Zum Inhalt der Seite

Wie die Motten das Licht

Ein Engel auf Erden
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Es war warm. Frisch riechendes Gras kitzelte ihn an der Nase, lauwarmer Wind strich durch das helle Haar. Langsam drehte er sich um. Er genoss es sich zu bewegen, auch wenn er nicht wusste weshalb. Nun überlegte er, während er in den mit Schleierwolken bedeckten Himmel sah, was er überhaupt wusste. Zunächst versuchte er es mit an sich selbst gestellten Fragen, wie: Wie alt bin ich? Welcher Tag ist heute? Welchen Namen hat diese gelbe Blume da? Der junge Mann fragte sich eine menge Fragen, doch von einer einzigen nahm er Abstand, denn diese eine würde so viele weitere Fragen aufwerfen und eine ebenso unangenehme Antwort geben:

WER BIN ICH?!
 

„Dieser Drecksack…!“, schrie Poodja in sich hinein und presste fest die Lippen aufeinander. Ihr gegenüber saß der Firmenchef Herr Kowalski, neben ihr ihr Vorgesetzter Herr Bauermann.

Es war verdammt noch mal ihre Idee gewesen die neue Kollektion ganz in Rot und Apfelgrün anzufertigen, es war verdammt noch mal ihr eigens verfasster Wochenbericht gewesen und verdammt noch mal es war ihre Prämie die sich dieser Eierkopf schon zum wiederholten male in die Tasche steckte! „Frau Nehru?“, fragte Kowalski und zog verärgert die Stirn kraus (wahrscheinlich hatte er schon mehrmals gefragt). Nun wieder mit voller Aufmerksamkeit wandte sie sich an ihren Chef und nickte. „Helfen sie Herrn Bauermann bitte beim Umzug in sein neues Büro im sechsten Stock Frau Nehru.“, dann drehte er sich samt Stuhl herum und machte ihnen somit deutlich, dass die Audienz beendet war. Nachdem sie die Tür hinter Herrn Bauermann geschlossen hatte, fasste dieser nach ihrem Arm, wirbelte sie herum und lachte: „Sie sind genial Nehru! Genial!“ Er drückte ihr zweihundert Euro in die schlanken Finger und begann damit seine sieben Sachen sorgfältig in Kartons zu verpacken. Die Wut pochte hinter Poodjas Schläfen, zu gern würde sie ihm mit seinem protzigen, massiv-silbernen Brieföffner eins überziehen. „Gehen sie schon mal vor…“, rief er, drückte ihr zwei übereinander gestapelte Kartons in die Arme und verschwand unter seinem Schreibtisch.

Natürlich hatte sie ihm keine mit dem Brieföffner übergezogen, sie war wie immer still und nett über den Flur gezockelt und hatte einen Karton nach dem anderen vom fünften in den sechsten Stock geschleppt, schwer beladen mit drei Jahren ihrer harten Arbeit – schwer beladen mit drei Jahren erfolgreichen Prämieneinstreichens vom werten Herrn Vorgesetzten.

Zweieinhalb Stunden später saß Poodja Nehru in ihrer alten, klapprigen, gelben Ente und fuhr über die verlassene Landstraße zwischen Meyerberg und Soldheim. Sie war immer noch wütend, sehr sogar, deswegen hielt sie auch am Straßenrand, zog ein kleines Notizheft aus ihrer Jacke und einen Kugelschreiber aus der Hosentasche, sprang über den schmalen Graben und lief ein Stückchen über die Wiese. Der Himmel über ihr war weit und schwarz. Außer ein paar Schleierwolken trübte nichts den Blick auf die Abermillionen Sterne. Erleichtert lies sie sich ins Gras plumpsen und blätterte nach einer freien Seite in ihrem Heftchen. Eine Motte lies sich auf ihrem Oberarm nieder.

Endlich hatte sie eine Seite gefunden, setzte den Kugelschreiber auf das karierte Papier und schrieb ein paar Zeilen. Die Motte schlug sachte mit den zarten Flügeln.

Die letzten beiden Wörter kritzelte sie über, ersetzte sie und schaute hinauf zu den Sternen.

