbst nur feige?
 

Doch Aya konnte und würde Schuldig hier nicht helfen… es ging nicht. Diesen Gang musste Schuldig alleine machen, dieser Mann hier war Schuldigs rotes Tuch.

Seines auch, aber nicht sein Wirkungskreis. Schuldig und Crawford empfanden mehr füreinander, er hegte keinerlei Gefühle für den Amerikaner.

Doch eine Hand fand trotz allem verstohlen den Weg an Schuldigs Flanke und munterte ihn auf, näher zu treten.
 

Für Schuldig war das eher ein Signal den Raum zu verlassen. Er ging einen Schritt zurück und strebte die Tür an, verließ die Station mit der Bemerkung an die Schwester, dass er zu einem späteren Zeitpunkt wieder mit dem Arzt in Kontakt treten würde, oder vorbei kommen würde.

Kurz darauf hatte er die Station verlassen. Er musste raus hier. Dringend.

Brad dort liegen zu sehen bedeutete für ihn die Katastrophe. Brad war für sie drei der Halt, ihr Anker und ihr Leitfaden in die Zukunft. Ohne Brad Crawford gab es keine Zukunft mehr für sie.
 

Die Präsenz des anderen Mannes fehlte plötzlich an Ayas Seite und ließ ihn vor dem großen Problem Crawford stehen.

Doch Aya verstand Schuldig, verstand dessen Drang zur Flucht. Er würde ihn gleich suchen… gleich… doch er brauchte noch Antworten.

Antworten, die er nur auf eine Art und Weise bekommen würde. Auf eine langsame… qualvolle… soweit es ihm überhaupt möglich war, mit dem darniedergestreckten Amerikaner zu kommunizieren.

Aya trat einen Schritt näher, noch einen, bis er ganz am Rand stand.

„Bist du wach?“
 

Brad schlief und hörte zwar Stimmen, die er kannte und dann wieder nicht kannte. Er ahnte was passiert war, genaueres jedoch entzog sich seiner Kenntnis.

Was er fürchtete, war das Alleinsein im Augenblick. Die Hilflosigkeit, in der er gefangen war. Er war an den Handgelenken fixiert und jeder, der in dieses Zimmer kam könnte ihn töten.
 

Keine Reaktion.

Es war eher Instinkt, der Aya eine von Crawfords Händen berühren ließ, die an das Bett gebunden waren und den Eindruck der Verletzlichkeit um ein Vielfaches verstärkten. Wie oft hätte Aya in der Vergangenheit beinahe alles dafür gegeben, diesen Moment zu erleben, Brad Crawford verletzt und seiner Gnade ausgeliefert? Doch nun... nun war da nichts außer... Sorge. Ja, es war Sorge, die er zu seiner Wut nun auch noch empfand.

„Crawford, bist du wach?“, wiederholte er lauter und eindringlicher.
 

Brads Hand umschloss bewusst die, die seine berührte. Er nickte langsam, konnte jedoch nicht die Augen öffnen. Sie waren viel zu schwer, er versuchte es, doch es blieb dabei.

Seine Atemfrequenz beschleunigte sich etwas und er wurde etwas unruhiger. Seine Gedanken gingen wild durcheinander, doch es beruhigte ihn, die Hand in seiner zu wissen. War das… Fujimiya? Wo war Schuldig? Nagi… Jei?
 

Alleine diese Hilfe suchende Geste, dieses Greifen nach seiner Hand, die soviel Vertrauen und Verzweiflung barg, ließ Aya für einen Moment seine Wut auf das Orakel vergessen.

„Ganz ruhig, ich bin es, Aya. Lass dir Zeit, du bist hier im Krankenhaus… in Sicherheit. Allen anderen geht es gut.“

Er hätte dieses Gespräch gerne mit seiner Schwester geführt… schoss es Aya durch den Kopf.
 

Brads Stirnrunzeln drückte Sorge und Unsicherheit aus. Er versuchte zu sprechen, doch der Schlauch in seinem Hals hinderte ihn daran.

Allen anderen ging es gut… diese Worte beruhigten ihn und sein Griff wurde etwas weniger dringlicher.
 

„Nicht sprechen, du wirst noch ein wenig unterstützt beim Atmen… wirst aber bald wieder ohne das Gerät atmen können.“

Aya erwiderte die Eindringlichkeit des Händedrucks und seine zweite Hand kam zur ersten. „Nagi ist in Sicherheit, ihm geht es gut, Schuldig auch, wir sind zusammen hierhin gefahren, Jei geht es auch gut.“ Dachte er sich… er glaubte zumindest nicht, dass der Ire tot war.

„War es ein Überfall? Du brauchst einfach nur zu nicken oder mit dem Kopf zu schütteln.“
 

Brad wusste es nicht mehr wirklich. Er konnte sich erinnern, dass er etwas… vorgehabt hatte und dass er sich mit jemandem treffen wollte. Ein Auftrag?

Er schüttelte den Kopf. Sicher war er sich nicht, aber was sollte er antworten?
 

„In Ordnung…“

Kein Überfall? Das beruhigte Aya auf der einen Seite, auf der anderen ließ es jedoch nur einen Verdacht zu… dass Crawford Aufträge ohne Schwarz tätigte, die momentan inaktiv waren.

Warum zum Teufel, wenn seine Visionen ihn vermutlich nicht warnten?

„Hast du einen Auftrag erledigt?“
 

Hatte er das? Er war sich nicht sicher. Aber er konnte sich daran erinnern, ähnliches geplant zu haben. Aufgrund dieser Unsicherheit versuchte er die Arme zu bewegen, doch er scheiterte an der ihm auferlegten Fixierung.
 

