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Stadt der Engel

Schatten und Licht, Band 1
von

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Der Mann mit dem Speer

Hitomi saß am Rande einer kleinen Lichtung und rieb ihre Hände aneinander, während Merle in voller Kampfmontur auf dem Luftschiff hin und her ging und das übergespannte Tarnnetz mit Laub und Zweigen ergänzte. Neugierig beobachtete Hitomi sie dabei und geriet einmal mehr darüber ins Staunen, wie sehr sich Merle in den letzten drei Jahren entwickelt hatte. Die Art, wie das orange Licht der Morgensonne ihre weichen Gesichtszüge unterstrich, passte überhaupt nicht zu dem harten und professionellen Ausdruck ihrer Augen.

Plötzlich tat sie Hitomi Leid, als sie begriff, dass sie etwas genossen hatte, was Merle offensichtlich schon vor Jahren verloren hatte und ihr niemand zurückgeben konnte. Ihre Gedanken schweiften zu den längst vergangen Tagen, an denen Yukari sie Bahnhof begrüßt hatte und sie zusammen zur Schule gefahren waren. Sie dachte an die unzähligen Leichtathletikwettbewerbe zurück, an denen sie und Amano als Sprinter auf hundert Meter angetreten waren und Yukari die beiden begleitet hatte. Damals hatte sie von Van noch nichts gewusst und für Amano geschwärmt. Für Yukari war dies offensichtlich gewesen, doch Hitomi selbst hatte ihre Augen vor der Zuneigung ihrer besten Freundin für ihn verschlossen.

„Eh, brauchst du wieder eine Ohrfeige?“, fragte Merle schnippisch.

Verdutzt sah Hitomi zu ihr auf. Sie hatte wie immer nicht gehört, wie Merle auf sie zugekommen war.

„Nein…mir geht es gut.“, antwortete sie schnell.

„Dir ist hoffentlich klar, dass wir drauf und dran sind Feindesland zu betreten.“, warnte Merle.

„Ja, natürlich! Du hast die Information über den Tempel der Fortuna schließlich von mir erhalten, oder etwa nicht?“

„Ich habe sie selbstverständlich überprüfen lassen.“

„Und?“

„Es ist wahr, dass, seitdem die Zaibacher dort alles leer geräumt haben, niemand den Tempel lebend verlassen zu haben scheint. Luftschiffe berichten übrigens von drei ausgebrannten Fracks im Innern des Tempels.“

„Interessant. Das heißt also, man kann zwar gefahrlos über den Tempel hinweg fliegen, aber nicht in seinem Innern landen.“, meinte Hitomi.

„Stimmt. Bist du dir sicher, dass du mitkommen willst?“, erkundigte sich Merle.

„Bin ich. So ist es besser für uns beide. Du kannst mich beschützen und ich kann dich vor Gefahren warnen, bevor sie da sind.“

„Aber nur, wenn du sie auch kommen siehst. In letzter Zeit war deine Gabe nicht gerade zuverlässig. Außerdem müsste ich dich überhaupt nicht beschützen, wenn du im Schiff bleiben würdest. Dann könnten wir nämlich die richtige Tarnung aktivieren.“, konterte Merle.

„Sobald jemand so wie du mich über meine Aura erspäht, nützt mir die Unsichtbarkeit des Schiffes auch nichts mehr.“, hielt Hitomi dagegen.

„Das ist ein sehr großes Wenn.“

„Es könnte viel kleiner sein, als du denkst. Ich muss dich wohl nicht an mein Erlebnis in den Wolfhöhlen erinnern.“

„Auch wieder wahr.“, gab Merle zu. „Aber bleib dicht bei mir! Richte deine Sinne nach außen und renn weg, sollte Gefahr drohen!“

Hitomi erhob sich steif und salutierte.

„Ja, Si…eh, Madam!“

„Was sollte das denn gerade?“, wunderte sich Merle.

„Na ja, weißt du, so…ach, vergiss es!“, wiegelte Hitomi ab. Merle schnallte sich kopfschüttelnd ihren kleinen Rucksack auf den Rücken.

„Der Krater, in dem sich der Tempel befindet, ist nur ein paar Minuten entfernt. Ab jetzt herrscht funkstille, außer es ist wirklich wichtig.“, wies sie Hitomi an. Diese nickte und ließ Merle den Vortritt.

Beide gingen zusammen durch ein kurzes Stück Wald, bis sie schließlich den Schutz der Bäume verließen und eine schräge Wand aus Erde sich vor ihnen auftürmte. Beide starrten sie auf das Hindernis vor ihnen.

„Meinst du, du schaffst das?“, fragte Merle. Hitomi nahm die Herausforderung in Merles Stimme lächelnd zur Kenntnis.

„Vergiss nicht, ich bin eine Athletin! So ein kleines Hügelchen ist doch ein Klacks für mich.“

„Wenn du meinst.“, sagte Merle Schulter zuckend und machte sich an den Aufstieg. Auf allen vieren kletterte scheinbar mühelos auf dem losen Geröll die Wand hoch. Hitomi versuchte mit ihrem Tempo mitzuhalten, verlor aber nach ein paar Minuten schon den Anschluss. Beschämt musste sie mit ansehen, wie Merle das Ende der Wand erreichte und sie nicht einmal die Hälfte geschafft hatte.

