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Traumfänger

Lebe deinen Traum - ein Jahr lang
von

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Unerwartet

„Hinata! Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was in dich gefahren ist! Hast du nicht einmal den Funken einer Vorstellung von der Sorge, in der dein Vater und ich uns befunden haben!“

Ich wusste nur zu gut, dass die Sorge meines Vaters sich darauf beschränkt hatte, auf den Küchentisch zu schlagen und in übertriebener Lautstärke eine Predigt über seine missratene Tochter zu halten, die einfach so nach Amerika flog und sich zwei Tage lang nicht meldete. Darum konnte ich das Telefon ohne Bedenken von mir halten, um mich vor einem Gehörsturz zu bewahren. Wie ich von einer Mutter mit einem derart lauten Organ abstammen konnte, war mir ein Rätsel.

Die Standpauke dauerte noch knappe drei Minuten, dann wurde ihr der Atem knapp und sie musste das Telefon kapitulierend dem nächsten Familienmitglied abtreten, das mich verbal in Grund und Boden stampfen wollte.

Ich wappnete mich innerlich für alles.

„Oh mein Gott, Hinalein, ich wusste es! Er hat dein Outfit gesehen, ist über dich hergefallen und du rufst jetzt an, um von euren Heiratsplänen zu erzählen! Yeah! Also hat meine Erziehung doch etwas gebracht, dafür bestehe ich aber auf das Amt der Brautjungfer!“

Ich korrigiere, ich war für fast alles gewappnet gewesen. Meine kleine Schwester ist die Art von Katastrophe, die man erst erkennt, wenn alle Hoffnung auf Rettung dahin ist. Wie der Eisberg für die Titanic.

Entnervt ließ ich mich auf mein Bett sinken.

„Hanabi“, unterbrach ich ihre Spekulationen über die Farbe von Narutos Boxershorts. „Entweder du sagst jetzt etwas Sinnvolles oder ich lege auf.“

Ihr Kichern ließ mich das Telefon erneut einige Zentimeter von meinem Ohr entfernen. „Ach, jetzt sei nicht so eine Spaßbremse! Du weißt doch, wie aufgedreht ich nach dem Morgentraining bin! Aber jetzt raus mit der Sprache: Wie ist er? Und wehe, du verschweigst mir nur ein einziges Detail!“

Ich kannte ihre übermütige Stimmung nach den Schwertkampfstunden bei meinem Vater nur allzu gut, die nicht zuletzt daher rührte, dass er sie auf einen Sockel stellte und – für seine Verhältnisse – mit Lob überschüttete. Wäre sie nicht wirklich die vielfach Talentiertere und auch Engagiertere von uns gewesen, hätte selbst ich von einer „Lieblingstochter“ gesprochen.

„Ich vergöttere ihn“, sagte ich schlicht und legte mich auf den Rücken.

„Als wäre das etwas Neues.“

„Nein, ich meine nicht den Rockstar Naruto Uzumaki, den jeder Teenie auf Postern anhimmelt. Ich liebe den Mann, der alltägliche Neckereien mit seiner Frau austauscht. Der seine Tochter auf Händen trägt. Der Reisetaschen von Walmart besitzt und Nachos zusammen mit Zuckerwatte isst. Der … sein krankes Au-pair nett behandelt, obwohl es sich wie der letzte Idiot aufführt.“

„Ich will alles hören, Schwesterlein!“ Ihre Aufregung schien über den Pazifik bis zu mir hinüberzuschwappen.

So kam es, dass ich einen Großteil des Nachmittags damit verbrachte, Hanabi ins Bild zu setzen. Und zwar wirklich über alles. Wenn sie etwas interessiert, ist sie durchaus fähig, mehrere Minuten lang den Mund zu halten und sogar einige produktive Kommentare abzugeben.

Gerade war ich damit beschäftigt, Narutos herrliche Grübchen zu beschreiben und dabei wie ein Teenager mit meinen Haaren zu spielen, als es an meiner Zimmertür klopfte. Ich verstummte schlagartig und betete zu allen Göttern – an die ich nicht glaubte – dass ich leise gesprochen hatte.

„Hinata?“, erklang Sakura glockenhelle Stimme. „Jay ist gerade von seinem Mittagsschläfchen aufgewacht. Würdest du ihn gern kennen lernen?“

Meine Stimme überschlug sich vor Eile, ihr zu antworten. „A-Aber natürlich! E-Einen Moment noch!“

Rasch setzte ich mich auf und suchte nach meinen Schuhen, während ich ins Telefon flüsterte. „Entschuldige, aber ich muss jetzt Schluss machen. Sag Mom und Dad schöne Grüße von mir und dass es mir gut geht.“

„Aber gern doch. Von mir auch die besten Wünsche an unseren Sexgott … plus Familie. Und wenn ich dir einen Tipp geben darf: Wenn du seine Kinder für dich gewinnst, ist der Mann auch nur noch eine Frage der Zeit“, grinste sie.

„Dann ist das wohl der Grund, weshalb du noch keine langwierige Beziehung hattest“, sagte ich amüsiert. Dann legte ich auf und verließ mein Zimmer.

Sakura erwartete mich mit einem modelwürdigen Lächeln.

„Hast du mit deiner Familie telefoniert?“, erkundigte sie sich, wie immer um Small Talk bemüht.

Ich nickte und machte den Versuch, das Lächeln nur halb so schön zu erwidern. „Sie waren ein wenig besorgt, weil ich erst jetzt die Zeit dazu gefunden habe. Meine kleine Schwester richtet übrigens ihre Grüße aus.“

Scheinbar mühelos brachte sie es zustande, mir ununterbrochen ins Gesicht zu sehen und dennoch den Weg zum Kinderzimmer zu finden.

„Wie nett von ihr. Darf ich fragen, ob sie noch zur Schule geht?“

„Ja, sie ist jetzt vierzehn. Nach ihrem Abschluss wird sie die Familienehre retten und das Familienunternehmen übernehmen, falls ich bis dahin nicht bekehrt wurde.“

„Es ist doch schön, wenn jeder das tut, das ihm liegt und wobei er sich wohl fühlt.“

Ich war überrascht von ihrer Freundlichkeit, die ich in meinen Augen so gar nicht verdient hatte. Auch das bemerkte sie sofort und schob das Thema mit einem unverbindlichen Lächeln beiseite, um mich nicht in Verlegenheit zu bringen.

„Ich hoffe, dein Studium hilft dir im Umgang mit Jay weiter. Er kann bisweilen ein wenig schwierig sein.“

Wir hatten das Kinderzimmer erreicht, einen hell gestrichenen und mit zahlreichen Plüschtieren dekorierten Raum, der mit der Holzdecke und den großen Fenstern einen restlos fröhlichen Eindruck machte. An der Stirnseite stand ein Kinderbett aus importiertem Mahagoniholz, auf das Sakura mich mit einer einladenden Geste hinwies.