Das war keine Antwort gewesen… doch Aya braucht in diesem Moment auch keine. Er stillte beide Arme, indem er seine Hände auf die des Amerikaners legte, dadurch noch näher an Crawford war.

Der andere Mann sah schlimm aus… Schnitte überall im Gesicht, Hämatome… die Wangen eingefallen und Ringe über den Augen.

„Sie werden die Fixierungen bald lösen… wenn es dir besser geht.“
 

Es dauerte bis Brad sich aufgrund der eindringlichen Stimme beruhigte und die Worte in ihn dringen ließ.

Er wusste selbst jetzt, dass er nicht ungeduldig werden durfte.
 

„Willst du wissen, was passiert ist?“, fragte Aya leise und löste sich von beiden Händen um wieder eine zu umsorgen. „Was die anderen genau machen?“
 

Brad nickte. Er machte sich in dieser Ungewissheit Sorgen um ihrer aller Sicherheit und er verdammte sich, dass er derart zur Untätigkeit gezwungen war.
 

„Schuldig geht es gut… er ruht sich momentan aus, macht viel mit Banshee… er liebt sie abgöttisch. Ansonsten macht er wenig. Nagi ist mit Omi im Urlaub… sie sind für ein paar Tage weggeflogen und lassen es sich gut gehen und kommen in zwei oder drei Tagen zurück. Jei geht es sicherlich auch gut… zumindest hätte Schuldig gesagt, wenn es ihm nicht gut gehen würde! Und Schuldig spielt den ganzen Tag Playstation… anscheinend hat er nichts Besseres zu tun.“ Aya lächelte.
 

Brad ließ sich von den Worten beruhigen und seine Atemzüge reduzierten sich, er entspannte sich ein wenig. So weit es seine Nerven zuließen und soweit er Unterstützung durch die minimale Dosierung der Sedierung bekam.

Er drückte die Hand die seine hielt.
 

„Besonders Nagi geht es gut. Omi kümmert sich gerade um ihn… er taut auf. Omi tut ihm gut. Und du würdest Schuldig gut tun, wenn du wieder gesund bist… er macht sich Sorgen um dich.“ Dass Schuldig sauer war, verschwieg… das musste Crawford erst wissen, wenn es ihm besser ging.
 

Wie stets war es auch jetzt so, dass Brad zu diesem Thema den Kopf schüttelte. Er verneinte die Aussagen Rans. Sowohl die was Nagi als auch die was Schuldig und ihn anging.
 

Danach lag er still und fiel wieder in den oberflächlichen Zustand der dem schlafen ähnelte.
 

Wenig später kam dann die betreuende Schwester herein. "Ich möchte Sie jetzt bitten zu gehen, wir müssen bald zur Untersuchung fahren und es sind noch einige Vorkehrungen nötig."
 

Die letzten Minuten in schweigender Eintracht mit dem danieder liegenden Mann verbracht, sah Aya nun auf und in die Augen der Schwester. Er nickte und löste sich vorsichtig von dem schlafenden Mann, der seit geraumer Zeit kein Geräusch mehr von sich gegeben hatte und dessen Gestalt entspannter schien als zuvor.

Eigentlich entspannter, als er ihn jemals in seinem Leben gesehen hatte. Crawfords Gesichtszüge waren gelöst und kein strenger oder spöttischer Zug spielte um seine Lippen, sondern er war einfach... er. Das war Brad hinter dem großen, bösen Crawford, auch nur ein Mensch, der blutete, der verletzbar war und der sich verzweifelt darum bemühte zu leben.

Zumindest jetzt, denn ein Teil in Aya fand es sehr schade, dass der Amerikaner zum Ungeheuer zurückkehren würde, das er aller Welt präsentierte.

Schweigend verabschiedete er sich aus dem Raum und betrat den Flur. Von Schuldig war weit und breit nichts zu sehen… rein gar nichts. Vermutlich war der Telepath draußen.
 

Genau dort fand er ihn auch und Aya fragte sich, was mit seiner Wut war, die er anfangs auf den Amerikaner gehabt hatte. Es konnte doch nicht sein, dass er alleine bei dieser simplen Geste des Orakels, seine Hand zu greifen und sich daran festzuklammern wie ein kleines Kind, alles vergaß, was sich in den letzten Wochen gegen den anderen Mann aufgestaut hatte.

Nein.

Es war zum Einen das Band, das sich zwischen ihnen während Schuldigs Abwesenheit gebildet hatte. Diese menschliche Seite, die er an dem Orakel gesehen hatte. Zum anderen war es die Verletzlichkeit, auf die er ansprach. Mal sehen, wie es war, wenn Crawford aus seinem beinahe komatösen Schlaf wieder erwachte und der Alte wurde.
 

„Hey“, sagte er leise und kam zu Schuldig, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben. „Es geht ihm soweit gut…“
 

Was auch den Tatsachen entsprach.
 

Schuldig saß auf einer Bank und rauchte, obwohl er es an diesem Platz nicht durfte, aber das war ihm herzlich egal. Er hatte seinen neuerlich aufgebrandeten Zigarettenkonsum ohnehin schon wieder eingeschränkt und rauchte nurmehr eine oder maximal zwei Zigaretten am Tag. Doch jetzt war eine fällig. Wenn nicht sogar zwei.
 

Dass seine Hand sich in ihrem Zittern, als er aus der Klinik gekommen war, nicht hatte beruhigen lassen, war ihm erst beim Rauchen einer Zigarette aufgefallen.
 

Düster starrte Schuldig vor sich hin, während um ihn herum die Menschen in die Klinik strebten oder aus ihr heraus.
 

Aya stellte sich vor Schuldig, lehnte sich zu ihm hinunter, sodass er die volle Aufmerksamkeit des Telepathen genoss.