Die Motte zuckte mit den Fühlern. Ein kühler Luftzug lies sie frösteln, ein leises Rascheln aufhorchen, eine leichte Berührung lies sie aufschreien vor Schreck und die Motte in zwei feingliedrigen Händen verschwinden. Aufgewühlt starrte sie auf den Typen, welcher einen Meter vor ihr hockte und zwischen seinen Fingern in seine Faust linste. Schon ein paar Augenblicke später öffnete er die Finger und lies das zarte Insekt wieder frei. Die Motte verschwand innerhalb von Sekunden in der schwarzen Nacht. Poodjas Herz schlug wie wild gegen ihre Brust und als der Mann sich zu ihr herum drehte blieb ihr die Luft weg. Noch niemals hatte sie in ihrem ganzen erbärmlichen Leben etwas so schönes gesehen. Eigentlich war es ihr rätselhaft warum er ihr so atemberaubend schön vorkam, vielleicht war es auch nur die abendliche Stimmung, welche sie so wuschig machte, aber er schien einfach zu strahlen. Seine Augen leuchteten beinahe eben so wie die Sterne über ihnen, sein kinnlanges Haar hatte eine ähnliche, glänzende Farbe und sein Gesichtsausdruck war so, so, sie musste ein paar Minuten überlegen bis ihr das richtige Wort einfiel, er war weiß, unbeschrieben.

Was sollte sie jetzt tun? Einfach abhauen? Er sah nicht sonderlich gefährlich aus…eher niedlich.

Poodja schluckte und richtete sich langsam auf. Auch der Mann stand auf, er war etwas größer als sie und kam ganz unbeirrt auf sie zugelaufen. Durch sein seltsames Verhalten verwirrt ging sie einige Schritte rückwärts, trat in ein Erdloch, knickte ein und stürzte mit einem Ausruf der Überraschung zu Boden. Er kniete neben ihr nieder. Poodja bemerkte, dass er keine Schuhe trug. Er blieb einfach nur vor ihr hocken und wartete bis sie sich auf ihre Ellenbogen stützte um sich in eine sitzende Position zu bringen. Als sie nach oben sah, fiel ihr Blick direkt in seine Augen. Ihr stockte der Atem. Er streckte die linke Hand aus, wischte ihre Hand von ihrem Knöchel und betrachtete einen Moment die rote Prellung. Plötzlich schob er den rechten Arm unter ihre Taille und fasste mit der anderen Hand unter ihre Knie. Es war ein komisches Gefühl. Seine Haut war ganz kühl und Poodja wusste auch sonst nicht so wirklich, wie sie diese Geste verstehen sollte. Mit fragenden Augen sah er sie an.

„Vielleicht will er mir nur helfen.“, überlegte sie und lächelte zaghaft. Er lächelte zurück.

Vorsichtig streckte sie den Arm aus und wies zur Landstraße hin auf ihr Auto. Seine Augen folgten ihrem Finger, anschließend nickte er und wanderte mit ihr quer über das Feld hin zur Straße.

Behutsam lies er sie neben ihrem Wagen herunter, achtete sorgsam darauf, dass sie auch sicher stand und blieb einfach neben ihr stehen. „Kann ich dich wohin mitnehmen?“, fragte sie ihn jetzt.

Wieder lächelte er nur. „Gut, dann steig ein!“, meinte sie und öffnete die Beifahrertür.

Umständlich krabbelte sie über den Sitz und die Handbremse um vor dem Lenkrad Platz zu nehmen.

Auffordernd lächelte sie und klopfte neben ihr auf den Sitz. Endlich stieg er ein.

Als sie sich anschnallte, bemerkte sie, wie er alle ihre Bewegungen genau verfolgte und nachahmte.

Fertig angegurtet fuhr sie an und bretterte über die holprige Straße. „Wohin musst du denn?“, wollte sie nun wissen. Keine Antwort. Er starrte wie gebannt aus dem Fenster in die vorbeirauschende Nacht. Verwirrt sah sie wieder zurück auf die Straße. Sie verstand nicht, was gerade passierte und auch nicht was sie tat. Noch weniger verstand sie ihn.

„ He, sag schon wo wohnst du?“, fragte sie ihn ohne von der Straße aufzublicken. Schweigen.

Eine Weile wartete sie noch auf eine Antwort, dann seufzte sie und machte das Radio an.

Die Musik gefiel ihr nicht besonders, deshalb bat sie ihn ihr eine Kassette aus dem Handschuhfach zugeben. Wie sie es schon erwartet hatte rührte er sich nicht. Genervt beugte sie sich herüber und holte sie sich selbst, dabei fing sie einen verwirrten Blick von ihm auf. Sie schob die Kassette in das Abspielgerät. Es war eine Zusammenstellung von Liedern, welche im letzten Sommer in den Top20 gewesen waren.

Das erste Lied übersprang sie, dass zweite auch. Er bewegte sich, drückte vier Mal auf den Knopf und lauschte gespannt. Als der Rekorder „Lonely World“ spielte, wirkte er zufrieden und lehnte die Stirn gegen die kalte Scheibe. Sie fuhren nun in den nächsten kleinen Ort ein, es waren nunmehr nur noch zehn Minuten bis zu ihrem Haus, was sollte sie nur machen, wenn er gar nichts sagte? Ihn einfach in ihrer Ente sitzen lassen? Das ging doch nicht!
 