„Vielleicht hältst du anfangs etwas Abstand, aber er wird sich sicher an dich gewöhnen.“

Ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb das Fleisch und Blut Narutos in irgendeiner Weise „schwierig“ sein sollte. Dennoch beherzigte ich Sakuras Hinweis und trat sehr langsam an das Bett.

Und konnte nicht anders, als entzückt beide Hände an meinen Mund zu legen, als ich ihn erblickte.

„Aaaahn! Spielen, spielen!“, krakelte es.

Das vergnügt vor sich hinstrampelnde Kind war das exakte Abbild seines Vaters. Aus großen, azurblauen Augen blickte es zu seinem Begrüßungskomitee in die Höhe und unterstrich seine Aufforderung mit ausgelassenen Gurgelgeräuschen.

„Jay, das ist Hinata. Sie wird sich ab heute um dich kümmern. Also vertrag dich mit ihr, ja?“ Sakura sprach in demselben mütterlichen Tonfall, den sie mir gegenüber verwendete. Ebenso sanft waren ihre Bewegungen, als sie den blondhaarigen Jungen aus der Wiege hob und ihn dann in meine Richtung bewegte.

Ich hob vorsichtig, beinahe andächtig, eine Hand von meinem Mund und streckte sie Jay entgegen. Dabei war ich peinlichst genau darauf bedacht, mich nicht hektisch zu bewegen, und das Baby damit möglicherweise zu verschrecken. Wie könnte ich es mir je verzeihen, die Sympathie dieses vollkommenen Nachkommens meiner großen Liebe mit simpler Ungeschicktheit zu verspielen? Meine Finger bebten vor Unsicherheit, als ich seine Wange hauchzart berührte.

„Hallo, Kleiner“, flüsterte ich. Ich wollte gerade irgendeinen peinlichen Ausdruck in Babysprache folgen lassen, als ein siedend heißer Schmerz in mein Handgelenk fuhr.

Allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz entfuhr mir ein spitzer Schrei.

Jay fuhr ungerührt damit fort, seine kleinen Fingernägel krallenartig in meinen Unterarm zu rammen. Seine Augen klebten an dem rosa Haarband, das ich mir in der Eile um das Handgelenk gewickelt hatte, um der Lächerlichkeit meines Aussehens zumindest einen kleinen Abbruch zu tun. Für Jay schien es allerdings eine Anziehungskraft zu besitzen, wie helles Licht auf Moskitos.

„Haben! Haben!“, forderte er strahlend.

Die Rührung drohte, mich zu überwältigen und als verzückt quietschendes Bündel zu Boden zu schicken. Er hatte tatsächlich dasselbe wundervolle Funkeln in den Augen, wenn er sich freute!

Ich nahm das Haarband und legte es in Jays ausgestreckten Arme. Sofort erhöhte sein Gurgeln sich um eine Oktave und er warf seine Beute ungeschickt in die Luft, um sie anschließend wieder aufzufangen.

„Aaaaahn! Spielen! Mit mir!“, erklärte er und deutete mit der freien Hand auf mich.

Da traten mir die Tränen in die Augen; es hätte nicht viel gefehlt und ich hätte ihn auf der Stelle zu Tode umarmt. Ich war tatsächlich in der Lage, etwas richtig zu machen!

„Wirklich erstaunlich, dass ich das noch einmal erleben darf!“, bemerkte Sakura. Mir war gar nicht aufgefallen, wie überrascht sie das Geschehen beobachtet hatte. „Seine gewöhnliche Umgangsweise mit Fremden beschränkt sich darauf, sie mit Spucke und Erbrochenem zu bombardieren, bis sie die Flucht ergreifen. In Zukunft drücke ich jedem ein Haarband in die Hand, der sich ihm nähert. Das sollte unsere Reinigungskosten deutlich eindämmen.“

Rasch wischte ich mir die Tränen fort, ehe ich ihr zulächelte und hilflos mit den Schultern zuckte.

Sakura war taktvoll genug, mir in meiner grenzenlosen Überwältigung kein Gespräch aufzwingen zu wollen.

„Ich denke, du solltest seine Bitte erfüllen, bevor er es sich noch mal anders überlegt. Spielt doch dort drüben miteinander“, sagte sie mit einem Wink auf den hinteren Bereich des Kinderzimmers, in dem auf einem weichen Teppich allerhand Stoffpuppen aufgetürmt waren. Herausgequollener Schaumstoff zeugte vom Zerstörungsdrang des Uzumaki-Spross.

Einige Minuten beaufsichtigte sie uns noch, doch es wurde schnell klar, dass Jay mich offiziell in den Rang eines annehmbaren Menschen erhoben hatte, sodass Sakura sich schließlich entfernte.

Was genau der Grund dafür war, dass Jay mich nicht wie die meisten seiner Mitmenschen für eine Ausgeburt der Hölle hielt, die es mit den Waffen eines einjährigen Kindes zu vernichten galt, kann ich bis heute nicht sagen. Wir haben später oft versucht, ihm andere Menschen mithilfe eines rosa Haarbandes schmackhaft zu machen, doch es genügt wohl zu sagen, dass diese sich für den Rest ihres Lebens keinem Kleinkind mehr ohne ausreichenden Sicherheitsabstand näherten. Bei späteren Gelegenheiten fiel mir lediglich eines auf: Jay hatte ein feines Gespür für die Produktion von Stresshormonen und drängte stets in meine Richtung, wenn ich wieder einmal kurz vor einem Nervenzusammenbruch mit puterroten Gesicht herumwankte. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass er einen immensen Beschützerinstinkt entwickeln würde.
 

Am Abend verstand ich zum ersten Mal, wie meine achtzigjährige Großmutter sich nach einem schwülen Sommertag fühlte. Nach dem langen Ausharren in gebückter Haltung zwangen mich höllische Rückenschmerzen zu einer gebeugten Körperhaltung und regelmäßigem Nachziehen eines Beines. Mein schweinchenrosa T-Shirt war mit Milchflecken übersät, ich roch nach dem Chlorwasser im Pool und alles, was ich wollte, waren eine Dusche und mein Bett. Doch ich hatte meine Rechnung ohne den überschäumenden Unternehmungsdrang meines Angebeteten gemacht.

„Hinata Hyuga sofort an der Haustür antreten!“, hörte ich seine herrliche Stimme trompeten, kaum dass ich mich mit einem Sandwich in meinem Zimmer verkrochen hatte.

Es war Abend. Zeit, mich mit ins Musikstudio zu nehmen und mich den Bandmitgliedern vorzustellen. Apokalypse, ich komme.

„Nein!“, stöhnte ich in mein Kissen und zog mir die Decke über den Kopf. Wann waren die höheren Mächte denn endlich davon überzeugt, mich genügend Blamagen ausgesetzt zu haben? Doch mich einfach zu weigern, war unmöglich – absolut unverzeihlich, nicht in meinem Handlungsbereich vorhanden!

