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Yunxin

von

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Yunxin wachte schweißgebadet auf. Alles war noch stockdunkel in seinem kleinen Wohnheimzimmer. Er sprang auf und zog den Vorhang zurück und ein trauriger Schauer überlief ihm als er die Sonne im Osten aufgehen sah. Er hatte großes Heimweh nach seinem Geburtsort im Land der aufgehenden Sonne. Eilig schaute er auf die Uhr. Puh, zum Glück nicht verschlafen, dachte er sich. Denn dies kam in letzter Zeit all zu oft vor. Von seinen Kommilitonen wurde er schon der Superlerner genannt, weil er in den Vorlesungen dauernd wegpennte.
 

Ein amerikanischer Psychologe erforschte die Lernleistung von Testpersonen kurz vor dem schlafen gehen. Alle, die kurz vor dem Schlummern besonders viel lernten, wurden Superlerner genannt. Doch später stellten sich alle Ergebnisse als ein riesengroßer Fake heraus.
 

Yunxin trottete durch sein Zimmer, fand auf dem Tisch einen Apfel und biss hinein. Seine Zähne schmerzten dabei qualvoll. Vielleicht war es Zeit für einen Zahnarztbesuch. Er ärgerte sich, dass er jetzt schon wach war und die kostbare Zeit nicht zum schlummern nutzen konnte, denn nach diesen elenden Träumen in letzter Zeit schlief er schwer wieder ein. Es war nur noch eine Stunde bis Vorlesungsbeginn. So nutzte er seine Zeit zum lernen. Er schaute in seinen Filmwissenschaften - Hefter. Doch, wie immer, verstand er nichts. Lost in translation - diese Angst plagte ihn die ganze Zeit. Doch auf der anderen Seite wirkte ihm der Gedanke an seine Familie entgegen, die alle ihre Ersparnisse geopfert haben, um seine Reise nach Deutschland zu finanzieren. In China hätte er sich solch ein Studium nie leisten können. Aber in Big Germany standen ihm alle Türen offen.
 

Schließlich entschloss er sich, doch jetzt schon zur Uni zu gehen. Von seinem Wohnheim aus lief er nur fünf Minuten. So stattete er der Mensa noch einen Besuch ab. Dort traf er auf eine seiner Freundinnen. Ihren Name kannte er nicht. Sie erkannte ihn schon von weitem und winkte ihn zu seinem Tisch. Schüchtern trat er näher heran und setzte sich. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, denn neben ihr saß seine große Liebe.

Ihre erste Frage lautete sofort: „Hast du deinen Teil von dem Referat heute fertig und den Beispieltext auf die Folie kopieren lassen“.

Der Shanghaier verstand natürlich nur wenig davon. Doch ein Wort erkannte er in seinem eng beschränkten deutschen Vokabular wieder. Referat heiß es. Oh nein, dachte sich Yunxin. Das hab ich ja ganz vergessen. Wie soll ich das wieder gut machen und heute noch schaffen. So musste er die Frage seiner großen Liebe verneinen. Er fuchtelte wild mit den Armen und versuchte ihr alles zu erklären. Sie seufzte erst tief und stürmte aufgebracht davon.

Er hörte sie nur noch rufen: „Du bist so ein Versager. Sieh zu, wie du es bis heut Nachmittag schaffst“.

Scharf nachgedacht, erkannte er ihren Tipp. Es führte kein Weg daran vorbei. Er musste bei dem Vortrag improvisieren. Seine Freundin sah die ganze Sache gelassen. Sie konnte jedem verzeihen.

Doch plötzlich fragte sie ihn: „Yunxin, wie hast du es mit der Religion?“

Das Essen blieb ihm im Halse stecken. Er würgte so stark, dass er dabei ohnmächtig wurde.
 

Grelles Licht schien ihm ins Gesicht.

„Ist alles in Ordnung?“ frage eine Stimme.

Er nickte. Langsam rappelte er sich auf und sah seinen Retter. Es war die dicke Frau von der Essensausgabe, die ihn anlächelte.

„Geht es dir wirklich gut?“ fragte sie erneut nach.

Yunxin kam immer mehr zu sich. Er schaute auf seine Uhr.

„Ich muss weg. Habe keine Zeit“ sprach er und rannte dabei die Frau fast um.

„So ein undankbares Völkchen“ brüllte sie ihm hinterher.
 

In der Uni angekommen wurde ihm erst klar wie ernst seine Lage war. Nur noch fünfzehn Minuten bis Vortragsbeginn. Je näher das Ereignis rückte, desto aufgeregter wurde er und umso weniger brachte er noch zu Stande. Er musste wirklich alles vorlesen. Das Referat an sich wirkte wie ein Drogenrausch. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, er bekam nichts von seiner Außenwelt mit und alles ging schnell zu Ende. Doch danach setzte der Minderwertigkeitskomplex ein. Sein Teil war mies, ziemlich mies sogar. Das sah sogar er ein. Es kam ihn so vor als würde er die Worte Versager, Loser, Witzfigur und dergleichen aus jedem Gespräch seiner Kommilitonen heraushören. Deprimiert ging er nach Hause.
 

Er versuchte wieder zu lernen, doch nichts half. Angespannt schmiss er den Hefter an die Wand und knallte sich auf das Bett. Plötzlich überkam ihn eine große Müdigkeit und er verfiel in tiefen Schlaf. Dunkelheit umhüllte ihn und er hörte nur eine seltsame Stimme.

„Yunxin, Yunxin“, sprach sie. „Es bist nicht du, der so unnormal ist. Es sind die anderen, mit denen etwas nicht stimmt.“



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