„Du bist vor ihm geflohen. Warum?“
 

Schuldigs Gesicht blieb nach unten gerichtet, seine Augen jedoch schraubten sich zu Ran hoch, was seinem Blick eine gewisse Unheimlichkeit verlieh. Aber davon bekam er nur wenig mit, denn seine Gedanken waren durcheinander.

Er schloss seine Augen und klärte seinen Blick, sah wieder auf seine Hände, die die Zigarette hielten. „Ihn so zu sehen, bedeutet, dass wir auseinander brechen. Brad ist unser Halt. Ich… ich habe alles zerstört.“ Schuldig setzte sich auf und verbarg sein Gesicht in seinen Händen, die Zigarette viel unbeachtet auf den Boden. „Das ist alles meine Schuld.“
 

Das Stimmengewirr der Menschen, die Vögel die im Wettstreit zwitscherten, all das schien ihm so surreal. So weit weg von der Schwärze, die ihn zu befallen drohte.
 

„Warum ist es deine Schuld?“, fragte Aya nach und ging vor Schuldig in die Hocke.

In diesem Augenblick sah man jeglichen Gedanken, der dem Telepathen durch den Kopf ging und auch, dass es kein guter war.

Aya drückte die Zigarette aus, um Schuldig nicht zu berühren. Er wollte es, doch es waren zu viele Leute um sie herum… und Aya war nie jemand gewesen, der in der Öffentlichkeit große Nähe gezeigt hatte.
 

„Weil ich mich von der Gruppe entfernt habe. Ich… ich habe ihn im Stich gelassen und deshalb… deshalb sind wir jetzt an diesem Punkt. Brad…“ Schuldig wusste um den Umstand, dass Brad keine Voraussicht mehr hatte. Dass er nur mehr überlagerte Visionen hatte. Schuldigs Tod überlagerte diese Voraussicht, die für Brad die Lebensversicherung war.
 

„Du hast dich nicht von der Gruppe entfernt. Du bist immer noch ein Teil von Schwarz, ein wichtiger Teil. Er ist es, der sich von euch entfernt hat… wenn überhaupt. Er konnte nicht damit umgehen, dich nicht für sich zu haben.“

Aya seufzte und verschränkte seine Arme. Das Leder seiner Hose knirschte dabei.
 

„Ich weiß nicht“, sagte Schuldig leise und angeschlagen. „Ich weiß gar nichts mehr. Er ist nicht der Böse hier. Er hätte mich jederzeit haben können, aber er hat dagegen entschieden. Er wollte mich nicht zum Preis der Erinnerung an Kitamura. Ist das nicht edelmütig?“ Schuldig schüttelte den Kopf.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist einfach zu viel.“ Sein Gesicht war von Sorge geprägt, von beginnender Verzweiflung.

Wieder bettete er die Stirn in die Hände. Er wollte weg von hier, aber sie mussten noch auf Jei warten.
 

Crawford hätte Schuldig haben können? Ja… Aya wusste das, aber es jagte ihm immer noch einen Stich an leiser Eifersucht durch seine Gedanken, eben weil er wusste, dass die beiden eine längere Vergangenheit teilten.

„Willst du ihn, Schuldig?“, fragte Aya ruhig. „Willst du, dass ihr euch näher seid als jetzt?“
 

„Nein!“

Schuldig riss sich die Hände vom Gesicht und Tränen standen in seinen Augen, allerdings verschwanden diese auch so schnell wie sie gekommen waren.

„Nein, verdammt, darum geht es nicht. Ich will, dass er lebt, dass er nicht in diesem Scheiß Krankenhaus liegt und keinen Schutz hat. Ich will, dass er nicht so hilflos ist. Er war nie hilflos. Nie. Ich bin nicht gut darin, auf jemanden aufzupassen. Das ist sein Job, verdammt.“
 

„Ja, ist es. Und wenn er erst einmal aus diesem Krankenhaus wieder entlassen wird, werden wir ihn schon dazu bringen, seine Verantwortung wieder zu übernehmen.“

Ayas Hand wanderte kurz zu Schuldig und drückte diese.

„Ja, wir. Du bist nicht alleine, Schuldig. Du hast mich und ich unterstütze dich dabei.“ Er wollte diese Tränen nicht in den grünen, verzweifelten Augen sehen, er wollte sehen, dass diese Augen lachten… wieder lachten und glücklich waren.

„Er ist nicht tot, Schuldig, er ist in der Lage zu kommunizieren und er wird vermutlich vollkommen genesen.“
 

„Aber was ist das nächste Ma…“ Schuldig verstummte und er lachte auf, allerdings war es kein glückliches Lachen. Eher ein kummervolles. „Ich höre mich an wie du…“
 

Aya spiegelte das unglückliche Lachen mit einem schmalen Lächeln.

„Ja, das tust du, aber es wird kein nächstes Mal geben, das weiß ich. Zumindest werde ich dafür sorgen.“

Er hatte auch schon eine sehr gute Idee, wie er dafür sorgen würde und wie eindrücklich die Spuren bei diesem verdammten Amerikaner wirken würden.
 

„Das hört sich schmerzhaft an für… Brad“, sagte Schuldig und beruhigte sich ein wenig, atmete tief ein. „Sei nicht zu grob“, mahnte er, wenn auch halbherzig. „Du weißt ja… die wichtigen Teile verschonen.“ Das brachte Schuldig nun wieder ein übliches gemeines Lächeln aufs Gesicht.
 