So kam, was kommen musste: Mit einem halb verzehrtem Salamisandwich und notdürftig gekämmten Haaren stolperte ich aus der Villa, nur um mich an einem der Rosenbüsche aufzuhängen und mir somit ein faustgroßes Loch in die uralte Jeans zu reißen. Hinter dem schmiedeeisernen Tor parkte eine mattschwarze Stretchlimousine, an die – das Herz wollte mir aus der Brust springen und ich gleich hinterher, nur um von hier wegzukommen – Adonis in Menschengestalt lehnte. Eine schwarze Lederjacke und eine ebensolche Hose am Körper, strich er sich lässig durch das zerzauste, blonde Haar.

„Na, bereit für einen kleinen Ausflug?“, grinste er mir entgegen.

Das war mehr als ausreichend, um meine Koordination restlos außer Gefecht zu setzen. Der linke Fuß rutschte mir auf einer Steinplatte weg und noch bevor ich einen Schrei von mir geben konnte, fand ich mich auf dem Boden wieder.

Naruto lachte und ich konnte nicht verhindern, dass mich dies für all die Peinlichkeit entschädigte.

„Ganz so berühmt bin ich dann doch nicht, dass man vor mir auf die Knie fallen muss!“

Mit hochrotem Kopf rappelte ich mich auf und hielt mich an der Limousine fest. Ich hatte vorgehabt, seinen Blick zu meiden, doch als er mir eine edel verzierte Autogrammkarte unter die Nase hielt, war es um mein Vorhaben geschehen.

„W-Was?!“, stammelte ich und starrte erschrocken von dem Papier zu seinem Gesicht und wieder zurück. Kein Zweifel, das war die größte und teuerste Autogrammkarte, die von Crisis Core im Umlauf war. DIN A 4 Format, eine Vollaufnahme von Naruto auf einem Motorrad und darüber stand in krakeliger Schrift „An mein Au-pair mit dem Zauberhaarband“.

„Ich hab dir doch eins versprochen! Und nach dem, was du mit meiner kleinen Massenvernichtungswaffe Jay angestellt hast, ist das doch selbstverständlich.“ Naruto zwinkerte mir zu, dann öffnete er die Autotür und wies nach drinnen. „Wenn ich nun bitten dürfte, Mylady.“

Jede Zelle meines Körpers bebte, als ich umständlich in die Limousine kletterte. Ich brauchte drei Versuche, um den Sicherheitsgurt zu schließen, was Narutos Ansicht nach völlig überflüssig war. Doch mir fehlten die Worte, ihn über die Sterblichkeitsrate eines Autounfalls aufzuklären. Ich war absolut sprachlos und saß verkrampft in meinen Sitz gedrückt, das Autogramm fest in den Händen, und ließ mich vom wilden Hämmern meines Herzens durchrütteln, während Naruto fröhlich vor sich hinschwatzte. Jedes Mal, wenn er ein Wort betonte, wenn er die Stimme hob oder mich einfach nur auf eine bestimmte Art ansah – meine Speicheldrüsen begannen aus allen Rohren zu feuern und jede Faser meines Körpers schrie „Er oder keiner!“.

Als wir das Studio erreichten, fühlte ich mich gerädert. Meine Schwierigkeiten beim Aussteigen lagen ausnahmsweise nicht allein an mangelnder Körperbeherrschung.

„Wir sind in etwa zwei Stunden wieder hier“, wies Naruto den Fahrer an. Er folgte amüsiert meinem Blick auf den unförmigen Betonbau auf dieser menschenleeren Straße. Sacramento war eine Großstadt und Crisis Core alles andere als eine ärmliche Musikgruppe. Was sollte also dieses schmucklose Gebäude in einer Gegend, in der Junkies und ähnlicher Abschaum der Gesellschaft verkehrten?

„Nichts ist so nervtötend wie Paparazzi und Groupies“, erklärte Naruto. „Lieber lauf’ ich an ein paar bekifften Obdachlosen vorbei, als alle fünf Schritte ein Interview zu geben. Geheimhaltung ist die oberste Regel in dem Geschäft, Hinata. In unserem offiziellen Studio verbringen wir vielleicht ein Zehntel unserer eigentlichen Arbeitszeit. Schlau, nicht?“

Das war es in der Tat. Doch eine Sache beunruhigte mich. Ich nahm all meinen Mut zusammen und räusperte mich.

„Und wenn irgendein Junkie auf dich losgeht?“ Meine Stimme klang hoch und kindlich vor krankhafter Sorge.

Ein schmunzelndes Lachen war zu hören.

„Weißt du, ich vertraue Choji gern mein Leben an, auch wenn seine Hauptaufgabe aus Kaffeekochen besteht.“

Im selben Augenblick schob sich eine wuchtige Gestalt aus dem Schatten heraus ins Licht der fahlen Straßenlaterne. Nur mit Mühe konnte ich ein Quietschen zurückhalten. Der Mann trug einen schwarzen Anzug und hatte sich derart geschickt im Hintergrund aufgehalten, dass ich ihn schlichtweg übersehen hatte. Er musste in der Limousine in einer anderen Kabine mitgefahren sein, anders konnte ich mir sein Auftauchen nicht erklären.

„Guten Abend, Lady Hinata“, brummte er freundlich und biss von einem Schokoriegel ab. Trotz der Furcht einflößenden Gestalt wirkte sein feistes Gesicht freundlich; ich atmete wieder aus. Es war mir lieber, den hauseigenen Bodyguard unter diesen Umständen kennen gelernt zu haben, als in einem Ernstfall, denn sein starker Körperbau ließ auf deutliche Gewaltbereitschaft schließen.

Wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, stand die Inneneinrichtung des Studios im krassen Gegensatz zur Fassade. Der Fußboden war mit glänzendem Parkett ausgelegt und mehrere moderne Hängelampen verbreiteten angenehmes Licht. Der Flur mündete in einer breiten Tür, die Naruto mithilfe eines Fingerabdruckscanners öffnen musste. Anschließend öffnete sich das wuchtige Tor elektronisch und gab den Blick frei auf das eigentliche Musikstudio.

Dass Crisis Core aus nicht gerade reinigungsfanatischen Mitgliedern bestand, war mir klar gewesen. Ebenso Narutos Hang zu einer großzügigen Auswahl an Accessoires und gemütlichen Möbeln. Was sich meinen Augen nun bot, übertraf jedoch alles, zu dem mein Vorstellungsvermögen imstande gewesen wäre.

In dem weitläufigen Saal waren sämtliche Wände mit düsteren Verzierungen übersät: Totenköpfe, alte Schwerter und Poster von Metal Bands reihten sich aneinander. Mitten im Raum befand sich eine überdimensionale Sitzgelegenheit, auf der sicher die Einwohnerschaft meines gesamten Heimatdorfes Platz gefunden hätte. In der Ecke standen eine nicht minder protzige HiFi-Anlage und direkt daneben der größte Flachbildschirm, den ich je gesehen hatte. Gestochen scharf lieferten zwei Footballteams sich dort ein Match. Die Auflösung erlaubte mir sogar eine detaillierte Analyse der Hautreinheit jedes Spielers.

