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Wie aus dem Nichts

von

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Kapitel 1

Langsam reichte es! Seit Tagen, nein seit Wochen schon sah er nichts anderes mehr als das griechische Alphabet rauf und runter. Mathematische Formeln und Definitionen, Sätze und Beweise, die sich alle in ihren Voraussetzungen und Folgerungen unterschieden. Er konnte nicht mehr! Er hatte es in der Tat satt. Doch was half seine stetige anwachsende Aversion gegen das Lernen? – Natürlich nichts. Die Diplomprüfungen bestanden sich nicht von alleine, wäre auch zu schön, um wahr zu sein.

Inbrünstig stöhnte er auf und fuhr sich mit der Rechten fahrig durchs kurze Haar. Die Ordner und Bücher stapelten sich endlos vor ihm und die Blätter in seiner Linken schienen ebenfalls zentnerschweren Stoff zu beherbergen. So viel Überdruss konnte man doch eigentlich gar nicht entwickeln...

Draußen entschied sich der Frühling dafür, endlich seine Pforten zu öffnen und die Sonne warm auf die Erde strahlen zu lassen. Lachende, glückliche Menschen waren in Massen unterwegs, vor Bass strotzende laute Musik drang aus den vorbeifahrenden Autos und genau diese Klänge ließen Jim noch tiefer in sein Bett sinken. Ja, er hatte sein Fenster weit offen stehen, selbst wenn ihn das deprimierte. Doch irgendwie musste man ja Anteil an der Fröhlichkeit der breiten Masse haben, die den Wetterumschwung genoss. Es reichte ja schon, in der kleinsten aller kleinen Wohnungen gefangen zu sein und von einer Heerschar von Büchern umringt zu sein, die alle gelesen und verstanden werden wollen. Ein erneutes Seufzen entrann seiner Kehle, dann schmiss er die Blätter neben sich hin. Achtlos rutschten sie vom Bett und landeten in einem Wirrwarr auf dem Boden. Sollten sie doch dort liegen bleiben! Mehr aneinander gereihte Buchstaben passten eh nicht mehr in seinen Kopf; dieser platzte wahrlich schon vor Definitionen und Zusammenhängen. Warum musste man auch alle Prüfungen auf einmal absolvieren? Solch eine Klausel in den Verordnungen konnte sich auch nur ein Mensch erdacht haben, der sie selbst nicht in Anspruch nehmen musste.

Jims Augen fielen zu und selbst in diesem Zustand fühlte er sich vollkommen erschlagen. Wann er das letzte Mal unbeschwert durch die Straßen gelaufen war, wusste er schon gar nicht mehr. Diese Gegebenheit schien schon meilenwert zurück zu liegen und in seinem Gedächtnis gar nicht mehr vorhanden zu sein; verdrängt von den monströsen Gebilden, mit denen er sich auseinanderzusetzen hatte. Eine Prüfung hatte er vergangene Woche hinter sich gebracht, doch die erhoffte Erleichterung hatte sie nicht zur Folge gehabt. Zwar war sie wirklich gut gelaufen, doch auf solchen Lorbeeren konnte man sich wahrlich nicht ausruhen. Sobald man sich irgendwo bewarb, würde sich eine schlechte Zensur negativ auswirken und darauf wollte er es gewiss nicht ankommen lassen. Und doch ersehnte er die Freiheit, die man spürte, wenn man alles hinter sich hatte. Das Aufatmen, wenn man die Tür zum Büro des Professors hinter sich schloss und von sich behaupten konnte, sein Bestes gegeben zu haben. Aber darauf musste er noch gut zwei Wochen warten. Bis dahin würde er wohl weiterhin gute Miene zum bösen Spiel machen und sich zwingen, all den Lernstoff in sich reinzuzwängen und insbesondere zu verstehen. Auswendiggelerntes brachte ihm nicht viel, denn seine Professoren waren mit ihren Fragen darauf bedacht, zu prüfen, ob man wirklich verstanden hatte, was in den Skripten stand. Welche Definitionen in welche Beweise eingingen, welche Sätze wichtig waren etc.