Das sah doch schon mal besser aus, befand Aya und nickte. „Kommt darauf an, was du unter wichtig bezeichnest. Den verbalen Tritt in seine Eier bekommt er gratis, den körperlichen gleich mit dazu. Er hat es nicht besser verdient, aber überlass das ruhig mir.“

Schuldig glaubte ihm nicht, hielt das für einen Spaß, das wusste Aya, doch er meinte es bitterernst. Hier musste sich etwas ändern, und wenn es der Amerikaner war.
 

Wenn er sich da mal nicht verschätzte. „Ran… egal, was du tust, und ich traue dir durchaus zu, DASS du es tust: Keine wichtigen Teile, nicht ins Gesicht und nicht in die Eier. Ja?“ Schuldig lächelte honigsüß.
 

„Ich werde mich bemühen.“ Aya lächelte kurz und erhob sich. Schuldig hatte beide Teile der Crawfordschen Anatomie also noch für weitere Vorgänge verplant?

„Wollen wir? Oder willst du noch zu ihm hinein?“ Wohl eher nicht, wenn er sich den Widerwillen in der Gestalt des anderen Mannes ansah.
 

„Wenn du willst kannst du schon vorgehen. Ich weiß nicht, wann Jei auftaucht, will aber auf ihn warten, okay? Oder hast du Lust noch shoppen zu gehen? Es bringt jetzt ohnehin nichts, Panik zu schieben. Die Kleinen sind in Sicherheit, Jei ist unterwegs und Brad momentan durch uns abgesichert.“
 

„Nein, ich warte mit dir. Zu zweit ist es sicherer als alleine.“

Aya ließ sich neben Schuldig auf die Parkbank nieder und verschränkte die Arme. „Danach können wir immer noch einkaufen. Wir bräuchten sowieso noch gewisse Dinge, die uns abhanden gekommen sind und die wir noch nicht nachgekauft haben.“
 

Schuldig grübelte einige Minuten darüber nach bis ihm ein Licht aufging. „Ah… du meinst die Spielzeugsammlung?“
 

„Genau die. Wir sollten variieren… uns neue Modelle anschaffen.“ Ayas Blick schweifte über die Leute zum Krankenhauseingang.
 

Schuldigs Miene spiegelte ehrliches Interesse wieder. „Du meinst wie vor ein paar Wochen, als wir uns neue Möbel gekauft haben? Möchtest du im Laden auch alles erst einmal durchprobieren? Ginge sicher“, meinte er lapidar.

„Schließlich… kann man ja nicht die Katze im…Sack kaufen.“
 

„Vor allen Dingen die nicht“, bekam Schuldig mit einem schiefen Seitenblick als Antwort. „Du würdest es sogar noch möglich machen, dass wir die Sachen ausprobieren… aber nicht im Laden. Es reicht, wenn wir sie zuhause austesten.“

Aya dachte über ein paar Dinge nach, die er in den letzten Tagen nachgelesen hatte. Dachte auch an die Fesseln, die er in der Hand gehalten hatte und die ihn immer noch anwiderten. Bei Youji war zwar auch Unwillen und Vorsicht mit dabei gewesen, doch diese Angst, die er nun empfand, wollte er loswerden. Konfrontationstherapie? Aya wusste es nicht und hielt es kaum für klug. Es wäre das erste Mal seit langer Zeit und wenn er nun völlig ausflippte, würde sich Schuldig vermutlich nie wieder an ihn herantrauen. Nein... besser, damit warteten sie noch etwas.
 

„Wir könnten aber auch eine kleine Bestellrunde einlegen… ich weiß auch schon wie.“ Schuldig war hellauf begeistert von seiner Idee. „Nachher im Arbeitszimmer können wir die Sachen gleich einmal begutachten. Wir shoppen ne Runde im Internet und bei den Toys, die uns anmachen - ist ja sofort zu sehen - stoppen wir dann und die werden dann gekauft!“
 

„Und wie lange brauchen sie dann, bis wir sie haben? Wenn wir sie heute kaufen, können wir sie auch gleich mitnehmen. Oder willst du noch eine Woche darauf warten?“

Aya runzelte die Stirn.
 

„Guter Einwand. 24 Stunden Service? Wobei es sicher unterhaltsam wäre… in den Shop zu gehen“, wurde Schuldig nachdenklicher und in ihm wirbelten die interessantesten Ideen herum.

„Ich bin für den Shop!“, kam er dann zum Resultat. Eine gelungene Abwechslung zum gegenwärtigen Anlass und dem dazugehörigen Ort.
 

„Sehr unterhaltsam wird es werden… ja.“ Ayas Blick wanderte skeptisch in Schuldigs Richtung. Schuldig plante irgendetwas, das wusste Aya, doch was sollte er machen? Er hatte es ja selbst vorgeschlagen… und es würde Schuldig auf andere Gedanken bringen.
 

„Du opferst dich für meine gute Laune?“ Schuldig hatte den Blick gedeutet und Ran ahnte was ihm blühte, aber er ging dennoch darauf ein… ein eindeutiges Indiz dafür, dass Ran den Samariter spielte und seinen Körper verkaufte… Schuldig fand Gefallen an der Masche.
 

„Nicht wirklich.“ Aya überlegte. „Auch. Ich will ja schließlich ebenso meinen Spaß. Und ich will Spaß mit dir… ich weiß, dass du mich willst. Ich will dich auch… dieses Mal wirklich. Ich möchte wieder mit dir schlafen, Schuldig.“ Ayas Stimme war ernst, genauso wie sein Blick auch. Ein wunderbares Thema war es, mitten in der Öffentlichkeit, wo andere sie hören konnten. Doch irgendwie war es Aya auch egal.
 

Schuldig lehnte sich auf der Bank zurück und breitete die Arme auf der Lehne aus, blickte in die Runde, bis er wie beiläufig bei Ran ankam.