„Na Prima!“, flüsterte sie und wäre daraufhin beinahe abgerutscht. Verzweifelt gruben sich ihre Finger schmerzhaft in die Erde und sie musste sich zusammenreißen, um nicht loszulassen. Merle sah sich noch einmal nach ihr um und verschwand dann in das Kraterinnere. Schließlich erreichte auch Hitomi das spitze Ende des Walls und sah auf die abschüssige Wand vor ihr. Wie Merle gesagt hatte, konnte man auf der kreisförmigen Ebene in der Mitte des Kraters drei ausgebrannte Luftschiffwracks erkennen. Alle drei schienen ein und derselbe Typ von Schiff zu sein. Von Merle gab es kein Spur. Hitomi riskierte noch einen letzten Blick auf die helle Morgensonne und versuchte dann möglichst unbeschadet den Abhang herunterzurutschen. Unten angekommen achtete sie auf Auren von intelligenten Wesen im Innern des Tempels und der Wracks, doch sie fand keine. Sie wollte schon nach Merle rufen, erinnerte sich dann jedoch an die Anweisung still zu sein. Stattdessen sandte sie einen mentalen Ruf aus. Als ihre Gefährtin daraufhin nicht erschien, bekam sie ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend und wiederholte ihren Ruf. Wieder blieb eine Antwort aus und sie bekam Angst. Was, wenn Merle etwas zugestoßen war?

Hitomi setzte schon einen panischen Ruf an, da sah sie Merle, wie sie gerade aus einem der Wracks heraus kroch. Heilfroh lief sie auf ihre Freundin zu und wollte sie umarmen, doch Merle stieß sie sanft von sich weg.

„Was ist denn los?“, fragte sie genervt. „Kannst du nicht einmal eine Minute ohne mich auskommen?“

Angesichts Merles abweisender Haltung Hitomi brauchte eine Sekunde, ehe sie sich wieder gefasst hatte.

„Tja, weißt du, normalerweise schweißt es zwei Menschen zusammen, wenn sie über mehrere Wochen zusammen reisen.“ Misstrauisch beäugte sie die Haufen aus Schrott. „Konntest du etwas über die Absturzursache der Luftschiffe herausfinden?“

„Nein, denn sie sind überhaupt nicht abgestürzt. Alle drei wurden sauber gelandet, bevor sie jemand ausgeschlachtet und verbrannt hat.“

„Woran siehst du das?“

„Bei allen drei Schiffen sind die Landestützen ausgefahren. In ihrem Innern habe ich keine Spur von verkohlter Technik, verbrannten Guymelefs oder menschlichen Überresten gefunden. Im Prinzip sind diese Schiffe nur Stahlskelette. Da wollte uns jemand für dumm verkaufen.“, erklärte Merle.

„Aber was ist dann aus der Besatzung geworden? Und wer hat die Ausrüstung gestohlen?“, fragte sich Hitomi.

„Wir sollten uns das Innere des Tempels ansehen. Vielleicht wissen wir dann mehr.“, meinte Merle.

„Spürst du jemanden?“, erkundigte sich Hitomi.

„Nein. Der Tempel scheint verlassen zu sein.“, antwortete Merle und beide gingen auf den mit Ornamenten geschmückten, verdreckten Eingang zu.

Plötzlich fasste sich Hitomi an ihren Kopf und stöhnte. Gerade als sie drohte umzukippen, stützte das Katzenmädchen sie.

„Was ist los?“, fragte Merle besorgt.

„Jemand versucht bei mir einzubrechen.“, teilte ihr Hitomi mit schwacher Stimme mit und keuchte.

„Wer?“

„Ich…weiß es nicht. Diese Aura…ist mir neu, aber sie kommt…aus dem Tempel!“

In diesem Augenblick erregte das leise Geräusch schwere Schritte Merles Aufmerksamkeit. Sie richtete ihren Blick auf den Eingang des Tempels und sah einen großen, kräftigen Mann mit Glatze herauskommen. Er trug die Uniform eines Luftschiffkapitäns aus Fraid und wog einen dicken, eisernen Speer in seinen Händen.

„Willkommen in meinem bescheiden Zuhause!“, dröhnte seine Stimme über die ganze Ebene. Die Mädchen starrten ihn fassungslos an.

„Du bist überrascht.“, stellte der Mann fest. „Dachtest du wirklich, diese Göre wäre die einzige, die ihre Aura verbergen könnte? Ich habe deine Ankunft schon vor Stunden gespürt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie überrascht ich war, dass nach all den Toten noch jemand den Mut hat mich hier zu besuchen.“

„Wer seid ihr? Wie kommt ihr hier her?“, fragte Merle.

„Fragt dein Haustier, wer ich bin oder wer ich war? Nun, mein früheres Ich kam mit der ersten Aufklärungsmission hier her.“

„Ihr seid also der Kommandant der ersten Mission?“

„Nein, der ist schon lange Tod.“, antwortete der Mann.