Das Lied beruhigte in auf irgendeine Art und Weise. Er war sich nicht sicher woher es kam, aber es gab ihm ein gewisses Gefühl der Vertrautheit. Genau wie sie. Immer noch fragte er sich im Kopf allerhand Dinge. Bei jedem unbekannten Gegenstand, welcher draußen an ihnen vorbeijagte wollte er wissen, was es war. Aber er wusste es nicht. Weder den Namen des Dinges in dem er saß, noch seinen eigenen. Ihm wurde langsam klar, dass er es nicht leugnen konnte und auch nicht leugnen durfte. Er verstand ja noch nicht einmal die Worte dieser…noch nicht mal die Bezeichnung für sie fiel ihm ein. Was war sie denn? Was war er denn?

Hoffnungsvoll drehte er sich zu ihr um, als sie anhielten.
 

„Wer bin ich?“

„Was ist mit mir passiert?“

„Wo komme ich her?“

„Wie bin ich hierher gekommen?“

„Was soll ich hier machen?“

Die Fragen kamen unvermittelt und ohne Vorwarnung, als sie in ihre Einfahrt fuhr und parkte.

Total perplex glotzte sie ihn an, fiel in ihren Sitz zurück und schloss danach erst einmal den Mund.

Es war also nicht so, dass er sie nicht verstehen konnte, das war ja schon einmal sehr praktisch.

Doch wieso diese Fragen? Konnte er sich wirklich nicht daran erinnern, wer er war?

Seiner Verzweiflung nach zu urteilen und auch seinem bisherigen Verhalten nach schien es so zu sein.

Schon wieder verstand sie nicht, was sie tat. Schwungvoll öffnete sie die Tür. Das alte Auto quietschte, als sie ausstieg. „Komm mit.“, rief sie und humpelte zu dem alten Tor, welches die Einfahrt verschloss und lies das Schloss einrasten. Wieder blickte er sie so verwirrt an. „Na komm schon, ich weiß nicht wieso, aber ich glaube dir und helfe dir herauszufinden wer du bist. Kann ja nicht so schwer sein.“ Er stieg nicht aus. Auf dem Weg die Treppe hinauf gab ihr verletzter Knöchel nach und sie wäre wahrscheinlich schlimm die Treppe heruntergefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte.

Im Flur legte sie ihren Mantel ab und zog die Schuhe aus. Da erinnerte sie sich wieder daran, dass er gar keine Schuhe trug. Vielleicht war er ja auch ein entflohener Irrer aus irgendeiner Pflegeanstalt?!

Flüchtig lugte sie in die Stube, wo er vor der Uhr stand und mit dem Fingernagel auf die Verglasung des Ziffernblattes klackerte. Nein, dachte sie jetzt und schüttelte den Kopf. Er verhält sich eher wie ein Kind, nicht wie ein Irrer. Sie machte sich durch ein Klopfen am Türrahmen bemerkbar und nickte ihm auffordernd zu. Dann führte sie ihn in den zweiten Stock, über die kleine, knarrende Treppe und über den schmalen Flur. Links lag ihr Zimmer, direkt vor der Treppe das ihrer Oma und rechts, so erklärte sie könne er schlafen. Leise schob sie sich durch die Zimmertür ihrer Oma, suchte ein paar Sachen von ihrem Großvater aus einer großen Holzkiste und kam wieder zurück. Das Gästezimmer war gemütlich, wenn auch klein. An der rechten Wand stand eine Kommode, links das Bett und vor dem Fenster ein niedriger Schreibtisch mit Stuhl und ein paar Schubladen. Der Mann betrat den Raum, schien sich einen Moment zu orientieren und drehte sich dann zu ihr um. Ungeduldig drückte sie ihm die Kleidung in die Arme. „Hier, ich gehe jetzt schlafen. Morgen sehen wir weiter, gute Nacht.“

Neugierig warf er die Klamotten aufs Bett und zog an einem Ärmel ein altes, graues Nachthemd hervor. Es waren sogar Rüschen daran. Poodja verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter ins Bad. Nachdem sie sich gewaschen und bettfertig gemacht hatte, viel ihr erst auf, wie müde sie war. Gähnend fiel sie oben in ihr Bett und wenn ihr nicht so viele Gedanken im Kopf herumgeschwirrt wären, wäre sie sicher schneller eingeschlafen.
 

Müde setzte er sich auf die Bettkante und streckte die langen Beine. Sein Blick fiel auf das Fenster.

Er stand wieder auf, ging näher heran und tastete den Rahmen ab. Irgendwo musste es ja aufgehen.