„Das klingt, als hättest du es dir fest vorgenommen und im Kalender rot angestrichen.“
 

„Was wäre so schlimm, wenn?“ Auch Ayas Blick wanderte zu den grünen Iriden und seine roten Augenbrauen hoben sich. „Momentan brauche ich klare Linien, warum soll das nicht dazu gehören?“
 

Den Kopf aufseufzend und wirklich kapitulierend in den Nacken legend öffnete Schuldig die klaren grünen Augen gen Himmel und fragte sich gerade, ob Ran das wirklich eben gesagt hatte.

Er hatte ihm jetzt nicht gerade offenbart, dass er den Sex planen wollte, oder? Er schwieg für lange Momente, schüttelte dann den Kopf und richtete sich wieder etwas auf.

„Ich habe gewartet und ich akzeptiere deine Unlust dem Sex mit mir gegenüber, Ran. Ich verstehe es nicht ganz, aber ich akzeptiere es. Du kannst vor mir aus alles planen, aber das nicht.“ Schuldigs Stimme nahm einen unterschwellig verständnislosen Tonfall an. „Wie kannst du etwas planen, dass für uns beide immer mit Leidenschaft und Spontaneität begonnen hat? Wenn es keinen Sinn und keinen Zweck hat, sondern nur zum Protokoll dazugehört, dann können wir es ebenso gut lassen.“

Schuldig erhob sich, deutlich verstimmt, aber nicht so sehr, dass er wütend geworden wäre. „Ich möchte nicht mit dir schlafen, nur weil es auf der Tagesordnung steht, damit ich zufrieden bin, dann kann ich mir gleich einen runter holen. Solange du keine Lust auf mich hast, können wir es wirklich bleiben lassen.“

Wenn das ein Dauerzustand bleiben sollte… dann würde Schuldig durchdrehen und ihre Beziehung wäre zu Ende. Ohne Sex konnte Schuldig nicht mit Ran zusammen sein, wenn dieser ihm Sex verweigern oder nicht mit der gleichen Leidenschaft dabei sein würde… es wäre eine Katastrophe.
 

„Du hast mich nicht verstanden.“

Aya sah zu Schuldig hoch, immer noch ruhig und verschränkte die Arme, als Schutz vor dieser Situation. Vielleicht war es doch eine absolut falsche Idee gewesen, hier in aller Öffentlichkeit darüber zu sprechen, denn mit einem Mal fühlte sich Aya mehr und mehr entblößt.

Er fühlte sich nicht gefestigt, besonders nicht nach der letzten Zeit und versuchte so, seinen Weg zu seiner eigenen Sexualität zurück zu finden. Doch Schuldig schien da anders darüber zu denken.

„Ich habe es heute nicht geplant, um dich alleine zu befriedigen, sondern um selbst zu unseren alten Sexleben zurück zu finden. Damit es schließlich wieder spontan wird… ich muss wieder einen Anfang finden.“
 

Schuldig bemerkte diese Schutzhaltung und sein Blick - der zuvor Unverständnis und beginnenden Unmut gezeigt hatte, wurde weicher. Rans Augen fanden zwar seine, doch der Blick flirrte, als würde Ran jeden Moment wegsehen wollen. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, nachdem er aufgestanden war und holte sie jetzt hervor sich wieder niedersetzend. Nahe an Ran, eine der Hände nehmend und dessen Haltung somit auflösend. „Dann finden wir den Anfang gemeinsam, planen hilft da gar nichts.“

Er hatte nur Angst, dass Ran keine Lust mehr auf ihn hatte, was nicht nur seinem Ego einen herben Schaden zufügen, sondern was ihn sehr aus dem Gleichgewicht bringen würde.
 

Ayas Haltung war immer noch verkrampft, angespannt, und das nicht nur, weil sie gerade in der Öffentlichkeit Nähe zeigten und über absolute Nähe sprachen.

„Dir hilft planen nicht, das weiß ich, aber ich muss es mir vornehmen, um dir wieder nahe zu sein und nicht in alte Verhaltensmuster zurück zu fallen, wie ich sie in Weiß’ Anfangszeit hatte.“ Ayas Blick schweifte nachdenklich über die Menschen, die ihren Weg kreuzten.

„Ich fange neu an…“

Es war schwer, darüber zu sprechen, da er solche Dinge früher ausschließlich mit sich selbst ausgemacht hatte.

Seine Augen sanken hinab zu ihren Händen, die verbundenen und seine Haltung sackte etwas in sich zusammen.
 

„Entspann dich, Ran.“ Schuldig wandte Ran sein Gesicht zu und schenkte ihm ein waschechtes Lausbubengrinsen. „Die erinnern sich ohnehin nicht mehr an uns. Selbst wenn ich mich nackt ausziehe und Pogo tanze.“ Er wackelte zur Bekräftigung seines Argumentes mit den Augenbrauen und grinste verschmitzt.
 

Das brachte Aya nun doch zum Lachen.

„Ich vergaß…“ Wie so vieles vergaß er die kleinen Details, wenn er mit Schuldig unterwegs war, weil sie einfach schon Alltag waren.

„Wenngleich es eine interessante Aussicht wäre.“ Aya lehnte sich auf der Bank zurück und atmete langsam aus, atmete ein Stück der Anspannung hinaus.

Seine Augen begegneten denen des anderen und er lächelte tatsächlich.
 

Mit diesem Lächeln gefiel ihm Ran schon gleich viel besser.

„Schon klar“, meinte Schuldig wenig überrascht und senkte seine Augen auf Halbmast. „Mich zum Affen zu machen, um dir Unterhaltung zu bieten, ist eine meiner leichtesten Übungen!“, behauptete er siegessicher mit einer Spur Spott.