„Aber nach eurer Uniform zu urteilen…“, wunderte sich Merle.

„Mein Meister gab diesem Narren die Ehre seinen Körper und seine Seele umgestalten zu lassen. Der Narr ist tot. Im Augenblick seines Todes wurde ich geboren um über das Domizil meines Meisters während seiner Abwesenheit zu wachen.“

Angeekelt verzog Merle ihr Gesicht, während Hitomi ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah.

„Mein Meister hat dich zu sich eingeladen, nicht aber das Katzenweib. Dennoch kann ich sie unmöglich gehen lassen. Sie muss sich unserer Sache wohl oder übel anschließen.“

Verdutzt schaute Merle auf ihre Gefährtin herab.

„Kennst du den Kerl?“

„Nein, ich habe ihn nie zuvor gesehen.“, sagte Hitomi schwach.

„Wieso spricht er von dir, als wärst du seine Verbündete?“, fragte Merle eindringlich.

„Oh, Mädchen, du weißt es noch gar nicht, aber du wirst dich uns anschließen. Im Gegensatz zu der Katze wirst du es sogar freiwillig tun.“, behauptete der Mann. Sanft ließ Merle ihre Freundin zum Boden gleiten und zog wütend ihre Dolche aus den Halftern an ihren Oberschenkeln.

„Ihr scherzt!“, schrie Merle ihn an und stürmte auf ihn zu.

„Du hast nicht die Rasse mich herauszufordern.“, erwiderte der Mann und streckte seinen Arm in ihrer Richtung aus. Plötzlich zerrte eine Kraft an Merle und riss sie von ihren Beinen. Ihren Katzeninstinkten folgend landete sie auf alle vier Pfoten und drehte sich in Rage wieder zu ihrem Gegner um.

„Nicht ich bin dein Gegner.“, verkündete er. Als wäre dies ein Zeichen gewesen, liefen auf einmal dutzende Menschen an ihn vorbei. Sie alle waren wie Fraids Soldaten gekleidet, bewegten sich aber auf allen vieren und stießen grelle Schrei aus.

Erstaunt beobachtete Merle, wie die zu Primaten mutierten Menschen rasend schnell auf sie zukamen. Sie brauchte einen Moment um sich wieder auf ihre Kampfausbildung zu besinnen. Mit einer schnellen, geübten Bewegung steckte sie ihren rechten Dolch zurück in den Halfter und zog drei Wurfdolche aus dem versteckten Magazin auf ihrem Rücken. Sie warf alle drei mit einer Bewegung ihren Angreifern entgegen. Drei Menschen brachen leblos zusammen.

Sie wusste, für einen weiteren Wurf hatte sie keine Zeit mehr, also wechselte der Dolch in ihrer Linken die Hand und sie schlitzte damit die Kehle des ersten Gegners, der auf sie zugesprungen war. Geschickt rollte sie sich unter seiner fallenden Leiche nach links ab, zog noch in der Bewegung mit der linken Hand den verbliebenen Dolch aus dem rechten Halfter und führte beide Klingen überkreuz dem Bauch des nächsten Angreifers entgegen. Dann war sie auch schon umzingelt und verfiel in eine scheinbar ständige Pirouette. Jedem, der ihr zu nahe kam, traf eine ihrer beiden Klingen.

Hilflos beobachtete Hitomi am Boden, wie ihre Freundin um ihr Leben kämpfte. Die herumliegenden Leichen schränkten den Bewegungsfreiraum von ihr immer weiter ein. Schließlich spürte Hitomi so etwas wie ein Signal, einen Entschluss in der Aura, die noch immer versuchte in ihren Erinnerungen einzudringen. Im nächsten Augenblick sah sie den Mann mit einer übermenschlichen Geschwindigkeit auf Merle zu laufen. Überraschung und die Ablenkung durch zahllose Gegner verhinderten eine angemessene Reaktion ihrerseits und so schaffte es der Mann seinen Ellbogen gegen ihre Schläfe zu schmettern. Bewusstlos sank Merle auf den Boden. Die anderen Menschen wollten sich schon wie reißende Wölfe auf sie stürzen, doch der Mann hielt sie mit einer gebieterischen Geste zurück. Dann kam er langsam Hitomi zu, zog sie an ihrer Kleidung zu sich hoch, grinste sie schelmisch an und schlug ihr von unten gegen ihre Magengrube. Hitomi versuchte noch die aus ihren Lungen entweichende Luft wieder reinzuholen, dann stürzte auch sie in tiefe Finsternis.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Doena
2010-11-28T16:35:54+00:00 28.11.2010 17:35
wer ist denn das ?
hat der kerl etwa auch siri unter kontrolle?
Von: abgemeldet
2007-10-12T18:51:13+00:00 12.10.2007 20:51
Super spannend! Ich bin wirklich neugierig, wer dieser Kerl mit der monströsen, alles beherrschenden Aura ist! -Und außerdem will ich natürlich wissen, wie Van doch noch zu seiner Hitomi kommt!^^



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