Nach einigen Minuten hatte er den Sinn des Fenstergriffs entdeckt und legte ihn um. Frische, klare Nachtluft blies ihm entgegen. Der Mond schien immer noch unbeirrt durch die vielen kleinen Wolken. Nachdenklich betrachtete er die Nacht, da flog etwas Winziges zu ihm herein. Es war eine Motte.

Irgendwie mochte er sie. Lange grübelte er darüber nach, wieso er sie so gern hatte, schließlich hatte er ja keine Ahnung was sie eigentlich waren. Es war im Grunde wohl auch nur ein Zeitvertreib um sich selbst von all den unangenehmen Dingen abzulenken, welche ihn sonst noch beschäftigten.

Erst, als es schon langsam wieder hell wurde ging er zu Bett. Obwohl er zunächst keine Verwendung für die seltsamen Gegenstände in seinem Zimmer gefunden hatte, ging er wie selbstverständlich ins Bett, als seine Lider langsam schwer wie Blei wurden, deckte sich zu und schlief schnell ein. Erst, als er wieder wach wurde, sich die Augen rieb und sich ganz arglos im Nacken kratzte, fiel es ihm auf. Sein Blick wanderte verschlafen über das dunkle Holz des Bettes. Er sah wieder weg und gähnte. Streckte sich und erstarrte mitten in der Bewegung. Es ist ein Bett. Schoss es ihm durch den Kopf. Ruckartig sprang er auf, warf sich herum und starrte das Ding aus Holz, nein das Ding mit Namen „Bett“ mit unverholender Freude an. Glücklich schmiss er sich auf den Boden, dass die Dielen krachten und drückte fest die Lippen auf das Bein des Bettes, während er die sehnigen Arme um das Gestell schlang. Dann drehte er sich auf den Rücken und lachte. Lachte, bis ihm der Bauch schmerzte und ihm die Tränen aus den Augen quollen.

Und bis das energische Räuspern an der Tür einfach nicht mehr zu überhören war.

Immer noch vor Glück strahlend drehte er der Tür den Kopf zu und lächelte die alte Dame an, welche im Türrahmen stand. „Hallo!“, rief er und setzte sich in einen Schneidersitz auf.

Die Alte runzelte die Stirn und sagte: „ Meine Enkelin sagte mir schon, dass sie ein komischer Vogel sind, aber das sie sich an meinem Erbstück vergehen!“ Der Mann schien kein Wort zu verstehen.

„Das ist ein Bett.“, meinte er bloß grinsend und erhob sich. „Ja, das ist ein Bett und sie tragen das Nachthemd meines Mannes junger Herr!“
 

Es war mal wieder ein ausgesprochen scheußlicher Tag. Nicht, dass es zu kalt wäre oder das es regnen würde, aber ein Tag in der Firma „Kowalskis“ war jeder Arbeitstag ein scheußlicher Tag.

Seufzend drückte Poodja auf den runden Knopf an der Aufzugtür und wartete bis sich die Türen auseinander schoben. Natürlich besserte sich ihre Laune auch nicht, als sie in das Meer tüchtiger Tippsen eintauchte. Ja, sie konnten wirklich tüchtig über andere Tippsen herziehen. „OHIII!“, rief die eine aus und zupfte an Poodjas Bluse. „Die ist ja tooool, ist die neu?“ Ohne ein Wort dazu beizutragen warf sie der vollbusigen Blonden einen bösen Blick zu und verlies den Lift schon in der dritten Etage. Noch, als die Türen sich schon geschlossen hatten, konnte sie das Gegacker der Kolleginnen in ihren Ohren schallen hören. „Aufgespritzte Stöckelgänse…“, fluchte sie leise und schloss die Bürotür auf.

Den ganzen Vormittag sortierte sie Akten und legte neue Ordner an. Sie räumte alle Kartons aus und stellte die Sachen an ihre Plätze. Gegen halb zwei machte sie dann Mittagspause. Doch sie ging nicht in die eigens für die Angestellten angelegte Mensa. Heimlich stahl sie sich über die Nottreppen auf das Dach des Zehnstöckigen Hauses und setzte sich einfach auf den harten Boden. Warm schien die Sonne auf ihr Gesicht. Ihre gelbe Bluse raschelte sachte, als eine Brise durch den linken Ärmel hinein fuhr und durch den rechten wieder heraus fegte. Langsam wickelte sie ihr Essen aus dem Butterbrotpapier und biss hinein. Vorsorglich kauend blickte sie auf die weißen Wölkchen vor ihr.

In diesem Moment zog ein Flugzeug über den Himmel.

Sehnsucht ergriff sie.

Sehnsucht nach ihren Brüdern, nach ihren Eltern, Sehnsucht nach Indien, nach ihrem Zuhause, nach ihren Freunden, nach Zuneigung.

Sehnsucht nach Anerkennung.

Ihre Augen brannten und sie wischte sich die Tränen aus dem Augenwinkel. Schnell wickelte sie ihr Essen wieder ein, rappelte sich auf und ging schlurfend wieder die Nottreppen herunter in das Büro ihres Vorgesetzten. Herr Bauermann saß da, über die Akten gelehnt und las eines seiner schmuddeligen Hefte. Natürlich wusste er nicht, dass sie es sehen konnte. Sie sagte auch nichts. Ging stumm an ihm vorbei und bückte sich nach seinem Kugelschreiber.
 

Schach war ein komisches Spiel. Er konnte sich anstrengen, wie er mochte, er konnte nicht gegen die Alte gewinnen. „Ha!“, gluckste sie und setzte ihn nun schon das fünfzehnte Mal Schachmatt. Zufrieden lehnte sie sich zurück. Lachend schüttelte er den Kopf. „Ich kann nicht gewinnen Neina!“, rief er. Neina zwinkerte nur. Die Tür ging und die junge Frau kam herein. Aus dem Gespräch der Alten Neina und ihr konnte er entnehmen, dass sie einen schlechten Tag gehabt hatte, denn es endete mit einem wütenden: „Ich will nicht darüber reden Großmutter, lass mich damit in ruhe!“ Anschließend wirbelte sie die knarrende Treppe rauf und knallte die Zimmertür. Unglücklich schüttelte die arme, alte Neina den Kopf. An diesem Tag hatten sie sich lange und ausgiebig unterhalten. Nun wusste er, was ein Auto war, er kannte verschiedene Baumarten, Gräser und Blumen. Aus einem Lexikon hatte er sich die unterschiedlichsten Dinge vorlesen lassen, bis er bemerkte, dass er auch selbst lesen konnte. Häufig fielen ihm die Dinge wieder ein, wenn er ein paar Zeilen darüber gelesen hatte.

Oh, es war wahnsinnig schön etwas wirklich zu wissen!

Nachdem Neinas Enkelin auch zum Abendessen nicht heruntergekommen war (Neina kochte göttlich), hatte er den Entschluss gefasst nach oben zu gehen und ihr etwas hochzubringen. Schließlich hatte sei ihm auch geholfen, da wollte er sie doch nicht verhungern lassen.

Schluchzend hockte sie auf ihrem Bett und drehte sich schnell von ihm weg, als er den Raum betrat.

„Geh weg!“, wimmerte sie. Sachte stellte er den Teller auf den Fußboden, schloss die Tür und setzte sich neben sie auf das Bett. „Ne maste.“, sagte er freundlich und zog eines ihrer langen, schwarzen Haare aus dem Mundwinkel. Diese Form der Begrüßung hatte er von Neina gelernt. Da er sehr ungeschickt war, löste sich dabei der ganze Haarknoten an ihrem Hinterkopf, sodass sich die schwarzen, seidigen Haare über ihren Nacken und die Stirn ergossen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund setzte sein Atem für ein paar Sekunden aus.

Mit verheulten Augen blinzelte sie ihn an. „Ent- ent- entschuldigung!“, stotterte er, zog beide Hände an die Brust und wurde puterrot im Gesicht. Schniefend strich sie sich das Haar aus den Augen und blinzelte noch einmal. „Ne maste.“, murmelte sie.
 

Er war wirklich hübsch, wenn er sie so ansah mit seinen silbernen Augen. Er schien neuen Mut gefasst zu haben und fragte sie all sogleich nach ihrem Namen. Nachdem sie ihm ihren genannt hatte fragte sie ihn auch nach seinem. Lächelnd schüttelte er nur den Kopf. In diesem Augenblick landete eine Motte auf seinem Unterarm. „Was ist das?“, wollte er wissen und betrachtete das zarte Insekt.

„Ein Nagelfleck, das ist eine Mottenart, die gibt es viel hier bei uns, wegen den Buchen im Vorgarten.“

Zustimmend nickte er, als sei es ihm wieder eingefallen. Sie wollte die Motte fortscheuchen, doch er hielt schützend die Hand davor und schüttelte den Kopf. Auf die Frage, wieso er das tat sagte er nur:

„Sie hat ein recht auf mir zu sitzen. Ich habe sie sehr gern.“ Nachdem sie eine Weile still nebeneinander gesessen hatten, erhob sich die Motte und segelte durch den Raum um sich auf dem Türrahmen niederzulassen. „Sie ist wie ich.“, erklärte er jetzt weiter. „Ohne zu wissen, wohin sie fliegt irrt sie solange herum, bis sie ihren Platz gefunden hat.“ Dann lächelte er sie strahlend an.

Ohne Grund brach Poodja in Tränen aus. Schüttete all ihren Kummer in seinen Schoß.