Und auf der lederbezogenen Sitzlandschaft verfolgten die restlichen Mitglieder von Crisis Core bewaffnet mit zwei Kästen Bacardi und einer Vorratspackung Chips das Spiel.

„Mann, jetzt renn doch! Renn, verdammt noch mal!“, brüllte der braunhaarige Neji und hielt seine Flasche so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel noch heller hervortraten, als es seine Haut ohnehin schon war. Seine Groupies nannten den Bassist nicht umsonst einen Vamp.

Neben ihm trommelte Gaara hoch konzentriert mit den Fingerspitzen gegen seine Stirn. Dort befand sich eines seiner vielen Markenzeichen: Eine blutrote Tätowierung in Form des japanischen Schriftzeichens für Liebe. Insgeheim war ich der Meinung, dies war lediglich ein Versuch, seine schlechte Kindheit zu verarbeiten oder Ähnliches. Ein gewisses Maß an Wahnsinn war ihm nicht abzusprechen.

„Johnson holt ihn ein, wart’s nur ab“, zischte er mit seiner rauen Stimme, die sich hervorragend mit der Narutos ergänzte.

Einzig der Dritte im Bunde zeigte kein Interesse an dem Bildschirm. Er war zu beschäftigt damit, seine Drummsticks zwischen den Fingern zu balancieren. Nur ab und an nickte er mit dem Kopf, was seinen dunklen Zopf auf und ab wippen ließ. Das war das Image von Shikamaru Nara: Mir ist alles egal.

„Hey, Jungs! Da wär’ ich!“, verkündete Naruto lautstark, da der Ton des Fernsehers abnormal stark aufgedreht war.

Er wollte noch etwas hinzufügen, doch der Moderator des Spiels unterbrach ihn: „Francis läuft, Johnson und Clinton dicht auf seinen Fersen! Noch zwei Quart bis zum Touchdown, damit hätten die Miami Dolphins gewonnen! Francis läuft … Johnson holt auf … noch ein Quart! Und … und … Johnson hat ihn! Francis stürzt, der Ball rollt und … Aus, das war’s! Damit konnten die Dolphins ihre Chance nicht nutzen und ihre Niederlage ist so gut wie besiegelt!“

Zwei Schreie, deutlich lauter als die der zahllosen Fans im Stadion selbst, erschütterten die Halle. Neji hatte die Flasche zerbrochen und griff sich stöhnend an den Kopf, während Gaara selbstzufrieden etwas vom gläsernen Couchtisch nahm. Es war ein Joint.

„Tja, Wette gewonnen“, triumphierte er. Allerdings war es eine finstere Art von Freude, die von ihm ausging. Selbst lächelnd machte der rothaarige Gitarrist mir Angst.

„Ich sag’s euch: Wenn Gaaras hirnamputierte Chicago Bears ins Superbowle Finale kommen, spiele ich dort nicht!“ Neji war offensichtlich ein ausgesprochen schlechter Verlierer.

Da trat Naruto an den Couchtisch und schaltete den Fernseher aus.

„Hey, jetzt hört her! Hier ist mein neues Au-pair und ich erwarte euren vollen Körpereinsatz, um sie nicht in dem Glauben nach Hause gehen zu lassen, amerikanische Bands tun nichts weiter als Football anschauen und Saufen!“

Und dann war es still. In dem eben noch von Lärm erfüllten Raum hätte man eine Nadel zu Boden fallen hören können und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand ich. Ganz Crisis Core musterte mich – sogar Shikamaru sah von seinem Drummsticks auf – und ich spürte überdeutlich, wie jeder Fleck und jeder Riss meiner Kleidung, jede Nuance meines Geruchs nach dem Chlorwasser aus dem Pool und jeder Millimeter beschämt geröteter Haut aufs Genaueste analysiert wurde. Das hier war die zurzeit gefragteste Newcomerband mit vier Mädchenmagneten, und ich war nichts weiter als ein unterdurchschnittliches Nervenbündel, völlig deplatziert in dieser Welt. Ich wäre auf der Stelle weggerannt, hätte ich nicht Choji in meinem Nacken gewusst, der mich sicher aufhalten würde, bevor draußen irgendein Junkie die Chance ergriff, Naruto Uzumakis Au-pair zu entführen.

In Zeitlupentempo hob ich eine Hand und begann zu winken wie ein geistig verwirrtes Kleinkind.

Lautstark stellte Neji seine Flasche auf den Tisch. „Wo hast du das denn aufgegabelt?“

Ich spürte das vertraute Stottern meines Herzens und war mir sicher, dass ich in Tränen ausgebrochen wäre, wäre nicht ein junger Mann aus einer der massiven Eichenholztüren getreten, der sich als mein persönlicher Retter erwies.

„Darf ich fragen, wer heute wieder das Opfer seiner Saiten klimpernden Herrlichkeit ist?“

Der Kerl musste Mut haben, so mit einer derart Furcht einflößenden Person zu sprechen und dabei nicht einmal das kleinste Anzeichen eventueller Unruhe preiszugeben. Letzteres konnte allerdings auch an seiner Sonnenbrille und dem hochgestellten Jackenkragen liegen, die sein Gesicht ein gutes Stück bedeckten.

„Sieh mal einer an, wer schon wieder da ist! Ich kann dir nur raten, dass du sorgfältig gearbeitet hast! Wenn ich im Studio noch eine einzige Kakerlake sehe…“

„Es waren Kellerasseln. Eine weitaus höher entwickelte Spezies“, unterbrach der Typ mit der Sonnenbrille Nejis hochmütige Standpauke.

Naruto sprang sichtlich dankbar auf ihn zu, um ihn in meine Richtung zu ziehen.

„Shino, altes Haus! Du kommst genau richtig, um mein Au-pair kennen zu lernen!“ Seine Stimme ließ eine gewisse Verzweiflung erahnen. Selbst er hatte begriffen, dass die Stimmung kippte.

Trotz Narutos brutaler Aktion wahrte der Brillentyp seine besonnene Haltung mühelos. Mit einem prüfenden, doch nicht unangenehmen Blick musterte er meine bemitleidenswerte Erscheinung.

„Hundert Prozent Nejis Beuteschema“, stellte er fest. Dann zeigte er ein schmales Lächeln und warf einen Seitenblick auf den blasiert dreinschauenden Neji. „Kleiner Tipp: Wenn er so weitermacht, schmuggle einfach ein paar Insekten in den Kasten seines Basses.“

„Bist du hier der Kammerjäger?“, rutschte es mir heraus. Im selben Augenblick hätte ich mich selbst ohrfeigen können, denn eigentlich war er mir alles andere als unsympathisch.

Doch Shino schien sich nicht im Mindesten beleidigt zu fühlen. Er lachte leise, was von Narutos himmlischem Gelächter übertönt wurde.

„Offiziell nennt man das Bandmanager, lässt sich besser von den Steuern absetzen“, erklärte Shino augenzwinkernd.

