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Die letzten zehn Tage

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Tag 7 - Donnerstag

Die Schulglocke klingelte genau in dem Moment, als ich mich zum Tausendsten Mal fragte, wie lange eigentlich eine Sekunde dauern kann. Heute hatten sie mich in Ruhe gelassen, und ich war froh darum. Meine Mutter war von Anfang an dagegen gewesen, mich gleich wieder in die Schule zu schicken, wo sie mich doch erst vorgestern zusammengeschlagen hatten. Wäre jetzt etwas passiert, hätte sie mir das mein Leben lang bei jeder Situation unter die Nase gerieben. Das wäre nicht gerade angenehm gewesen.

Meine Vernunft schaltete sich ein. Wie dumm musste ich eigentlich sein, um bei so einer Situation nur daran zu denken, dass meine Mutter mich daran ewig erinnert würde?

Wütend auf mich selbst packte ich meine Hefte zusammen und schulterte meinen Rucksack. Die ganze Aktion würde sich von selbst klären, da war ich mir sicher.

Der Bus brauchte mal wieder ewig. Ungeduldig verlagerte ich mein Gewicht vom einen Bein auf das andere. Gerade, als ich anfangen wollte, mit den Füßen zu scharren, drängte sich eine mir nur allzu gut bekannte Fratze ins Sichtfeld.

"Oh, warten wir auf Mister Lover Lover?", fragte die Klassenbeste herablassend. Ich fragte mich, ob ich ihr die Zähne einschlagen, sie skalpieren, ihr Hände und Füße abschlagen oder einfach nur bei lebendigem Leib das Herz herausschneiden sollte. Die Entscheidung zwischen einer langen Gefängnisstrafe, dafür aber Genugtuung, und einem weiterhin freien Leben, dafür aber ständig mit dieser Hackfresse in der relativ nahen Umgebung (sie wohnte nur vier Straßen weiter) war schwer. Sehr schwer.

Gerade, als ich mich dafür entscheiden wollte, sie einfach zu ignorieren, stieß sich mich grob gegen die nächste Laterne.

"Ich hab dich was gefragt!", keifte sie laut. Ich wartete vergeblich darauf, den Schaum um ihren Mund herum zu entdecken. Warum hatte sie keinen Schaum vor dem Mund? Diese Tatsache war wirklich irritierend. Bei dem Verhalten musste sie einfach Schaum vor dem Mund haben, das war ... war es ein Gesetz? Nein, entschied ich mich nach einem weiteren Blick auf ihr Gesicht, wahrscheinlich hatte sie bei der Visage noch einen Extrasack, in dem sie ihren Schaum aufbewahrte, damit sie nicht darauf ausrutschen konnte. Bei der Menge konnte das wahrscheinlich andernfalls gefährlich werden.

Gerade, als sie ernsthaft auf mich losgehen wollte, packte sie jemand Großes und sehr Wütendes von der Seite am Arm und drehte sie unsanft herum.

"Hör mal zu", sagte der blonde Dämon mit bedrohlich leiser Stimme zu ihr, "wenn du ein Problem damit hast, dass sie mit mir zusammen ist und nicht du, solltest du erst mal in den Spiegel gucken und dann in die psychiatrische Klinik gehen. Das erste gibt dir eine Erklärung, warum, und das zweite gibt dir eine Chance, deine Anfälle unter Kontrolle zu bekommen. Das ist doch nicht mehr normal." Dann drehte Chris sich zu mir um und lächelte mich an. "Kommst du?", fragte er, wieder ganz der Alte, und ich hätte schwören können, dass niemand süßer lächelte als er.

Wir waren erst ein kurzes Stück gegangen, als er plötzlich, ohne Vorwarnung, meine Hand nahm. Als ich ihn daraufhin überrascht ansah, wurde er rot.

"Tut mir Leid", sagte er und wollte sie wieder wegziehen. Ich hielt ihn fest.

"Ich denke, wir sind jetzt zusammen?", fragte ich, halb stolz, halb hoffend, dass er es sich nicht doch noch anders überlegte. "Dann können wir auch mal Hand in Hand durch die Gegend laufen."

Daraufhin schwieg er. Ich bereute es schon, es gesagt zu haben. Es klang so fordernd, anklagend. Gerade, als ich anfing, mich so richtig beschissen zu fühlen, dem schlechten Gewissen zu frönen und mir einen möglichst guten Fluchtplan auszudenken, ließ er endgültig meine Hand los und legte seinen Arm um meine Hüfte.

Mein Herz schlug schneller. Irgendwo in meinem Gehirn gab es tatsächlich noch einen Bereich, der rational denken konnte und ein intelligentes 'Ist das wirklich kein Wachtraum?' von sich gab, bevor auch er den Geist aufgab.

Vorsichtig lehnte ich meinen Kopf an seine Schulter. Es war etwas holprig, aber im Großen und Ganzen ein tolles Gefühl. Am liebsten hätte ich die Augen zugemacht, aber dann wäre ich wahrscheinlich irgendwo reingetreten, wie ich mich kannte, oder gegen einen Masten gelaufen.

"Wir sind da", sagte Chris leise und blieb stehen. Ich merkte, dass ich trotz meiner Bedenken doch die Augen geschlossen hatte, und öffnete sie. Das gleißende Sonnenlicht war im ersten Moment zu hell für mich und ich musste oft blinzeln, dann erkannte ich, dass es stimmte. Er hatte mich durch den Vorgarten bis an die haustür gelotst.

"Danke", sagte ich und löste mich mit einem leisen Bedauern von ihm.

Schweigen senkte sich zwischen uns.

"Na, dann sehen wir uns ja morgen in der Schule", versuchte ich, es möglichst fröhlich klingend zu brechen.

"Ja, stimmt", sagte er.

Wir schwiegen wieder, beide immer noch am gleichen Platz wie davor. Und wir bewegten uns beide keinen Zentimeter von der Stelle. Irgendwann merkte ich, dass Christians Kopf mir immer näher kam. Scheiße, dachte ich und bekam Schweißausbrüche, hatte ich heute Morgen überhaupt die Zähne geputzt? Roch er mein Frühstücksbrot? Welche Katastrophe passierte als nächstes?

In dem Moment, als ich meine Augen schließen wollte, beugte er sich schneller zu mir und nahm mich fest in die Arme. "Dann bis morgen", sagte er in meine Haare. Ich war ein wenig enttäuscht. So überzeugend wie nur möglich lächelnd, schob ich ihn ein Stück von mir weg und küsste ihn auf die Wange.

"Tschüss", flüsterte ich.

Dann ging ich die Treppen zu unserer Wohnung hoch.

Warum musste er ausgerechnet in dem Moment vergessen, dass er seine Schüchternheit bis jetzt so gut überwunden hatte?



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