Klagte ihm ihr Heimweh, die Sehnsucht nach ihrem Platz, wo die Menschen waren die sie mochten und respektierten. Sie erzählte ihm von dem Ort namens Indien, wo sie aufgewachsen und glücklich gewesen war. Letztendlich sagte sie ihm sogar, dass sie hergekommen war um für die alte Neina zu sorgen und die Ausbildung für ihre Brüder zu finanzieren. „Es ging nicht anders!“, weinte sie. „Mutter arbeitet schon so hart und Vater ist doch so krank! Es ist meine Pflicht, aber…“, sie wischte sich verzweifelt mit dem Handrücken über Nase und Mund: „ … aber ich hasse es hier zu sein! Ich bin so einsam…“ Führsorglich nahm er sie in die Arme und legte das Kinn auf ihren Kopf. Streichelte solange ihr Haar, bis sie sich beruhigt hatte, dann legte er beide Hände auf ihre Arme und sah fest in ihre braunen Augen. „Ich habe keine Ahnung, wer ich bin.

Doch trotzdem weiß ich, was ich tun muss um zu sein, wie ich bin. Dir muss es doch noch leichter fallen, ich meine, du weißt deinen Namen, dann sei doch auch einfach du! Wenn dein Vorgesetzter und deine Kollegen die kleine Frau Nehru ärgern, dann musst du doch einfach Poo sein, dann sehen sie, wie klug und schön du bist!“ Er hatte sehr energisch und eindringlich, doch mit ruhiger, starker Stimme gesprochen. Es machte ihr Mut. Viel Mut. Poodja nickte heftig. Warum hatte sie ihm nur alles erzählt? Sie kannte ihn doch gar nicht und trotzdem war er ihr so vertraut.

Er war aufgestanden um ihren Teller vom Boden zu holen, da fiel sein Blick in ihr Bücherregal und wurde wie magisch von einem dicken, blauen Buch angezogen. Sorgsam zog er das verstaubte Buch zwischen all den anderen hervor und ging zu ihr zurück. Ohne die Augen von dem Buch zu nehmen gab er ihr den Teller in die Hände und schlug es auf. Es war ein Buch über Falter. Langsam blätterte er die Seiten durch und betrachtete die Bilder und Namen. Das Gefühl, etwas Wichtiges erwarte ihn zwischen den Deckeln dieses Buches lies nicht nach. Allerdings war des sehr dick, sodass er noch nicht fertig war, als sie aufgegessen hatte. Müde hob sie die Hand vor den Mund. Zärtlich schloss er die Seiten wieder zwischen den Buchdeckeln ein und widmete ihr seine Aufmerksamkeit. „Nimm es ruhig mit.“, lächelte sie matt. Man sah ihr an, dass sie es nicht gewohnt war zu lächeln. Er wollte sie gern küssen und fand auch nichts Schlechtes dabei, deswegen nahm er ihren Teller, küsste sie auf die Stirn und verlies das Zimmer nachdem er ihr eine gute Nacht gewünscht hatte. Ihre Großmutter schlief schon, darum verzog er sich nun auch in sein Zimmer und blätterte noch etwas in den Seiten seines Buches, bevor er schlafen ging.
 

Es war ein ausgesprochen schöner Morgen. Poodja fühlte sich wie verwandelt. Seine Worte gestern hatten ihr auf eine absonderliche Art und Weise Trost und Hoffnung gebracht. Manchmal tat es einfach nur gut, wenn jemand wirklich zuhörte. Einfach nur zuhörte, bis zum ende ohne überflüssiges Gelaber. Glücklich stieg sie aus ihrer kleinen Ente, flitzte über den Parkplatz und durch die Drehtür.

Schnell ging sie noch einmal auf die Toilette. Während sie sich die Hände mit Paperhandtüchern trocknete fiel ihr Blick in den Spiegel, welcher über den Waschbecken hing. Eine miesepetrige, unattraktive Inderin mit streng zurückgekämmter Frisur stierte zurück. Sie stellte sich gerade hin, legte den Kopf schief und versuchte an dieser Frau irgendetwas Poo- Haftes zu entdecken. Zu ihrem Entsetzen war nichts, aber auch rein gar nichts, was sie ausmachte zu erkennen. Zuerst zaghaft, doch dann etwas mutiger löste sie alle Haarklammern, wuschelte die Haare durch, warf den Kopf vorne über, kam wieder hoch und grinste befriedigt in das wunderschöne Antlitz Poodja Nehrus. Zufrieden mit sich und der Welt öffnete sie noch den obersten Knopf ihrer roten Bluse. Währenddessen schlenderte sie rüber zum Aufzug, drückte den Knopf und wartete. Die Türen schoben sich zu beiden Seiten auseinander und sie schob sich wie jeden Morgen zwischen die geifernde Meute Tippsen. „Oi Frau Nehru!“, geierte die Blonde wie jeden Morgen. Doch diesmal lies sie sie nicht zu ende kommen, sonder drehte sich um und sagte nett und höflich wie sie war: „Ohiii! Frau Krömer, was haben sie doch für bombastische Brustimplantate! Sagen sie, sind die neuuiii oder haben sie ihren BH nur mit einem Teil ihrer Dauerwelle ausgestopft? Diese scheint ja etwas platt heute, nicht war meine Liebe?“ Dem Ganzen setzte sie noch ein zuckersüßes Lächeln hinterher. Die Türen öffneten sich, sie betrat den Flur des fünften Stockwerkes und lies die Tippsen mit offenen Mündern weiterfahren. Diesmal war kein schallendes Gelächter zu hören. Nur Stille. Sagenhafte Stille!