„Ey, Naruto, lach’ einmal bei einer Talkshow dermaßen bescheuert und du hast in Zukunft nur noch Fans vom anderen Ufer!“, rief Neji mit seiner nervtötend groben Stimme dazwischen. Offenbar überfielen ihn schwerwiegende Mangelerscheinungen, wenn er kein stündliches Minimum an Beleidigungen von sich geben konnte.

Shino drehte sich um und brachte den Bassisten mit dieser simplen Bewegung schlagartig zum Schweigen.

„Wenn du über Arbeit reden willst, machen wir es richtig. Es gibt in der Tat einige Dinge zu regeln“, sagte er und ließ deutlich durchblicken, wer hier die Autoritätsperson war. „Punkt eins wäre das Musikvideo zu Dancing Blades. Wenn du dazu einen konstruktiven Vorschlag bringen willst – nur zu.“

Neji übte sich in grimmigem Schweigen, während mir ein Quietschen entfuhr. Dancing Blades! Seit im Internet einige Ausschnitte dieses neuen Songs im Umlauf waren, war die weltweite Fangemeinde in heller Aufruhe wegen des neuen Albums. Ich persönlich zählte zu denen, die jede Sekunde des Songs in seliger Geistesschlichtheit an selbstgebauten Altären verehrten.

Glücklicherweise meldete sich Gaara schnell genug zu Wort, um meinen Ausrutscher in Vergessenheit geraten zu lassen.

„Wie war das doch gleich? Die Idee mit den Ninjas in der Highschool will MTV wegen neuer Amokläufe nicht senden?“

„Exakt. Dieses Motiv darf auch nicht auf das Cover, dagegen hat der Gouverneur sein Veto eingelegt“, fügte Shino mit einem Blick auf einen Taschenkalender hinzu, den er aus seiner viel zu dicken Jacke geholt hatte.

„Also können wir unser komplettes Konzept vergessen?“, fragte Naruto entgeistert. Ich war hin und her gerissen, seine Reaktion niedlich zu finden oder in Mitleid zu ertrinken.

Shino nickte, während Shikamaru genervt seufzte.

„Idealistische Erbsenzähler. Als würden Kinder wegen einem Musikvideo mit einer Pumpgun durch die Schule rennen.“

„Fragen wir doch unser Kleinkind dort drüben“, sagte Neji mit einem hämischen Grinsen in meine Richtung. „Du kannst uns bestimmt erklären, wie Schulkinder ticken, oder?“

Ich spürte, wie die Scham mein Gesicht rot färbte und mir die Zunge verknotete. Was hätte ich zu einer derart beispiellosen Zurschaustellung von Abneigung auch sagen können?

„Interessant, wie sie sich innerhalb einer Sekunde von kalkweiß in feuerrot färben kann. Hatte schon Angst, sie könnte mir meinen Ruf als Vamp streitig machen, aber das hat sich ja wohl erledigt“, legte er nach.

„Vampir!“, schrie Naruto dazwischen. Seiner Begeisterung nach zu urteilen, war ihm vollkommen entgangen, wie ich soeben bloßgestellt wurde.

Shino musterte ihn verständnislos, doch Naruto strahlte voll kindlichem Übermut.

„Das ist es! Wir lassen Vampire das Motto des Videos sein!“, erklärte er.

Gaara verzog das Gesicht. „Soll Shino dir vorrechnen, wie viele tausend Bands das schon gemacht haben? Spätestens seit diesem Twilight-Hype ist die Nummer dermaßen out…“

„Dann brauchen wir eben eine spezielle Art von Vampiren, etwas Ungewöhnliches, Fesselndes, mit dem sich jeder identifizieren kann!“ Offenbar war Naruto von seiner Idee nicht so leicht abzubringen und ich war ihm dankbar dafür, solange es mir Neji vom Leib hielt.

„Ich warne dich: Wenn du vorhast, aus uns so eine lächerliche Mainstream-Band zu machen, die auf jeden Trendzug aufspringt, kannst du gleich diesen Robert Pattison als Gitarrist verpflichten!“ Bei diesen unverkennbar drohenden Worten war Gaara aufgestanden und an Naruto herangetreten. Trotz seiner geringen Körpergröße hatte er etwas Einschüchterndes an sich.

„Wir springen nicht auf, wir erfinden den Trend neu!“

„Jetzt lass ihn doch, wenn der Stress damit erledigt ist“, schaltete sich nun auch Shikamaru von der Couch aus ein.

„Ich hab aber keinen Bock darauf, von noch mehr kreischenden Mädchen umlagert zu werden, die mich mit diesem Eeeeeedwaaaard…“ – Ich zuckte vor dieser erschreckend guten Interpretation eines hysterischen Fans zurück und schlug mir den Kopf an einem der Schwerter an der Wand – „…vergleichen. Mit dem ewigen ‚Ich will ein Kind von dir!’ kann ich ja noch leben, aber sobald es ‚Beiß mich!’ heißt…“

„Du vergisst die unscheinbare Tatsache, dass dieser Edward gut aussehend und charmant ist, also keine Sorge“, feixte Naruto.

Unter normalen Umständen hätte es mich in einen Zustand geistfreier Bewunderung versetzt, ihn dieses Wortduell gewinnen zu sehen, doch ich war zu sehr mit dem verdammten Schwert beschäftigt, das sich bei meinem Anflug von Ungeschicktheit aus seiner Halterung gelöst hatte. Es stellte sich als weitaus schwerer als erwartet heraus und ich versuchte vergebens, es vom Fußboden aufzuheben.

Der Geräuschpegel schoss in die Höhe, als die beiden nun in einen wüsten Schlagabtausch wenig argumentativer Beleidigungen verfielen. Im Hintergrund war Shino zu vernehmen, der vergebens versuchte, die beiden davon abzuhalten, dem jeweils anderen die Schädeldecke einzuschlagen. Ich fühlte, wie Panik von mir Besitz ergriff, denn ich musste sowohl dieses Schwert loswerden, als auch Naruto beschützen. Gaara war alles zuzutrauen und Choji schien die Situation nicht ernst genug zu nehmen, folglich könnte die Liebe meines Lebens jede Sekunde mit einer gebrochenen Nase auf dem Boden liegen, die wundervolle Haut von Blut besudelt…

„Stopp!“, schrie ich unter Aufwallung allen Adrenalins, das mein Körper zu bieten hatte. Zugleich verlieh es mir die nötige Kraft, das Schwert mit einem Ruck in die Höhe zu reißen und wackelig auf Schulterhöhe zu halten. Zumindest für einige Sekunden. Und zwar genau die unscheinbar wenigen Sekunden, in denen es totenstill im Saal wurde und die Aufmerksamkeit sich erneut auf mich richtete.

Gaara hatte seine sehnigen Hände um Narutos Kragen geschlossen, im Gegenzug befand sich Narutos Knie in einer Aufwärtsbewegung Richtung Gaaras Magengrube. Beide schienen eingefroren zu sein, ehe ihre Lebensgeister mit einem schier hörbaren Klick wieder erwachten.