Schlecht gelaunt quälte er sich die Augen wieder zu öffnen und die Blätter vom Boden aufzusammeln und gemäß ihrer Nummerierung zu sortieren. Nun konnte das Leid also weitergehen!

Endlose Minuten später klopfte es unerwartet an der Tür. Er erwartete keinen Besuch, doch dass jemand mal unangekündigt vorbeikam, war keine Seltenheit. Mürrisch raffte er sich hoch und lief die wenigen Schritte bis zur Zimmertür. Dazu gehörte wahrlich nicht viel Anstrengung, denn rundum bestand seine Wohnung, wenn man diese überhaupt als solche bezeichnen konnte, aus lächerlichen fünfzehn Quadratmetern, das Bad selbstverständlicherweise inbegriffen. Halbherzig griff er nach der Klinke und drückte sie hinunter. Eigentlich war ihm nicht nach Reden zumute und wer sich gerade jetzt seine Laune antun wollte, der tat ihm leid. Als er aber sah, wer darauf erpicht war, ihn in diesem Zustand zu sehen, stockte ihm der Atem. Braune Haare, dunkle Augen, sportliche Statur… Das war doch der Kerl, den er drei Stunden lang heimlich beobachtet hatte. Den er sogar offiziell beaufsichtigt hatte. Den er vorher nie auf dem Campus erblickt hatte und ihm bereits beim Eintreten in den Hörsaal aufgefallen war. Was wollte der denn hier? Und woher wusste er, wo er wohnte? Mit einem Mal schwirrten keine hochkarätigen Formeln mehr in seinem Kopf herum, die waren wie weggeblasen. Als ob sein Gehirn eine Rundumkur verpasst bekommen hätte.
 

„Hi“, meinte der andere.
 

„Hi“, erwiderte er perplex.
 

Gut, er hatte seine Übungsblätter korrigiert und seine Klausur beaufsichtigt, darum musste er seinen Namen kennen, doch warum stand er nun hier vor seiner Tür?

Ohne weitere Worte spürte Jim plötzlich zwei Hände auf seinem Oberkörper, die ihn nach hinten drängten. Und ehe er sich versah, fühlte er warme Lippen auf den Seinigen. Was ging hier vor sich? So schnell konnte er gar nicht denken, wie er an die Wand gedrückt und geküsst wurde. Doch als er diese Tatsache realisierte, stieß er den jungen Mann, der ebenso groß war wie er selbst, von sich weg.
 

„Geht’s noch?“
 

„Das wollte ich schon an jenem Tag tun“, wurde ihm selbstbewusst entgegengebracht.
 

Damit musste wohl der Tag der Klausur gemeint sein. Dunkle, bestimmte Augen sahen ihn an und er spürte wieder dieselbe Verwirrtheit als er ihn das erste Mal erblickt hatte. Vielleicht hatte er sich genau das gewünscht, was eben geschehen war, dennoch kam er sich gänzlich überrumpelt vor. Und außerdem hatte er zu lernen. Die Zeit drängte, zwei Tage waren wirklich nichts für die Massen, die er noch zu büffeln hatte. Gefühlschaos hatte da gewiss nicht oberste Priorität. Zudem, was dachte sich dieser Kerl? Einfach unangemeldet hereinschneien und ihn dann noch dermaßen dümmlich starren zu lassen?
 

„Das gibt dir noch lange nicht das Recht, dir einfach zu nehmen, was du begehrst!“
 

Begehrst? Jim wunderte sich selbst über diese seine Wortwahl. Er konnte sich nur noch vage an die Zeit mit seinem damaligen Freund erinnern, den er in der Tat begehrt hatte. Aber das war vorbei und er konnte gerade keine Gefühlsduseleien gebrauchen! Die passten sowieso besser zu Mädchen und nicht zu hartgesottenen Männern, selbst wenn er sich eigentlich nicht zu diesen zählte. Aber Prinzip war eben Prinzip!
 