Er überlegte einen Moment… „Was hältst du davon, wenn wir shoppen gehen, danach etwas zum Essen nach Hause mitnehmen und uns einen gemütlichen Abend machen?“ Er blickte zum Krankenhaus hin. „Es nützt nichts, wenn ich mir den Kopf über ihn zerbreche, das zieht mich nur mehr runter.“
 

„Du kannst ihn aber nicht einfach so aus deinen Gedanken streichen… es sei denn, ich helfe dir dabei. Wie wäre es, ich lasse dich heute Abend sogar Playstation spielen?“

Aya überlegte einen Moment. „Shoppen ist dein neues Lieblingswort. Hast du dich mit Youji unterhalten… er benutzt es auch immer. Shoppen. Das klingt nach Kaufsucht.“

Ayas Stimme war nachdenklich, aber dennoch auch mit Humor getränkt.
 

„Mit diesem… Pseudo-Dressman? Niemals. Never ever.“ Schuldig gab sich pikiert und verschränkte die Arme natürlich mit Rans Hand in seiner, was diesen dazu brachte sich halb an ihn zu lehnen und was Schuldig dazu nutzte um Ran einen kleinen Kuss auf die verblüfften Lippen zu platzieren.
 

Die Lippen waren wirklich verblüfft und Ayas erste Reaktion war es, aus Instinkt zurück zu weichen, wenigstens einen Millimeter, was er mit einem Grollen überspielte.

"Doch, der Pseudodressman. Ihr seid euch gar nicht mal so unähnlich, wirklich nicht. Ihr habt teilweise sogar die gleiche Gestik und Mimik."
 

Schuldigs Züge entglitten ihm ein wenig, bevor er Ran fester an sich zog und knurrte. „Sag noch einmal so etwas Ungezogenes und ich leg dich daheim übers Knie.“

Fast im gleichen Augenblick spürte er die Signatur von Jei.
 

Solange es nur zuhause war und nicht hier..., schoss es Aya durch den Kopf, als er mit menschlichen Augen erfasste, was Schuldig zuvor mit telepathischen wahrgenommen hatte.

Seine Finger gruben sich in Schuldigs Oberschenkel, bevor er sich mit bestimmter, aber wohl kalkulierter Gewalt von Schuldig löste.
 

„Ein wenig sanfter, Cherie und ein weniger weiter in die Mitte und du hast dein Ziel gefunden!“, zirpte Schuldig ganz der versaute Schuljunge, der er im Inneren war, bevor er sich zu Jei umwandte, diesem in einiger Entfernung zunickte und ihm kurz telepathisch einwies.

Nach einigen Minuten erhob er sich. „Wir können gehen, Jei übernimmt.“
 

Aya nickte Jei zu und erhob sich ebenso wie Schuldig. Er steckte seine Hände in die Taschen und bedachte Schuldig mit einem dunklem Blick. Cherie.

Er würde Schuldig helfen.

Cherie.

Wenn sie Zuhause waren.

Ziel gefunden…

„Gehen wir.“ Und wie es wie eine Drohung klang.
 

Schuldig lachte leise, dafür aber dunkel in sich hinein und folgte Ran. Er suggerierte den Schwestern und Ärzten mittels Telepathie, dass Jei ein sehr naher Verwandter von Brad war um diesem die Zugangsberechtigung zu erteilen und gab ihm noch allerlei andere Instruktionen, bevor sie sich vom Klinikgelände machten.

Sie sprachen wenig, sehr wenig auf dem Weg zum Wagen und auf dem Weg nach Hause. Die Drohung… die unterschwellige… lag gewichtig in der Luft.

Und Schuldig freute sich irgendwie darauf, Ran zu triezen.
 

Und Aya freute sich darauf, Schuldig für dieses Getrieze zu bestrafen...wie er es immer tat.

Er saß in dem bequemen Ledersitz ihres Stadtwagens und hatte die Augen geschlossen, sinnierte durch, was passieren konnte und würde.

Trotz aller Planung freute er sich auf das, was überraschend kommen könnte, was Schuldig mit ihm machte… es war also doch noch nicht alles gestorben…

Ayas Augen öffneten sich ruckartig.

„Wir müssen noch einkaufen!“, kam es plötzlich und leicht panisch.
 

Schuldig konnte diese herausklingende „Dringlichkeit“ nicht ganz deuten. Zumindest piesackte ihn eine innere Stimme damit, dass Ran einfach nicht nach Hause wollte, weil er die sexuelle Annäherung zwischen ihnen scheute und deshalb alles mögliche als Entschuldigung in die Waagschale werfen würde.

Schuldig wendete also den Wagen und sie suchten sich ihren Weg Richtung Parkgarage.

Er ließ sich jedoch nichts anmerken. Es war doch völlig egal, ob sie Spielzeuge hatten oder nicht, für Schuldig war Ran völlig ausreichend, das Einzige, was er brauchte. Und zwar seit Tagen dringend brauchte. Er wollte begehrt werden. Er wollte wieder von Ran begehrt werden. Stattdessen… brauchten sie Spielzeuge.

Schuldig fühlte sich so richtig bescheiden.
 

Aya brauchte etwas, um genau zu sein, bis direkt vor dem Laden, bis er in seiner eigenen Vorfreude merkte, dass es kein stilles Lächeln war, das ihn bei Schuldig erwartete, sondern eine ganz bestimmte Art von Niedergeschlagenheit, die ihn alarmierte.

Er wurde langsamer, wandte seine komplette Aufmerksamkeit Schuldig zu und betrachtete sich den anderen stumm. Er sagte nichts, keinen Ton… sondern analysierte mit seinen Augen, was Worte nicht konnten.
 

„Da sind wir schon“, sagte Schuldig und lächelte aufmunternd, wobei er nicht wusste, wen er mehr aufmuntern wollte – Ran oder doch eher sich und seine eigene Frustration.