„Damit kann man doch etwas anfangen…“, wisperte Gaara.

Naruto bevorzugte wie gewöhnlich eine etwas enthusiastischere Ausdrucksweise. „Das nenn’ ich einen Kracher von einem Vampir! Hey, nach so etwas leckt MTV sich alle Finger! Wir revolutionieren die Videobranche!“

„Ich korrigiere – es könnte die von Stephenie Meyer propagierte Vampir-Anschauung von ihrem Thron verdrängen“, sagte Shino kühl. Jedoch ließ die Geste, mit der er seine Sonnenbrille zurecht schob, ehrliches Interesse erahnen.

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag hatte ich das Gefühl, ein wichtiges Ereignis verpasst zu haben. Mein Adrenalinschock baute sich ebenso schnell ab, wie er mich überschwemmt hatte, und ich musste das Schwert zu Boden fallen lassen. Um ein Haar hätte ich mir dabei den Fuß abgetrennt.

Naruto stieß triumphierend seine Faust in die Luft.

„Genau, das ist perfekt! Sie ist perfekt! Das wird das genialste Video unserer Laufbahn!“

Shikamaru drehte gelangweilt den Deckel seiner Bacardiflasche zwischen den Fingern, während er die Schultern zuckte. „Von mir aus.“

„Wird bestimmt amüsant“, sagte Neji mit trockenem Sarkasmus.

Blitzartig hatte Shino ein Handy gezückt und das „Spezialkommando“ herbeizitiert. Worum auch immer es ging – auf irgendetwas bezüglich des Musikvideos hatte die Band sich soeben geeinigt. Und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass es etwas mit mir zu tun hatte.

Naruto unterbrach das krampfartige Auf und Ab meiner Schultern, durch das ich an Sauerstoff zu gelangen versuchte, indem er nach meinem Handgelenk griff. Das genügte, um mich für einen Augenblick in einen klinisch toten Zustand zu versetzen.

„Du bist genial, Hinata!“, erklärte er begeistert und zeigte sein allerschönstes Lächeln, das meine Knie in Wackelpudding verwandelte. Es war mein Lieblingslächeln, weil dabei der rechte Mundwinkel etwa drei Millimeter höher als der linke lag, was sein linkes Auge ins Licht rückte und schöner als jeden Saphir glitzern ließ. Für dieses Lächeln würde ich jede Hölle tapfer durchqueren, die ich mir soeben aufgehalst hatte.

„Die kämpferische Art, das Schwert zu halten, und dann wieder vollkommene Unsicherheit! Eine charismatische Mörderin in der Nacht, das verträumte Schulmädchen bei Tage! Das fressen uns die Teenager aus der Hand, verstehst du? Damit kann sich jeder identifizieren! Es ist ein grandioser Vampirmythos und du wirst die Hauptperson!“

Bis zum letzten Satz war ich durchaus gewillt gewesen, seine Freude zu teilen, doch nun hatte ich das Gefühl, eine Reihe hysterischer Schreie ausstoßen zu müssen. Litten die Amerikaner denn alle an Realitätsverlust? Sah ich aus wie die fleischgewordene Traumvampirlady des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wie ein verruchtes Sexsymbol, wie ein weiblicher Edward Cullen?

„H-Hauptperson…?“, stotterte ich mit meiner Piepsstimme.

„Aber sicher! Du spielst die Hauptrolle in unserem neuen Musikvideo! Ehrlich, ich habe selten jemanden mit einer solchen Ausstrahlung gesehen!“

Eine tonnenschwere Abrissbirne zerstörte den letzten Funken Hoffnung, an den ich mich geklammert hatte. Meine Augen drohten, aus den Höhlen zu fallen, während mein Mund in wenig ansehnlicher Manier offen stand und ich unkontrolliert zitterte. Eine Rolle in der Geisterbahn hätte ich besser ausgefüllt.

Bevor ich überhaupt zu einem Protest ansetzen konnte, war das Spezialkommando im Studio und stürzte sich wie eine Meute ausgehungerter Hyänen auf mich.

„Haare!“

„Make-up!“

„Klamotten!“

„…Bräuchten wir nicht erst mal Widerbelebungsmaßnahmen?“

Ich stieß einen Schrei aus, als das halbe Dutzend Frauen sich auf mich stürzte, was ihnen offenbar als Zeichen meiner Lebendigkeit genügte. Sie hatten mich in ein Nebenzimmer – eine Art Umkleideraum – geschafft, noch ehe ich eine Silbe des Widerstands über meine bebenden Lippen gebracht hatte.

„Passt auf, dass sie euch nicht umkippt. Scheint keine sehr robuste Natur zu sein“, rief Neji sichtlich amüsiert, dann war die Tür auch schon ins Schloss gefallen und ich saß in der Falle.

Zwei Blondinen gingen mit einer Reihe Instrumente, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, auf meine nach Chlorwasser riechenden Haare los. Zwei Asiatinnen beratschlagten lautstark über die Auswahl eines passenden Kleides, während eine andere sich wie besessen der Maniküre meiner glühenden Hände widmete. Ich hatte Todesangst!

„He, angesichts der Tatsache, dass du dich in den Händen der besten Visagistin ganz Kaliforniens befindest, bestehe ich geradezu auf einem Lächeln!“

Mit einem Grinsen auf dem herzförmigen Gesicht schob mir ein rothaariges Mädchen ein Glas Wasser hin. Obwohl sie sicher nicht jünger als ich selbst war, kam ich nicht umhin, sie Mädchen zu nennen: Ihre großen Augen strahlten eine Offenheit aus, die nicht recht zu einer Zwanzigjährigen passen wollte.

Sehr, sehr langsam atmete ich aus und suchte nach meiner Stimme. Es kostete mich zwei Schluck Wasser, ehe ich sie fand.

„Wenn … ihr mich am Leben lasst…“

Sie lachte ein hohes, zwitscherndes Lachen und breitete eine Palette unzähliger Make-up-Artikel vor mir aus. Nicht unbedingt das Gebiet, in dem ich die größte Allgemeinkenntnis besitze.

„Sieht das etwa aus wie Folterwerkzeug?“, kicherte sie und bewaffnete sich mit etwas, das ich in der Werbung schon einmal als „Tagescreme“ gesehen habe. „Ich würde lieber für immer auf Kaffee von Starbucks verzichten, als irgendetwas zu tun, das nicht im Sinn der Band ist. Und dich, Herzchen, brauchen sie offenbar sehr dringend. Die Vampirrolle passt übrigens hervorragend zu deinem Typ! Lass mich raten – es war Gaara, der dich vorgeschlagen hat, nicht wahr?“

Nach dieser Flut an Informationen war ich zu erschlagen, um ein Wort hervorzubringen. Ich schüttelte lediglich den Kopf und versuchte den Unterton zu entschlüsseln, mit dem sie von Gaara gesprochen hatte. Bei seiner Erwähnung hatte sie all ihr Herzblut in ihre ohnehin schon couragierte Stimme gelegt.

Wieder lachte sie. „Verzeih, ich vergesse zu oft, was für ein Stinkstiefel er sein kann, dabei sollte gerade ich es besser wissen. Wenn ich mich vorstellen darf: Ich bin Jocelyn Armstrong, Gaara Sabakunos persönliche Visagistin. Und bis auf weiteres auch deine.“

Das musste ein übergeschnappter Traum sein, aus dem ich jede Sekunde schweißüberströmt aufwachte! Meine Miene sprach offenbar Bände, denn Jocelyn konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.

„Hey, komm schon, es gibt weißgott Schlimmeres, als im Video von Crisis Core mitzuspielen! Wenn du wüsstest, wie viele Schauspieler sich darum reißen!“ Sie verdrehte theatralisch die Augen gen Himmel, dann klatschte sie in die Hände. „Aber jetzt halt still, damit ich dich zur schönsten Frau Amerikas machen kann!“

Also schloss ich den panisch geöffneten Mund und fügte mich in mein stummes Elend. Aus den Augenwinkeln sah ich die beiden Asiatinnen eine wortreiche Diskussion darüber führen, ob ich ein bodenlanges Abendkleid mit selbstmörderischen High Heels oder ein Gothic Lolita Kostüm (diese völlig abgedrehte Kombination aus Spitze, Plateuschuhen und dunklen Farben) für meinen Weg zur Schlachtbank tragen sollte.

Gefühlte neun Stunden und drei Kreislaufzusammenbrüche, die Jocelyn durch rabiaten Einsatz einer Wasserflasche ohne Rücksicht auf meinen Lippenstift zu beenden wusste, später war die Folter endlich beendet. Zumindest der aktive Part, denn allein in dieser neuen Aufmachung zu stecken, kam einer öffentlichen Bloßstellung im Grunde genommen noch näher.

„Eines meiner Meisterwerke!“, befand Jocelyn freudestrahlend, wobei ihre Foltergesellen ihr uneingeschränkt zustimmten.

Das Sextett hatte in der Tat ganze Arbeit geleistet – in der Erschaffung einer Frau, die ich niemals sein konnte. Ich war schön, um nicht zu sagen unnatürlich schön, und zwar auf eine exakt meinem Typ entsprechende Weise. Das Make-up machte meine blasse Haut makellos elfenbeinfarben, sodass meine veilchenblauen Augen leuchtend daraus hervorblitzten und selbst ohne Kajal jede Menge Aufmerksamkeit errungen hätten. Dagegen war mein schwach rot gefärbter Mund lediglich die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Und falls mein geheimnisvoll-anziehendes Gesicht einer an Geschmacksverirrung leidenden Minorität doch keine Ehrerbietung abverlangte, so erledigte dies mein Outfit von selbst. Das hochgeschlossene und langärmlige, jedoch kurze Kleid war von demselben Violett wie die nicht ganz absatzlosen Stiefel, die mich zwar nicht sofort umbringen würden, jedoch nach längerer Zeit ganz zweifelsohne. Es gibt nun mal Leute, die ihr Leben ebenerdig verbringen sollten. Bei jeder schnelleren Bewegung wirbelte der nicht einmal knielange Saum des Kleides herum und brachte als Farbklecks einen hellbeigen Unterrock zum Vorschein, dessen geraffter Stoff etwas Verspieltheit in das Ensemble brachte.

Jocelyn überschlug sich derweil förmlich vor Stolz und konnte es gar nicht eilig genug haben, mich zur Tür zu zerren.

„Dir gefällt’s doch auch, nicht wahr?! So etwas darf der Öffentlichkeit nicht verborgen bleiben! Komm schon, die Jungs werden begeistert sein!“

Das war nicht ich. Und um nichts auf der Welt wollte ich Naruto so unter die Augen treten. Für mehr war kein Platz in meinem strapazierten Gehirn. Ich wollte schreien, um mich treten, mich in einem Wandschrank verstecken, doch ich war wie gerädert von dem viel zu langen und viel zu verrückten Tag.

Hilflos musste ich mich von Jocelyn zurück in den Saal schieben lassen, was ihr sicher einiges an Kraft abverlangte, da meine Beine sich von selbst keinen Zentimeter bewegten.

„Aufgemerkt, meine Herren!“, trompete eine der Haar-Blondinen, ehe sie Jocelyn und mir mit einer hochtrabenden Geste Platz machte. Diese Frauen wären in einer Daily Soap weitaus besser aufgehoben gewesen.

Ich hatte ihren Blicken ausweichen wollen, einfach nur die Augen schließen und mich an einen anderen Ort träumen. Ich hatte es wirklich vorgehabt. Doch eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass dies ein hoffnungsloses Unterfangen war, solange sich der perfekteste Mann aller Galaxien im Raum befand.

„…Wow…“ Ein einziges Wort, nur eine Silbe, und doch zog es mich stärker als jeder Magnet an.

Unter unsicher gesenkten Lidern suchte ich sein herrliches Gesicht. Er hatte sich von der Couch erhoben, an der die Bandmitglieder offenbar eine Pizza-Orgie veranstaltet hatten. Seine Lippen zierte ein breites Lächeln und ich begann zu Hyperventilieren, nur aufgrund der simplen Gewissheit, dass ich der Grund für seine Zufriedenheit war.

„Damit kann man in der Tat etwas anfangen“, stimmte Gaara zu. Hätten sich Jocelyns Finger bei seiner Bemerkung nicht entzückt in meine Schultern gekrallt, wären seine Worte nicht zu mir durchgedrungen. Ich spürte den vertrauten, heißen Schleier, der seine Fänge um mich schloss. Schon dröhnte jeder Herzschlag bis in meine Fingerspitzen und ich bekam trotz meiner hektischen Atmung keinen Sauerstoff in die Lungen.

Neji brummte irgendetwas Unfreundliches, Shikamarus Schulterzucken verschwamm vor meinen Augen.

Verdammt, nicht schon wieder! Naruto hatte lediglich das Handwerk meiner sechs Folterknechte gelobt, es ging dabei nicht um mich persönlich! Und doch keimte in mir die irrationale und hirnlose Hoffnung, er könne Gefallen an mir finden. Beziehungsweise an dieser Vampirlady, nach der ich aussah, die ich aber unmöglich würde verkörpern können.

Bunte Lichter tanzten vor seinem Gesicht, als Shino seine Stimme erhob.

„Dann werde ich den Regisseur kontaktieren und die Dreharbeiten auf nächste Woche festlegen. Am besten machen wir jetzt noch ein Foto von ihr als Werbung für die Zeitschriften.“

„Ich mach schon!“, rief Naruto. Es war mir allerdings nicht mehr möglich, seiner sich schnell bewegenden Gestalt zu folgen, als er sich auf die Suche nach einem Fotoapparat machte. Lediglich den Blitz sah ich noch aufzucken, dann übermannte mich der Hitzeschleier und ich spürte das Parkett an meiner Stirn.

Eines stand fest: Das Foto war alles andere als vorteilhaft getroffen.
 

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Falls jemand gern Hinatas Outfit sehen würde, hier ist es: http://media.photobucket.com/image/saya%20blood/ReyHadesSharinganbyakugan/Blood%20Plus/Saya-1.gif?o=76

Ansonsten hoffe ich auch hier wieder auf ein wenig Feedback und ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei den Lesern zu bedanken, die mir die Treue gehalten haben, und ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr wünschen!
 

lg

Meggy-Jo



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Kommentare zu diesem Kapitel (6)

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Von:  xFreakyX
2011-01-16T18:50:51+00:00 16.01.2011 19:50
Wow! Ich bin begeistert und überaus glücklich diese ff angeklickt zu haben.
Sie ist einfach nur toll*_*
Vor allem deine Art zu schreiben lässt mich als Leser richtig mitfühlen und mitfiebern
Meistens kann ich mir die verschiedenen Szenen richtig gut bildlich vorstellen: eine Temari mit dem Hang zu Massenmörderin, Ein desinteressierter Shikamaru, ein sich mit Gaara streitender Naruto und eine Hinata die sich völlig fehl am Platz vorkommt etc.
Und dann diese ganzen wunderbaren Dialoge

Jedoch stelle ich mir schon hier, noch relativ am Anfang der Geschichte, die Frage, wie sie wohl enden wird... zwischen Naruto und Hinata
Ich mein unser Superstar hat die perfekte Frau und zwei Kinder (!!)
Einserseits möchte ich nicht das er Sakura betrügt oder so... andererseits wäre das pair Naru/Hina in dieser Story bestimmt mehr als Lesenwert...
Also ich bin echt gespant wie es weiter geht und ich werde deine ff auf jeden Fall weiter verfolgen
ich hoffe das Nächste Kapiel kommt bald
mach weiter so
glg Freaky
Von: abgemeldet
2010-03-12T17:36:19+00:00 12.03.2010 18:36
Das klingt alles echt super. Ich freu mich schon auf die folgenden Kapitel. Du schreibst wirklich gut. Ich hab mal ein bisschen in deinen alten FF's rumgeschaut, du hast dich erheblich verbessert! Es ist gut zu wissen dass es immerhin ein paar FF's gibt bei denen sich Warten auch wirklich auszahlt.

LG
Von:  Dwingvatt
2010-01-09T13:09:54+00:00 09.01.2010 14:09
ich kann mir hinata bildlich vorstellen. echt genial. und naruto wie immer überdreht. ich liebe deine geschichten!!!!
freu mich schon wie es wird für hinata, wenn sie am dreh ist XD


LG Dwingvatt
Von: abgemeldet
2010-01-02T01:14:08+00:00 02.01.2010 02:14
Also...schönes Kapitel :)
Die Rechtschreibung war, wie gewohnt, völlig fehlerfrei und dein Schreibstil ist und bleibt fantastisch. Ich konnte Hinata praktisch vor mir stehen sehen, konnte mit ihr die Handlung erleben.
Hm...ich fang am Besten vorne an...und zwar bei Hanabi. Einerseits wohl ne verdammt schwierige kleine Schwester, andererseit ist sie auch ziemlich lustig drauf. Und ich glaube, sie kann Hinata schon ein bisschen aufbauen, was Selbstvertrauen im Umgang mit Naruto angeht.
Punkt Nummer zwei: Sakura. Der Gewissenskonflikt wird schlimmer. Diese Frau ist einfach so verdammt nett,so liebevoll, so...ach das kann man gar nicht beschreiben. Es ist so schwierig, sich vorzustellen Naruto würde mit dieser Frau an seiner Seite jemals etwas für Hinata empfinden können...und einerseits hoffe ich auch darauf, dass er es nicht tut...andererseits...
Und besieht man sich mal den Themesong dieser FF, dann wird das alles in einem mittelschweren Drama enden. Oder auch in einem Schweren, je nach Standpunkt.
Ein mittelschweres Drama war für Hinata wohl auch die Konfrontation mit dem Rest von Crisis Core.
Manmanman, die Jungs sind aber auch schwierig. Vor allem Neji...einerseits ist er ein verdammt eingebildetes -'tschuldigung- Arschloch, aber andererseits glaube ich, dass man ihn einfach davon überzeugen muss, Anerkennung verdient zu haben.(Und ich hoffe, das Hinata das schafft. *hehe*)Immerhin muss sie ihn ja irgendwie mit TenTen verkuppeln! ;)
Naja...Gaara ist jedenfalls umgänglicher, als er es vielleicht im Original ist, aber der nette Junge von nebenan ist er keinesfalls. Mir gefällt deine Darstellung -nah am Original, aber eben kein blutrünstiger Massenmörder. ;) Aber er kifft...ganz böser Gaara. :P
Shikamaru ist absolut wie man ihn kennt: desinteressiert. Und ich mag ihn so wie er ist. :)
Und den Auftritt von Shino, dem Kammerjäger-Manager, mochte ich auch ziemlich.( Auch wenn mir nicht ganz in den Kopf will, wie er jemandem mit der Sonnenbrille vor den Augen sichtbar zuzwinkern kann. xD)
Naja...die liebe Hinata hat sich mal wieder ganz schön in was reingeritten...ich glaub, der Videodreh wird alles andere als glatt ablaufen...auch wenn rein optisch schon mal alles stimmt...was mich zu meiner inoffiziellen Lieblingsstelle bringt, nämlich dem 'Wow' von Naruto. Da ist mein Herz mit ihrem gleich mal höher gehüpft- auch, wenn der oben beschriebene Gewissenskonflikt natürlich weiterhin besteht. Es muss natürlich noch nicht mal was heißen, immerhin sagt Naruo so ziemlich alles, was ihm grade in den Sinn kommt, aber es hat mich doch gefreut. :)
Sooo...was hab ich vergessen? Ach ja, das Chaoskind natürlich. Jay ist, so wie Hinata ihn gedanklich beschrieben hat, unglaublich süß. Und ich finde es absolut toll, dass er sie sofort mag!
Also dann...ich glaube, ich habe fertig ^^
Ich freu mich schon aufs nächste Kapitel :)
GlG und viel Spaß beim Wieterschreiben,
Fatja



Von:  Illmaren
2010-01-02T00:16:20+00:00 02.01.2010 01:16
das kann man nichts anderes als Geil zu sagen.....

Lg. Okami
Von:  Shy_Naru-chan
2010-01-02T00:07:17+00:00 02.01.2010 01:07
OMG! Hinata als Vamplady xD kann ich mir garnicht vorstellen. Neji ist ja voll fies ò____ó was kann Hina den dafür das sie so schön ist! xD & der kleine Jay (ist doch richtig oder?) der ist ja goldig *-* ein mini-naruto x3 da bin ich ja mal gespannd wie das da alles so laufen wird mit dem video xD
& danke für die ens ^^

lg Naru-chan


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