An diesem Vormittag tippte sie Geschäftsbriefe und bereitete die Präsentation vor, welche Herr Bauermann heute Nachmittag vorstellen sollte.
 

Seine Augen hätten diese Seite wahrscheinlich genauso überflogen wie jede andere, hätte sich auf diese Seite nicht eine Motte niedergelassen. Das Tierchen lies sich auch nicht fortwischen, als wollte es unbedingt, dass er diese Seite las. „Also gut.“, lächelte er und begann zu lesen. Satz für Satz wurden seine Augen größer, sein Atmen heftiger, Zeile für Zeile rasten Bilder durch seinen Kopf:
 

Der Nagelfleck

Aglia Tau
 

Die Grundfarbe ist beim Männchen ockergelb, beim Weibchen etwas heller. Den etwas dunkleren Flügelsaum grenzt eine schwarze Binde ab. Im Zentrum beider Flügelpaare befindet sich eine blau-schwarze Augenzeichnung mit einem zentralen Nagel- oder T- förmigen Fleck (Name!). Der Rüssel ist stark reduziert. Die Art kommt vorwiegend in Buchenwäldern vor. Flugzeit ist April/ Mai. Es kommt 1 Generation vor. Auf der Suche nach den Weibchen streifen die Männchen lichte Buchenwälder. Sie nehmen keine Nahrung auf. Die Raupen ernähren sich von Buchenblättern, die v. a. in den Baumwipfeln abgeweidet werden. Die Verpuppung erfolgt am Boden in einem leichten Gespinst.
 

Regungslos saß er da. Wartete auf die große Freude über sein zurück gewonnenes Leben. Es geschah nichts. Mühsam schloss er das Buch. Die kleine Motte flatterte um ihn herum, während er in den Garten ging. Neina drehte sich in ihrem Gartenstuhl herum und betrachtete ihn mit merkwürdig wissendem Blick. „Mein Name ist Aglia.“, sagte er tonlos. Sie schwieg. Traurig kaute er auf seiner Lippe herum. „Musst du denn wirklich zurück?“, fragte die Alte, welche aufgestanden war und nun die rechte Hand auf seine linke Wange legte. Mit feuchten Augen nickte er und versuchte zu antworten. Das erste Mal wollte seine Stimme nicht so recht, doch dann flüsterte er erstickt: „ Ich bin nur hergeschickt worden um ihr eine neue Chance zu geben. Ich soll jetzt zurückkehren.“ Die kleine Motte flatterte um sein weißes Haar herum und setzte sich darauf. Neina setzte sich wieder in ihren Stuhl.

Es bedurfte keinerlei Worte mehr, denn sie wussten das Worte alles nur noch schwerer machten.
 

Voller Energie schritt sie Punkt Vier Uhr in den Präsentationsraum. Allerdings drückte sie Herrn Bauermann nicht wie es geplant war ihre Entwürfe und Grafiken in die Kralle. Selbstverständlich hatte sie ihm auch keinen Spickzettel geschrieben. Mit einem eleganten Beinüberschlag platzierte sie sich neben Herrn Kowalski und grüßte diesen durch ein freundliches Nicken. „Also dann Herr Bauermann, beginnen sie mit der Vorstellung unserer neuen Sommerkollektion! Wenn ich hier noch einfügen darf“, er wandte sich an die Aktionäre und Warenhausbesitzer: „das sein Informationsmaterial wirklich eine Wucht war. Also Herr Bauermann, wir sind gespannt. Ja gespannt!“ Mit süßer Schadenfreude bemerkte Poodja, wie nervös Herr Bauermann war. Die Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Stotternd versuchte er etwas zu sagen, doch es gelang ihm nicht etwas Vernünftiges hervorzubringen. Enttäuscht runzelte ihr Chef die Stirn. „Herr Bauermann!“, rief er vorwurfsvoll. Bei sich dachte Poodja nun, dass es jetzt wohl reichte und stand auf. Sie trat neben den Oberhandprojektor und legte die erste Folie auf. Erleichtert wischte Herr Bauermann sich den Schweiß von der Stirn. Ha, zu früh gefreut, triumphierte sie und sah in seine Richtung. Noch während sie Blickkontakt hielten begann sie zusprechen. „Guten Tag meine Damen und Herren! Ich möchte ihnen heute eine ganz besonders frische und moderne Art der Kücheneinrichtung näher bringen!“ Herr Bauermann wurde kreidebleich.

Wie ein begossener Pudel hatte er die ganze Präsentation lang da gesessen und zugesehen.

Am Ende des Arbeitstages hatte er mit Kowalski noch ausgiebiges Gespräch und wurde schließlich entlassen. Sein Büro sollte nach einem einwöchigem Urlaub Poodja Nehru zugesprochen werden. Herr Kowalski hatte sich sogar für Bauermann entschuldigt. Als sie aber nach Hause kam, fröhlich pfeifend und sehr glücklich über ihr eigenes Selbstbewusstsein, als sie ihre Großmutter traurig dasitzend im Wohnzimmer fand, ohne den jungen Mann dem sie all das zu verdanken hatte, da ergriff sie große Angst. Was war, wenn sie ihre Selbstsicherheit wieder verlieren würde? Was war, wenn alles wieder so werden würde wie noch vor zwei Tagen? Und was war, wenn ihm etwas Schlimmes passiert war…?

Diese Fragen warf sie natürlich auch Neina an den Kopf, welche ihr darauf erzählte, dass er nur gekommen war um ihr zu helfen. Das er nun wusste wer er war und zurück nach Hause kommen soll.

„Nach Hause?“, murmelte sie. „Natürlich!“ So schnell sie konnte fegte sie die Treppe runter in den Hof, sprang in ihre alte Ente, drehte den Zündschlüssel um und bretterte los. Gerade, als der Mond über den Feldern aufging hielt sie an eben dem Feld, an welchem sie den jungen Mann gefunden hatte, stieg aus und holperte hastig den Abhang herunter. Tatsächlich stand er regungslos mit dem Kopf gen Himmel da. Seine Augen waren geschlossen und er sang. Überrascht blieb sie stehen um ihm zuzuhören. SO etwas hatte sie noch niemals zuvor gehört. Seine Stimme war klar und es schien, als sänge er nicht allein. In diesem Augenblick, als das Mondlicht auf seinen Rücken fiel und alles an ihm zum leuchten brachte, entfalteten sich zwischen seinen Schultern zwei große, weiße Schwingen.

Obwohl sie so etwas noch niemals gesehen hatte, riss sie sich von ihren Gedanken los und rannte auf ihn zu. „Aglia!“, schrie sie so laut sie konnte. „AGLIA!“ Aglia drehte sich herum und sah ihr entgegen. Das war das erste Mal, dass sie ihn mit traurigen Augen sah. Fragend öffnete sie den Mund, doch er legte ihr den Finger auf die Lippen. Seine Haut war ganz kalt. Auch ihm rollten die Tränen über die Wangen. „Ich würde wirklich gern bei euch bleiben Poo. Aber ich kann nicht.“ „Wieso nicht? Spricht das gegen Aglia?“ Verwundert betrachtete er sie. Anschließend schüttelte er den Kopf und lächelte zaghaft. Auffordernd streckte sie ihm die schlanken Finger hin. Schließlich breitete sich wieder dieses gewaltige Strahlen auf seinem Gesicht aus, erpackte ihren Arm und zog sie an sich. „Ich habe mich um den Job hier gerissen, weißt du das Poo?“, erzählte er ihr liebevoll. „Selbst, wenn ich mein Gedächtnis verliere, wenn ich zur Erde gehe, habe ich gesagt, selbst dann will ich der lieben, süßen, kleine Poo helfen!“ Sie wurde ganz rot im Gesicht und fragte ihn dann nach dem Grund. Zärtlich lächelte er und flüsterte ihr dann geheimnisvoll ins Ohr: „Ich liebe dich, wie die Motten das Licht.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Yinyin24
2014-11-11T10:45:44+00:00 11.11.2014 11:45
Süß das FF ist gut gelungen. Lg yinka*kuss*
Antwort von:  Madakind
11.11.2014 14:38
Vielen Dank :-) Nach so langer Zeit ^^ Hehe.
Antwort von:  Yinyin24
11.11.2014 16:29
Ja hehe stimmt wohl, egal ich lese es zwischendurch sehr gerne. Hab ich aus Zufall ausgesucht und konzentriert durchgelesen. Hast du jut gemacht. Hut ab! ^-^


Zurück