„Also hinein in die gute Stube.“

Er hatte immer gedacht, er war unwiderstehlich und Ran… Ran würde zumindest nach einiger Zeit wieder auf ihn abfahren, körperlich gesehen.

Gott…

Es war nicht so. Ran begehrte ihn nicht. Nicht mehr.

Schuldig wischte diesen Gedanken komplett weg, als sie den Laden betraten. Nein. Ran… er…
 

Hier gab es ein gewaltiges Problem und Aya wusste nicht, worin es begründet lag. Das machte ihn unruhig, sehr sogar und er versuchte, von selbst darauf zu kommen...scheiterte jedoch an seiner Soziopathie.

Doch Schuldig in einem Sexshop zu fragen, was ihn bedrückte, war grotesk. Entweder, sie verließen dieses Geschäft auf der Stelle oder sie erfüllten die Pflicht, etwas zu kaufen, und sprachen danach über ihr Problem.

„Schuldig, was hältst du hiervon?“, fragte er und deutete auf ein schlichtes Set aus Federn, etwas zum Eingewöhnen und Testen, wie der andere reagierte.
 

„Da kannst du gleich Banshee drüber schicken was ungefähr den gleichen Effekt hat… bis auf die Krallen versteht sich“, kam der fachmännische Rat und Schuldig ging zielstrebig durch die Reihen, griff sich das eine oder andere aus den Regalen, was er für sinnvoll hielt und was edel und teuer genug war.

Er wollte raus aus dem Laden, denn in seiner gegenwärtig labilen, emotionalen Verfassung hatte er keine Lust auf einen ausgedehnten Sexshopeinkauf.
 

Schuldig war auf der Flucht… auf der Flucht vor ihm, das erkannte Aya, wollte jedoch ein letztes Mal austesten, was Sache war… um ganz sicher zu sein.

Er griff sich einen Gegenstand von einem der Regale und kam zu Schuldig.

„Was ist damit?“, fragte er und hielt dem Telepathen Fesseln unter die Nase, Metallfesseln.
 

Schuldigs Atem beschleunigte sich zwei Züge und er spürte, wie sehr ihm genau diese Situation schmerzte. Es stand in seinen Augen. Er runzelte die Stirn für einen Moment.

„Wir haben zwar welche zu Hause, aber du kannst sie gerne mitnehmen. Ich denke, sie passen mir ganz gut.“ Schuldig pflückte sie Ran aus der Hand und legte sie in den kleinen Tragekorb. „Hast du sonst noch etwas gesehen?“
 

„Ja, dich und wie du ein Problem mit dieser Situation hast“, erwiderte Aya hart, nahm Schuldig den Korb weg, stellte ihn achtlos beiseite und zog den anderen mit nach draußen. Hoffentlich erinnerten sich die Besitzer nicht an sie…
 

Was Schuldig ohnehin gleich erledigte in dem er ihre Anwesenheit löschte. Was ihm schon zur Gewohnheit geworden war.
 

„Was hast du?“, fragte Aya schlicht.
 

„Ich… fühl mich nicht gut. Lass uns gehen“, fügte Schuldig an und blickte sich um, an Ran vorbei, die Straße hinunter. Sein Brustkorb schien sich zusammenzudrücken und er hatte das Gefühl, er trauerte ihrer Beziehung nach.
 

„Warum fühlst du dich nicht gut? Sonst war es dir eine Freude, die kleinen Helferlein mit nach Hause zu bringen und sie auszuprobieren. Und jetzt siehst du aus, als würdest du vor mir fliehen.“ Ayas Arme waren verschränkt und sein Blick war rein auf Schuldig fixiert.
 

„Verdammt!“, begehrte Schuldig auf.

„Siehst du nicht, dass es mir scheißegal ist, was wir kaufen oder ob wir etwas kaufen? Du allein reichst mir aus. Aber du bist für mich nicht zu erreichen, was soll ich dann mit diesem Kram? Kannst du mir das sagen?“

Er erhielt keine sofortige Antwort, was ihn dazu veranlasste keine Sekunde länger zu warten und zurück zum Wagen zu eilen. Die Straße erschien endlos lange und die Menschen um ihn herum schienen ihn zu verhöhnen. Mit finsterer Miene löste er das Ticket und erklomm die Stufen ins Parkhaus.
 

Einen Moment lang war Aya stehen geblieben, vor Unglauben gelähmt. Dann jedoch kam er Schuldig nach wie das drohende Unheil im Rücken des Deutschen.

Es reichte.

Alles reichte.

Nicht zu erreichen?

Er wollte Schuldig, was sollte er noch mehr tun um Schuldig zu erreichen, um ihn zu wollen? Verdammt noch mal!

Kaum waren sie beim Wagen, packte Aya Schuldig und wirbelte ihn herum, warf ihn gegen die Wagenseite.

„Was soll das, du Arschloch?“, zischte er dunkel, wütend. Ja, und er war wütend, er platzte schier vor Wut. Wütend über das, was Schuldig ihm vorwarf.
 

Schuldigs Instinkte schlugen nur mäßig bis gar nicht aus, da er Ran hinter sich wusste, aber mit so einer Reaktion hatte er nicht gerechnet.

Die wütende Maske, die ihm begegnete, erstaunte, aber… sie beruhigte ihn auf eine verquere Art und Weise. Ran war ihm nicht gleichgültig gegenüber.