„Hey, du schienst nicht abgeneigt zu sein.“
 

Erst das unermüdliche Lernen und nun solche lehrreichen Sprüche!? Irgendwie brachte das sein Blut zum Kochen. Die letzten Wochen purer Stress hatten ihn reizbar gemacht und insbesondere launisch.
 

„Kein Wunder, wenn man keine Zeit zum Reagieren hat und man mit seinen Gedanken ganz woanders ist!“
 

Stille. Unheimliche, groteske Stille.
 

Wann gedachte sein Gegenüber sie zu brechen? Morgen, Übermorgen oder nächste Woche? Die Zeit hatte er partout nicht, also musste er handeln.

Wenig dezent manövrierte er den Namenlosen hinaus auf den Gang, doch so einfach ließ er sich nicht abfertigen.
 

„Ich habe doch nicht alle Hebel in Bewegung gesetzt, dich ausfindig zu machen, nur um gleich wieder zu gehen?“
 

Hörte Jim da Kränkung oder einfach nur reine Enttäuschung? Vielleicht ja beides, was im Endeffekt aber total gleichgültig war. Er brauchte Ruhe und Konzentration und beides war ihm mit einem Schlag genommen worden. Zugegeben, vorher hatte er sich auch schon schwer damit getan, aber nun war es damit vollkommen passé! Und das behagte ihm überhaupt nicht. So sehr er etwaigen einen weiteren Kuss ersehnte, den ersten hatte er nicht einmal ansatzweise genießen können, so sehr war er darauf bedacht, diese Pracht von einem Mann schleunigst loszuwerden. Emotionen löste die Lernerei bereits genug aus, da waren Gefühle anderer Art einfach nur störend.
 

„Dein Pech. Ich muss lernen.“
 

Das gab es nicht! War dieser junge Mann schwerhörig oder wollte er einfach nicht verstehen, dass er unerwünscht war? Jim war sich nicht sicher, ob er das denn war, doch darüber wollte er sich keine Gedanken machen. Der andere musste weg und das möglichst hurtig!
 

„Derart kann ich mich in dir nicht getäuscht haben“, drang es nun um einiges leiser über die Lippen seines Gegenübers und die dunklen Iriden nahmen einen wehmütigen Ausdruck an.
 

„Und wenn doch?“
 

So kaltherzig wollte er eigentlich gar nicht klingen und im nächsten Moment tat es ihm bereits leid, doch da war es schon zu spät. Der andere wandte ihm den Rücken zu und verschwand sofort durch die Tür zum Treppenhaus, die sich gegenüberliegend befand. Alsbald war er aus seinem Blickfeld verschwunden.

Jim war völlig durcheinander. Er kannte nicht einmal den Namen desjenigen Menschen, dessen Lippen er gerne noch einmal auf seinen spüren würde…



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  kaya17
2007-05-01T11:32:52+00:00 01.05.2007 13:32
Toller Fanfic. Schön geschrieben und die Story find ich sehr interessant
Von:  smily
2007-03-10T11:01:56+00:00 10.03.2007 12:01
Hm... ja... Was soll ich sagen? Die Story find ich cool!
Der Typ hätte ihn doch wenigstens vorwarnen können! Ich glaub da würde jeder so reagieren. Obwohl ich hätte ihm noch eine reingehauen! XD ^^
Also wenn du dann irgendwann nach den Prüfungen und so weiterschreibst, dann werde ich unbedingt auch weiterlesen!
Aber ich mach mir Sorgen um dich! So wie du den Prüfungsstress beschrieben hast... Ich wundere mich, dass du überhaupt noch am Leben bist!!! Du hast meine totale und ungeteilte moralische Unterstützung! *Cheerleaderkostüm anzieh* *fännchen raushol*
Also bis dann
ciao,ciao
smily


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