„Was…?“

Er wollte sich von Ran lösen, der ihn immer noch festhielt, scheiterte jedoch an dessen Vehemenz. „Nennst du das Begehren?“ Er ließ die Frage stehen. „Begehrst du mich? Und überleg dir gut, was du sagst. Denn momentan sieht es nicht danach aus. Und ich habe Angst, Ran. Wenn du das nicht verstehst… was soll ich dir sonst noch sagen?“
 

„Wir ficken monatelang miteinander, wir wohnen zusammen, sind durch Dinge gegangen, gewatet, GEKROCHEN, die andere in ihrem Leben nicht durchmachen und dann wagst du es, mir so etwas zu sagen?“ Ayas Stimme wurde immer und immer lauter, bis er das Gefühl hatte, sie nicht mehr richtig kontrollieren zu können. „Du entwertest all die Monate, in denen ich dich nicht zurückgewiesen habe! Du hast Angst? Warum? Dass ich dich nicht mehr will? Wieso sollte ich dich nicht mehr wollen? Wieso hast du das nicht vorher schon gedacht… als unsere Sexspiele hart an der Grenze zum Perversen waren? Wieso JETZT? Nur weil ich Spaß möchte, mit DIR, nicht mit dem Scheißamerikaner, der dich aus der Bahn bringt, noch mit Youji, noch mit irgendwem anders! Mit DIR!“

Ayas Hände hatten sich in Schuldigs Oberarme gegraben.
 

Und Schuldigs brachten sich genauso verzweifelt um Rans Gesicht. Hielten es fest.

„Im Augenblick Ran… im Jetzt und hier… hast du Angst vor dem Sex mit mir. Siehst du das nicht? Was nützt die Vergangenheit in der Gegenwart? Wo ist da dein Begehren wenn du den Sex planst? Du dich daran gewöhnen willst?“ Schuldigs Stimme war verloren.
 

„Frag Youji, wie es nach meinem ersten Zusammenbruch war“, erwiderte Aya brutal, doch es gab keine andere Möglichkeit… zumindest sah er keine.

„Und Youji habe ich begehrt, auch danach. Aber ich muss mir selbst zeigen, dass es SCHÖN ist, mit dir zu schlafen und nicht, dass es schön ist, wenn ich mich in mein Schneckenhaus aus Kleidung und Distanz einhülle! Verdammt! Ich bin nun einmal nicht so offen wie du! War es NIE!“
 

Schuldig rekapitulierte die Worte, die Ran die letzten Augenblicke veräußert hatte, konnte sich aber schlichtweg keinen großen Reim darauf machen.

Was hatten die vergangenen Monate damit zu tun wie Ran ihn im Moment sah? Ran hatte aus besagtem Grund keine Lust auf ihn, auf Sex, was hatte dies mit ihrer Beziehung in der Vergangenheit zu tun?

Er schwieg für Momente in denen er Ran nur ansah, das Gesicht frei gebend. „Ich bin nicht Kudou. Nur weil es bei ihm „danach“ wieder gut war, heißt es nicht, dass es jetzt auch ein temporär begrenzter Zustand ist. Menschen verändern sich durch die simpelsten und auch durch einschneidende Geschehnisse. Und dann… wechseln sie ihr Umfeld, ihre Beziehung. Warum schreist du mich an wenn ich Angst davor habe, dass eben dies passieren könnte? Ist das so abnormal?“
 

„Und wieso gehst du davon aus, dass es bei uns genau andersherum sein muss? Dass das hier das Ende ist? Wo du fast abgekratzt bist… nein, du warst tot und bist von den Toten aufgestanden…

Wo ich auch für dich mit Kritiker gebrochen haben… wo wir durch Feuer gegangen sind, weil unsere Freunde den Partner nicht mögen? Und dann sollte ich dich jetzt fallen lassen?“ Aya war sich bewusst, dass er ausfallend wurde, nein, war und dass das seiner Wut nicht abträglich war.

„Wir haben so viel durchgemacht, soviel vergessen, was wir uns gegenseitig angetan haben dafür, dass jetzt bei so einer dummen Gelegenheit alles aus ist? Niemals!“
 

„Reg dich ab, Ran.“ Schuldigs Stimme war fest und er verstand Rans Wut nicht. „Du wolltest wissen warum ich in keiner guten Stimmung war. Ich habs dir gesagt. Das sind nun mal meine Gefühle, soll ich mich dafür entschuldigen? Oder hätte ich besser den Mund gehalten?“ Wenn er schon seine Klappe so weit aufgerissen hatte und die Gründe für seine zurückhaltende depressive kurze Verstimmung preisgegeben hatte konnte er jetzt auch Klartext sprechen. So ganz verstand er den Aufriss jetzt nicht. Natürlich war er down. Und er fand es auch nicht weiter tragisch, dass er Angst hatte Ran zu verlieren.

Aber… für ihn war diese Angst normal, der ständige Begleiter. War es für Ran so neu, dass er Angst hatte? Die ständige hintergründige Befürchtung, dass Ran aus vielen unterschiedlichen Gründen – aber vor allem wegen ihm selbst – einem verrückten Telepathen - nicht mehr bei ihm bleiben würde…
 

„Nein, hättest du nicht und nein, sollst du nicht“, erwiderte Aya mit zusammengebissenen Zähnen. Die Situation war verfahren… eingefahren und Aya wusste, dass er erst einmal wieder herunterkommen musste um normal zu reagieren.

Er löste sich von Schuldig und ging zur Beifahrerseite.

„Lass uns fahren“, sagte er schlicht und hatte die Hand auf der Türklinke, wartete darauf, dass Schuldig den Wagen öffnete.
 


 

Fortsetzung folgt...

Vielen Dank für‘s Lesen.

Bis zum nächsten Mal!
 

Gadreel & Coco
 


 


 

Diese und unsere anderen Geschichten findet ihr auch unter

http://gadreel-coco.livejournal.com

Viel Spaß beim Stöbern!



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück