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Zerspringende Ketten

von

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Beginn

Chiaki blickte ungeduldig in den Rückspiegel und beobachtete aufmerksam den Eingang des Supermarktes, in dem Haruie vor mehr als einer viertel Stunde verschwunden war. Er begann unruhig mit den Fingern auf die Armlehne zu trommeln, und brummelte unzufrieden vor sich hin.

„Komm schon... Was machst du da drin, Haruie?! Es wird doch wohl nicht so schwer sein, ein paar Lebensmittel für eine Abendmahlzeit und ein Frühstück zusammenzusuchen... Wäre ich bloß mitgegangen...“, murmelte Chiaki angespannt, der ein weiteres Mal enttäuscht die Augen vom Rückspiegel abwandte, da aus der sich öffnenden Tür des Marktes nur eine Mutter mit zwei Kindern heraustrat. Chiaki konnte die fröhlichen Stimmen der Kinder hören, die sich aufgeregt über ihre Einkaufsgeschenke unterhielten.

„Wir sind eh schon spät dran, aber so wird’s noch später. Ich hoffe bloß, dass die sich in Ikusaka nicht die Köpfe einschlagen. Warum musste Naoe auch gerade mit Kousaka unterwegs sein, als die Sache für Kagetora und Yuzuru brenzlig wurde...“, sprach Chiaki laut zu sich selbst, als unerwartet die Beifahrertür aufgerissen wurde und eine entnervte, mit Tüten vollgepackte, Haruie einstieg.

„Eh?! Woher kommst du denn jetzt? Ich habe doch noch vor zwei Sekunden zum Eingang geseh-“

„Das ist eine Frage, die du eventuell noch mal überdenken und dich vielleicht fragen solltest, ob es sich überhaupt lohnt, sie zu stellen!“, antwortete Haruie gereizt, die aufgebracht ihre braune Mähne zu einem Knoten band und sich anschließend in den Sitz fallen ließ, während die Einkaufstüten zu ihren Füßen raschelten.

Chiaki sah erstaunt zu ihr rüber.

„Sehr schönes Wortspiel, aber warum so wütend?“, wollte er neugierig wissen, während er den Motor startete.

„Nun, ich hatte beim Einkaufen bisher selten das Glück, mal als Einkaufsberaterin oder eher als Einkaufshilfe zu dienen. Mir scheint, heute sollte sich das in doppelter und dreifacher Hinsicht auszahlen. ‚Junge Frau, könnten sie mir vielleicht vom obersten Regal...’, oder ‚Entschuldigen Sie, ich habe meine Brille vergessen, wären Sie so nett...’ oder noch besser ‚Könnten Sie mich vielleicht vorlassen? Meine Kinder müssen ins Bett...’! Also, bei der letzten Dame wäre ich dann beinah geplatzt! Warum nimmt sie die überhaupt so spät noch mit in den Laden. Ich glaube, ich kriege Kopfschmerzen...“

Während Haruie zum Ende ihres verärgert vorgetragenen Berichtes kam, begann Chiaki vergnügt zu lachen. Er war inzwischen vom Parkplatz runter gefahren, und hatte sich in den fließenden Verkehr eingereiht.

„Das muss dir ja sehr lustig erscheinen...“, motzte Haruie, die im Außenspiegel aufmerksam die hinteren Wagen überprüfte.

„Ganz und gar nicht! Ich hatte mich nur gefragt, was du so lang da drin machst. Mir sind zwar die kompliziertesten Antworten eingefallen, aber auf die banalsten bin ich nicht gekommen...“, meinte Chiaki noch immer lachend, der kurz einen Blick auf seine Beifahrerin warf, die ihn nun schief angrinste.

„Ja ja, red dich nur raus. Das nächste Mal gehst du eben einkaufen.“, entgegnete Haruie gespielt beleidigt, die sich gleichzeitig ihre pochenden Schläfen massierte.

„Hast du wirklich Kopfschmerzen?! Ich dachte, das sei nur so dahergesagt gewesen. Vielleicht kannst du dich ja auf der Fahrt ein wenig ausruhen. Ich habe glatt vergessen, dass du heute schon eine anstrengende Auseinandersetzung hattest. Tut mir leid...“, sprach Chiaki aufrichtig besorgt.

„Schon gut. Der Versuch, sich zu entspannen, wäre eh zwecklos, wenn ich da an das bevorstehende Aufeinandertreffen mit Kousaka denke. Das raubt mir jetzt schon den letzten Nerv...“, klagte Haruie, die ihre Hände in den Schoß legte und die Augen schloss.

„Da hast du nicht ganz unrecht. Ich glaube aber, dass es Kagetora im Moment viel schwerer hat, oder doch Naoe?! Vielleicht ein Unentschieden?!“, rätselte Chiaki gedankenverloren.

„Erinnere mich bloß nicht daran. Hatten die beiden es jemals leicht gehabt? Gut, irgendwie sind sie auch selbst daran schuld! Warum machen sich die beiden auch alles viel schwerer, als es eigentlich sein müsste?“, fragte Haruie leicht betrübt.

„Das sagt sich so leicht, Haruie...“, meinte Chiaki, dessen Gesicht ebenfalls einen bekümmerten Ausdruck angenommen hatte.

„Ich weiß! Und ich weiß auch, dass Dinge vorgefallen sind, die letztendlich nicht zu entschuldigen sind. Aber das trifft ja auf beide zu... Die machen mich noch krank! Was wäre ich glücklich, wenn ich noch einmal den Mann sehen könnte, dem ich meine unendliche Liebe geschenkt habe...“, sprach Haruie immer leiser werden, so dass Chiaki die letzten Worte kaum verstand. Er sah kurz fragend zu ihr rüber, ehe er sich wieder auf die Straße konzentrierte und überlegte, wie er dem gegenwärtigen Stimmungstief ein Schnippchen schlagen konnte.

„Ach genau! Was hast du eigentlich eingekauft? Nicht, dass es wirklich eine Rolle spielt, aber vielleicht bringt uns ja der Gedanke ans Essen auf andere Gedanken! Ich hätte an einer Abwechslung nichts auszusetzen – also bezüglich der Gedanken jetzt. Im Hinblick auf das Essen hoffe ich aber, dass sich Naoe in die Küche stellt, und uns mit seinem Können beglückt. Yuzurus kann ich nämlich nicht einschätzen, auf Kagetoras kann ich verzichten und über Kousakas will ich gar nicht erst nachdenken.“, scherzte Chiaki, der noch immer froh darüber war, dass sie, oder eher Kagetora, Naoe fast unversehrt aufspüren konnten.

Er verzog das Gesicht zu einem schiefen Grinsen und tadelte sich innerlich für seine sich noch immer um Naoe und Kagetora drehenden Gedanken – trotz des eigenen gestarteten Ablenkungsversuchs. Es war zum Verrücktwerden. Chiaki konnte sie einfach nicht abstellen, oder gerade weil er es krampfhaft versuchte, missglückte es ihm kläglich. Seufzend gab er auf, und ließ in seinem Kopf Naoe und Kagetora erneut in den Vordergrund treten.

Er dachte an die Wochen der Ahnungslosigkeit in Bezug auf Naoes Verbleib, die allen gehörig an den Nerven gezerrt hatten – von den extrem brutalen Videobotschaften mal ganz zu schweigen. Es war eine Zeit der Unruhe und Anspannung gewesen, und Chiaki konnte noch immer nicht glauben, dass sie sich einander nicht gegenseitig an die Kehle gesprungen waren, als sich letztendlich das ganze Ausmaß der Angelegenheit gezeigt hatte.

Am meisten hatte ihn aber Kagetoras Verhalten geängstigt, welches nach außen ruhig und besonnen erschien, aber innerlich einem brodelnden Vulkan gleichkam. Chiaki hatte die ganze Zeit mit einem unkontrollierbaren Ausbruch Kagetoras gerechnet, aber der war nicht erfolgt – zumindest nicht in seiner Gegenwart. Er wollte lieber nicht wissen, was beim ersten Aufeinandertreffen der beiden nach Naoes riskanter Flucht geschehen war. Zudem war er nach wie vor besorgt über Naoes Verhalten, der sich in ihrer Gegenwart beinah so normal wie eh und je gab. Chiaki wollte nicht glauben, dass die Erlebnisse spurlos an Naoe vorbeigegangen waren. Er befürchtete, dass jener zu einem unerwarteten Zeitpunkt einen Zusammenbruch erleiden könnte, der sie alle, aber vor allem jenen selbst, in Gefahr brachte...
 

„Hey Chiaki! ... Chiaki? ... Chiaki, es ist grün!“, rief Haruie lauter werdend, die dessen Frage nach dem Eingekauften ignorierte und froh war, dass sich kein wartendes Auto hinter ihnen befand.

„Äh...was? Ach so! Entschuldige, da habe ich wohl geträumt...“, entgegnete Chiaki verlegen, der weiter fuhr und sich die Brille zurecht schob.

„Wie war das mit ‚auf-andere-Gedanken-kommen’? Klappt wohl nicht ganz, was? Aber fühl dich getröstet, mir geht’s genauso. Damit ich nicht an die beiden denken muss, rufe ich mir lieber Kousaka vor Augen, dem ich die ganze Zeit gehörig eine verpasse. Bescheuert, oder?“, meinte Haruie lachend.

„Ja, bescheuert, aber bestimmt zufriedenstellend!“, erwiderte Chiaki schief grinsend.

„Hm, etwas. Aber ich würde das ganze in Realität bevorzugen...“

Chiaki sah aufgeheitert zu Haruie rüber, die mit einem entrückten Lächeln im Gesicht nach vorn blickte, während eine Hand mit einer sich gelösten Haarsträhne spielte.

„Machst du wirklich nur DAS mit Kousaka, was du eben erwähnt hast?“, fragte Chiaki unverschämt grinsend, der sich damit einen ungläubigen Blick von Haruie einfing.

„Was soll das heißen: ‚nur das’? Willst du mich etwa ärgern, Chiaki!?“, drohte diese erzürnt und boxte dem Fahrer unernst auf den Oberarm.

„Nein, nein! Auf diese Idee würde ich niemals kommen! Aber vielleicht werde ich mal diese Technik des Abreagierens ausprobieren, nur dass ich mir Kagetora dabei vorstellen. Der hat meines Erachtens ab und zu ebenfalls eine Abreibung verdient...“, sprach Chiaki belustigt.

„Ich glaube, der ist dir selbst dabei überlegen!“, scherzte Haruie, die sich entspannt in den Sitz sinken ließ und die Augen schloss.

„Wir werden sehen...“, murmelte Chiaki, der sein Vorhaben in die Tat umzusetzen versuchte, während er schweigend das Auto ihrem Ziel näherbrachte.
 


 

Yuzuru lief die wenigen Räume der Unterkunft ab, und schüttelte verwundert den Kopf.

„Wo steckt er bloß...“, sprach er leise empört, der seinen besten Freund nun schon eine Weile suchte – Grund seiner Suche war der dringende Wunsch, dessen Wunde noch einmal zu begutachten. Yuzuru ahnte zwar, dass Takaya sein Vorhaben dankend ablehnen würde, aber das wäre ihm egal – zur Not würde er sich Naoe als Unterstützung in seinem Bestreben heranziehen.

Er seufzte hörbar und ging zurück in das größte Zimmer, welches als Tagungsraum dienen sollte und fand dort Kousaka und Naoe, die beide stumm für sich in einer Ecke des Raumes saßen. Naoe sah auf und lächelte, als er den Raum betrat, während Kousaka ihn offensichtlich ignorierte.

Kousaka. Dieser junge Mann war ihm schleierhaft. Yuzuru wusste, dass Kousaka nicht Takayas Gruppe angehörte und es daher ein Risiko war, mit einer Person zusammenarbeiten zu müssen, von dessen wahrer Intention nichts bekannt war. Aber die Tatsache, dass dieser Mann etwas über Naoes damaligen Verbleib gewusst hatte, hatte ihn zu einer unentbehrlichen Informationsquelle für Takaya gemacht. Dass sein bester Freund darüber ganz und gar nicht erfreut gewesen war, konnte Yuzuru auch jetzt noch sehen.

Kousakas unverschämtes Verhalten gegenüber Takaya, und dessen nicht weniger rücksichtvollen Reaktionen, machten die Sache nicht angenehmer. Lediglich Naoe gegenüber schien Kousaka milder gestimmt zu sein, wenn nicht sogar unterwürfig.

Yuzuru wagte nicht, sich eine Meinung über die ganze Angelegenheit zu bilden, da er über die undurchsichtigen Beziehungen untereinander einfach zu wenig wusste.

Er schob die unbefriedigenden Gedanken zur Seite und wandte sich an Naoe, der ihn noch immer anblickte.

„Weißt du vielleicht, wo Takaya ist? Ich habe jetzt schon das ganze Haus durchsucht, aber ich finde ihn nirgends. Ich wollte seine Wunde doch noch mal überprüfen...“, meinte Yuzuru fragend, der sich verlegen an der Schläfe kratzte.

„Er hat zwar gesagt, dass alles okay wäre, aber ich wollte mich dennoch da-“

Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, weil auf einmal Kousakas lautes Lachen den Raum erfüllte.

„Es ist mir echt ein Rätsel, wie dieser Grünschnabel zu solch einer Macht fähig ist...“, brachte Kousaka zynisch hervor, der seinen Blick auf Yuzuru gerichtet hatte, der nun mit hochrotem Kopf mitten im Zimmer stand.

„Wie- also, was meinst du?“, stammelte dieser, was Kousaka noch mehr zum Lachen brachte.

„Hey Kousaka! Ich finde, das reicht!“, rief Naoe, der entschuldigend in Yuzurus Richtung sah.

„Warum? Fragst du dich nicht manchmal selbst, warum dieser Mann solch eine Gewalt über dich hat? Nun, ich würde-“

Nun war es Naoe, der Kousaka lachend ins Wort fiel.

„Dann solltest du dich vielleicht mal fragen, warum du hier bist...“, entgegnete Naoe spöttisch, der aufstand und Yuzuru dabei beobachtete, wie dieser irritiert zwischen ihm und Kousaka hin und her sah.

„Ich werde draußen nach ihm suchen, Yuzuru.“, sprach Naoe wieder mit ruhiger Stimme, und blickte Yuzuru versichernd in die Augen. Yuzuru wollte gerade entgegnen, dass er ebenfalls mit nach draußen kommen wollte, als ihm Naoe mit einer Antwort zuvorkam.

„Du wartest bitte hier. Wenn ich ihn gefunden habe, schicke ich ihn zu dir, okay?“, meinte Naoe tröstend, der Kousaka anschließend einen zornigen Blick zuwarf, da dieser bei seiner Bemerkung erneut zu lachen begonnen hatte.

„Verstanden.“, murmelte Yuzuru noch immer enttäuscht, der Naoe hinterher blickte, als dieser ohne ein weiteres Wort den Raum verließ. Yuzuru starrte noch einen Moment betrübt zur Tür, bevor er sich Kousaka fragend zuwandte, da er dessen schaulustige Augen auf sich spürte.

„Ist was?“, fragte er diesen unsicher und sah, dass sich ein hinterhältiges Grinsen auf dessen Gesicht breitmachte.

„Warum erzählst du mir nicht etwas über dich und Kagetora!?“, sprach Kousaka süffisant, und sah Yuzuru weiterhin neugierig in die Augen.

„Nun, nur wenn du mir im Gegenzug etwas über Naoe und Kagetora verrätst, plus du fängst an!“, erwiderte Yuzuru brüsk, dem der Gedanke äußerst falsch vorkam, andere nach seinem besten Freund und dessen wichtigster Bezugsperson auszuhorchen. Aber vielleicht würde er dabei etwas über Kousaka erfahren, was sich eventuell als hilfreich herausstellen könnte.

„Abgemacht. Dann werde ich anfangen...“, meinte Kousaka freudig, der sich aufrecht hingesetzt hatte und Yuzuru nun mit ernsten Augen anblickte.
 

Naoe stand gedankenversunken am Wagen und blickte sich besorgt um. Die Sonne war vor wenigen Minuten untergegangen, daher ließ die Dunkelheit nicht auf sich warten und machte die Fernsicht jetzt schon zu einem Problem. Naoe presste unzufrieden die Lippen aufeinander

und richtete seinen Blick auf seine direkte Umgebung. Dass sich Takaya nicht am Auto aufhalten würde, hatte er längst vermutet. Dennoch wollte er sicher gehen und war als erstes hierher gegangen, um seine Vermutung mit den Augen zu bestätigen.

Naoe fluchte leise und sah zurück zum Haus. Er hoffte, dass Kousaka nicht auf dumme Gedanken kam, jetzt, wo dieser sich mit Yuzuru allein befand. Aber Naoe kannte Kousaka so gut, um zu wissen, dass dieser solch eine Situation nicht ungenutzt verstreichen lassen würde, und er daher seine Hoffnung auch begraben konnte.

Er sah vom Haus weg zum Garten, von dem aus ein kleiner Verbindungsweg in den angrenzenden Wald führte. Er wusste zwar nicht, ob Takaya diesen Weg eingeschlagen hatte, aber Naoe ging davon aus, das dieser allein und ungestört sein wollte und sich daher einen Ort gesucht hatte, der sich nicht unmittelbar in der Nähe des Haus befand. Mit einem sanften Lächeln schlug Naoe den Pfad ein und hoffte, dass Takaya die gleichen Schritte vor ihm auch gegangen war.
 

„Irgendwie habe ich geahnt, dass du kommen würdest...“

Naoe erschrak für einen Moment, da er nicht damit gerechnet hatte, Takayas Stimme so kurz nach Betreten des kleinen Hains zu hören. Er sah auf und entdeckte Takaya, der in zwei Meter Entfernung auf einem umgefallenen Baumstamm saß und ihm freundlich entgegenblickte. Die letzte Tatsache überraschte Naoe mehr, als das unerwartet schnelle Finden.

„Yuzuru schickt mich. Er hat sich Sorgen gemacht, weil er dich im Haus nicht finden konnte.“, erwiderte Naoe mit fester Stimme, der zwei weitere Schritte auf Takaya zuging.

„So?! Dann sollte ich wohl zurückgehen. Ist bestimmt keine gute Idee, ihn allein mit Kousaka zu lassen. Wie ich den kenne, nutzt er diese Möglichkeit gnaden-“

„Geh noch nicht!“

Takaya, der sich gerade erheben wollte, hielt inne und sah überrascht zu Naoe, der ihn beschämt anblickte.

„Ich meinte, ich möchte gern die Wunde ansehen.“

Takaya hob fragend eine Augenbraue.

„Ich habe doch schon gesagt, dass alles in Ordnung ist. Sie hat sich fast vollständig verschlossen, also kein-“

„Bitte, Takaya...“, wisperte Naoe flehentlich Takaya unterbrechend, dem Naoes Worte eine leichte Röte ins Gesicht steigen ließen.

„Wenn es sein muss. Okay...“, brummelte Takaya leise, der spürte, dass seine Aufregung zunahm, von der er alles andere als begeistert war.
 

Takaya zog nervös seine Jacke aus, während sich Naoe neben ihn auf den Baumstamm setzte. Das zusätzliche Gewicht ließ den Stamm sanft schwingen, so dass Takaya grinsen musste. Für einen kurzen Augenblick hatte er das Bild eines zusammenbrechenden Stamms mit zwei drauf sitzenden Menschen im Kopf, die lachend ins Grass fielen.

Woah... Noch peinlicher ging’s jetzt nicht, Takaya! Reiß dich zusammen..., dachte er, als er Naoes fragende Stimme hörte.

„Warum grinst du?“

„Äh, nichts. Ich habe mich nur gefragt, warum du unbedingt die längst verschwundene Wund sehen willst, obwohl es schon recht düster ist. Wirklich viel sehen wirst du nicht mehr...“, entgegnete Takaya, der nebenbei den Ärmel hochschob und es vermied, Naoe in die Augen zu sehen.

„Nun, wenn sie, wie du sagst, sich längst geschlossen hat, kann ich sowieso nichts mehr sehen – da spielt die Dunkelheit dann auch keine Rolle mehr!“, meinte Naoe sachlich, der behutsam Yuzurus Taschentuch von Takayas Arm nahm.
 

Takaya sah auf und hielt den Atem an, als er Naoes warme Finger auf seinem Oberarm spürte. Seine Aufgeregtheit schwoll weiter an, während ihm ein wolliger Schauer nach dem anderen über den Rücken fuhr. Er unterdrückte erfolgreich ein Aufstöhnen, aber befürchtete, dass sein Erfolg nicht lange anhielt, wenn sie noch länger in dieser Position verharren würden.

Er beobachtete Naoe dabei, wie dieser seinen Arm inspizierte und mit dem Zeigefinger sanft über die Stelle fuhr, an der vor kurzem noch eine Verletzung zu sehen war. Takaya biss sich auf die Lippe, um einen klaren Kopf zu behalten, aber es war zwecklos.

Naoes Gesicht erneut von so nahen sehen zu können, ließ ihn an sein Verhalten in der Hütte vor wenigen Tagen denken. Takaya spürte, wie die Röte im Gesicht zunahm und er plötzlich das Bedürfnis hatte, beschämt wegzulaufen.

In dieser halbzerfallenen Behausung, welche Naoe als Rastort während seiner Flucht diente, hatte er ihn geküsst – mehr oder weniger. Er hatte sich in seinem Zorn, seiner Verzweiflung und Angst sowie seiner Freude auf ihn gestürzt, um sich von seiner inneren Anspannung endlich befreien zu können. Aber er hatte sofort gespürt, dass er damit das Gegenteil bewirkte. Sein Gefühlschaos war mit dieser Aktion nicht abgeebnet, sondern hatte sich nur weiter in die Höhe geschraubt. Er hätte nicht sagen können, wo das Ganze hingeführt hätte, wenn nicht plötzlich Kousaka aufgetaucht wäre.
 

Takaya schloss aufgewühlt die Augen und versuchte, seine innere Ruhe wiederzufinden, als er eine sanfte Berührung auf den Lippen spürte. Er öffnete irritiert die Augen und wäre wohl überrascht nach hinten ausgewichen, wenn nicht Naoes rechte Hand gewesen wäre, die eben noch seinen Arm berührt hatte. Diese spürte er nun an seinem Nacken, wo sie zärtlich, aber bestimmend, jede Rückwärtsbewegung unterbot.

Naoe löste die Lippen von seinen und sah ihn mit einer Mischung aus Scham, Verlangen und Liebe an. Takaya konnte nur zurück starren – zu nichts anderem war er fähig. Er hoffte, dass sich seine Gefühle nicht ebenso offen in seinem Gesicht zeigten, wie es bei Naoe der Fall war, und schluckte berauscht. Er sah, dass Naoes Gesicht wieder näher kam, und spürte ein weiteres Mal Naoes weiche Lippen.

Takaya hatte das Gefühl, sein Herz müsse stehen bleiben, als Naoe ihn mit Hilfe seines linken Armes sanft zu sich heranzog. Er spürte erneut die sanfte Bewegung des Stammes und schloss erlöst die Augen.
 

Takaya rang nach Atem, als sich ihre Lippen zum wiederholten Male voneinander lösten. Er wusste nicht wann, aber irgendwann hatte er unbewusst die Arme um Naoe geschlungen und jeden seiner Küsse fordernder erwidert. Takaya suchte begierig nach Naoes Blick und spürte ein innerliches Beben, als dieser seinem mit glühenden Augen begegnete.

Seine zitternden Hände legten sich schüchtern um Naoes Kinn, um ihn auf diese Weise zu sich heranzuziehen. Takaya sah, dass sich Naoes Augen vor Überraschung leicht weiteten und begann zu lächeln.

Erst berührte er leicht Naoes Oberlippe mit seinem Mund, bevor er anschließend sanft seine Stirn an dessen Kinn legte. Takaya atmete tief ein und genoss die körperliche Nähe. Er spürte Naoes warme Hand, die sanft seinen Rücken nach oben fuhr, um kurz im Nacken innezuhalten, bevor sie von dort aus in seine Haare fasste, um so seinen Kopf sanft nach hinten ziehen zu können. Takaya stöhnte leicht und schloss verlegen die Augen.

„Nicht...öffne deine Augen...“, flüsterte Naoe mit belegter Stimme.

Takaya fühlte beim Klang von Naoes Stimme das eigene Verlangen wachsen und blickte ihn an. Er sah Naoe lächeln, so wie er ihn noch nie zuvor hatte lächeln sehen und öffnete leicht seine Lippen, um etwas zu entgegnen, als Naoes Mund wiederholt seinen fand.

Einen Moment später spürte er dessen feuchte Zunge, die sanft über seine Lippen wanderte, bevor sie sich zwischen sie hindurchzwängte, um seine Mundhöhle auszukundschaften. Takaya stöhnte leise, während sich seine Arme gierig um Naoes Oberkörper schlangen, und er diesen unbeholfen an sich presste.

Er wusste, dass mit jeder weiteren Sekunde, die er Naoe so verboten nah war, sich seine Befürchtungen in Luft auflösten und er dabei war, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Aber er konnte nicht aufhören. Er sehnte sich nach Naoes Nähe. Er wollte nicht, dass dieser ihn freigab – noch nicht. Takaya umschlang Naoe fester.
 

Die Scheinwerfer eines heranfahrenden Autos ließen Takaya zusammenzucken. Er hatte das Gefühl, er würde aus einem Traum erwachen und blickte irritiert zu Naoe hoch, der sich rasch hingestellt hatte und seinen Blick auf Haus gerichtet hielt. Er folgte dem Blick und sah, dass Haruie und Chiaki endlich angekommen waren.

Takaya wurde bewusst, was er hier tat, und stand hastig auf. Er blickte wehmütig zu Naoe rüber, der noch immer zu den Neuankömmlingen schaute und unterdrückte das Bedürfnis, diesen erneut in seine Arme zu ziehen. Er seufzte lautlos und wandte Naoe stattdessen den Rücken zu, um sich mit großen ernüchterten Schritten in die entgegen gesetzte Richtung zu entfernen – ihm entging auf diese Weise Naoes bitterer Gesichtsausdruck, als dieser sich wieder umdrehte und ihm fragend hinterher sah.
 


 

„Chiaki!?“, rief Haruie empört, die diesem einen ungläubigen Blick zuwarf.

„Was soll das? Hör gefälligst mit dem Blöd-“

Chiakis charmantes Lächeln hätte den Raum zum Leuchten gebracht, wenn sich nicht Haruies wütender Schatten darüber ausgebreitet hätte. Sie warf gekonnt das große Messer, mit dem sie gerade die Tomaten kleingeschnitten hatte, in die Luft und zielte, nachdem sie es elegant gefangen hatte, mit einem brutalen Grinsen auf Chiaki. Dieser trat zur Sicherheit zwei Schritte rückwärts, und wäre fast mit Yuzuru zusammengestoßen, der gemeinsam mit Kousaka einen breiten Tisch in die Mitte des Raumes trug.

„A..a- Achtung, Chiaki!“, rief Yuzuru irritiert, der sich, nachdem er Haruies furchteinflößende Miene entdeckt hatte, möglichst schnell aus Chiakis Umgebung bringen wollte.

„Oh...komm schon, Haruie! So verängstigst du nur Yuzuru! Schau! Der ist ganz blass geworden!“, witzelte Chiaki ausgelassen.

„Was? Bin ich gar nicht!“, schoss Yuzuru ungläubig dazwischen, der zwar keine Ahnung hatte, warum Haruie so aufgebracht war, aber er wollte Chiakis belustigte Aussage auf keinen Fall auf sich sitzen lassen.

Yuzuru stand neben dem inzwischen in der Mitte des Raumes platzierten Tisch, und sah neugierig zu den beiden unmerklich älteren Menschen rüber, die einander noch immer mit funkelnden Augen anblickten.

Während Chiakis Augen vor Freude blitzten, umspielten Haruies dagegen nackter Ärger. Yuzuru kam nicht umhin sich einzugestehen, dass er froh war, dass Haruie nicht auf Seiten ihrer Gegner arbeitete.

Hm... Gegner... Aber welche? Wer hat es auf Takaya abgesehen... Und was ist mit Naoe gewesen? Was mache ich hier überhaupt? Hat es etwa mit mir zu tun, dass auf uns geschossen wurde...

Yuzuru wandte nachdenklich seinen Blick von Haruie und Chiaki ab und begegnete Kousakas, der ihm ein geheimnisvolles Lächeln schenkte.

Kousaka..., dachte Yuzuru angespannt, dem augenblicklich das Gespräch mit diesem wieder einfiel.
 

Sehr lange hatte ihr Gespräch nicht gedauert, da Chiakis und Haruies Ankunft sie unterbrochen hatte. Dennoch, er erfuhr in dieser kurzen Zeit einige überraschende Dinge über seinen besten Freund. Nur leider konnte er seinem Gesprächspartner nichts entlocken, was irgendwie für sie – Kagetoras Gruppe – von großem Nutzen gewesen wäre. Yuzuru musste zugeben, dass er eigentlich auch keine Ahnung hatte, was unter ‚von großem Nutzen’ fallen würde. Nichtsdestotrotz hatte er nun die Möglichkeit, Takayas zerrissene Empfindungen Naoe gegenüber besser verstehen zu können, auch wenn er das ganze Ausmaß noch nicht wirklich begreifen konnte.

Yuzuru sah verstohlen an Haruie vorbei zu Naoe rüber, der gerade dabei war, den Topf mit den heißen Spaghetti abzugießen. Dieser schien sich von Chiakis und Haruies spielerischer Auseinandersetzung nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Yuzuru seufzte leise, und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, ohne Naoe dabei aus den Augen zu lassen.
 

Als Naoe vor mehr als 20 Minuten zurück ins Haus gekommen war, hatte dieser ihm umgehend mitgeteilt, dass er Takaya gefunden hatte, und dessen Wunde keinerlei Probleme mehr bereitete. Yuzuru war über diese Neuigkeit erleichtert gewesen, dessen ungeachtet, verspürte er aber zugleich Enttäuschung darüber, da Takaya die Absicht hatte, ihn hier noch eine Weile allein zu lassen. Weshalb Takaya noch nicht zurück ins Haus kommen wollte, hatte Naoe ihm nicht sagen können – oder wollen?

Yuzuru strich sich gedankenverloren die Haare aus dem Gesicht und fuhr fort, Naoe weiter zu beobachten. Seit er von Kousaka Näheres über die undurchsichtige Beziehung der beiden erfahren hatte, wusste er nicht mehr, wie er das Gehörte mit seiner bisherigen Vorstellung von Naoe in Einklang bringen sollte.

Du liebst Takaya oder Kagetora...oder wie auch immer, also?!, sprach Yuzuru in Gedanken zu Naoe, und versuchte sich dabei vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn Naoe und sein bester Freund ihre fortwährenden Schwierigkeiten beseitigten, und miteinander glücklich würden.

Könnte ich Takaya dabei aus vollem Herzen unterstützen? Ist ihm Naoe wirklich so nah, und gleichzeitig so fern? Bin ich ihm nicht ebenso wichtig? Hm, vielleicht verbindet uns weniger, als ich angenommen habe... Argh! Reiß dich zusammen, Yuzuru! Takaya würde dergleichen niemals denken! Er war schon immer verschlossen, also mal nicht den Teufel an die Wand, sondern gib ihm Zeit, so wie du es vorgehabt ha-

Yuzurus rasende Gedanken kamen augenblicklich zum Stillstand, als er Naoes Blick auf sich spürte. Er fühlte, wie sich seine Wangen rot verfärbten, und ihm der Atem stockte. Er sah, dass Naoe fragend eine Augenbraue hob, und weiterhin den Blick auf ihn gerichtet hielt.
 

Ein heiseres Lachen befreite Yuzuru aus der Erstarrung. Er wandte den Blick von Naoe ab, um in die Richtung zu schauen, aus der das Lachen kam, und traf auf Kousakas belustigte Miene.

Yuzuru spürte augenblicklich Wut in sich aufsteigen, da er plötzlich das Gefühl hatte, dass er genau das tat, was Kousaka von ihm erwartete.

Verdammt..., fluchte Yuzuru unhörbar und riss sich von Kousaka los.

„Äh, i- ich werde mal nach Takaya sehen. Das Essen ist schließlich gleich fertig.“, stammelte Yuzuru verlegen, der sich auf der Stelle umdrehte und zur Tür schlich. Er konnte hören, wie Kousakas Lachen schlagartig lauter wurde. Yuzuru ballte die Hand zur Faust, und biss die Zähne zusammen.

„Ey Kousaka! Du bist nach wie vor eine echt unausstehliche Person! Ich weiß zwar nicht, was dich so zum Lachen animiert hat, aber ich würde dich bitten, einen Gang zurück zu schalten, denn es tut mir in den Ohren weh...“, warnte Haruie ungeniert, die sich, nachdem sie die Schüssel mit dem Salat auf den Tisch gestellt hatte, drohend vor Kousaka aufbaute. Yuzuru konnte nicht sehen, wie dieser verärgert seine Augen verengte.

„Und Yuzuru, Takaya findest du auf der hinteren Veranda! Falls er sich weigern sollte, mitzukommen, zerr ihn von mir aus an seinen auf Durchzug gestellten Ohren herein!“, rief Haruie im ausgelassen Ton, dem aber die angespannte Haltung gegenüber Kousaka anzuhören war. Yuzuru nickte stumm ohne sich umzudrehen, und verließ den Raum.
 


 

Takaya lehnte mit geschlossenen Augen und angespannter Miene an der Hauswand auf der hinteren Veranda und versuchte, in seinem noch immer aufgewühlten Zustand einen klaren Gedanken zu fassen. Verärgert musste er feststellen, dass diese Versuche leider bisher erfolglos gewesen waren.

In seinem Kopf drehte sich nach wie vor alles um Naoe und dessen Verhalten im Hain. Takaya bekam diese Begegnung einfach nicht aus seinem Kopf. Schlimmer noch, das eigene Verhalten bei jenem Aufeinandertreffen bereitete ihm Entsetzen. Takaya stöhnte lautlos. Allein der Gedanke an Naoes Hände führte dazu, dass ihm erneut ein wolliger Schauer über den Rücken lief, was er zugleich verabscheute. Er wünschte sich, er hätte mehr Selbstbeherrschung in Gegenwart von Naoe gezeigt.

Er verdrängte vehement den Gedanken daran, was wohl noch passiert wäre, wenn Haruie und Chiaki nicht in jenem Moment aufgetaucht wären. Takaya ballte rastlos die Hände in seinen Hosentaschen zu Fäusten, und murmelte leise vor sich hin.

„Naoe... Naoe... Naoe... Du verdammter Schei-“

Takaya verstummte, als er bemerkte, dass sich jemand näherte. Er sah in die vermeintliche Richtung und erblickte Yuzuru, der nervös die Veranda betrat. Trotz fortschreitender Dämmerung, die allmählich der Nacht weichen musste, konnte er erkennen, dass sich sein bester Freund in schlechter Laune befand.

Takaya spürte, dass ihn Yuzurus unerwartetes Auftauchen in Ruhe versetzte, und sich die Wogen seiner sich überschlagenden Gedanken glätteten. Er war immer wieder aufs Neue überrascht, dass dieser Mensch vor ihm unbewusst solche einen Einfluss auf ihn ausübte. Er begann entspannt zu lächeln.

„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, wollte Takaya aufrichtig wissen, der nun Yuzurus vor Ärger blitzende Augen erkennen konnte, als dieser dicht vor ihm stehen blieb. Yuzuru seufzte leise, bevor er sich neben Takaya an die Wand lehnte und zu sprechen begann.

„Nun, das Essen ist fertig...“, sprach er in unzufriedener Stimmung. Takaya sah Yuzuru von der Seite an, und hob fragend die Augenbrauen.

„So? Das Essen also... Dann nehme ich mal an, dass es etwas gibt, was dir gar nicht gefällt. Was ist es? Hühnchen? Oder doch eher grüne Bohn-“

Yuzuru fuhr Takaya ungehalten dazwischen, indem er ihm leicht den Ellebogen in dessen Seite rammte.

„Ey! Aua! Wie kannst du eine verletzte-“

Yuzuru grinste Takaya nun frech an, was jenem die Sprache verschlug.

„Ach ja? Da habe ich aber etwas anderes gehört!“, meinte Yuzuru erleichtert, der froh war zu sehen, dass es seinem besten Freund gut ging.

„Ich weiß zwar nicht, WAS du gehört hast, aber ich kann dir sagen, dass mir noch immer alles schmerzt, und du dich mir gegenüber gefälligst einfühlsamer verhalten solltest!“, log Takaya spielerisch, der das breite Grinsen dabei nicht aus dem Gesicht verbannen konnte.

„Ich mag Kousaka nicht.“, gab Yuzuru auf einmal leise zu, der dabei nun unbestimmt in die Ferne starrte.

Takaya sah seinen Freund überrascht an. Ihm fiel wieder ein, dass Yuzuru und Kousaka eine kurze Weile allein im Haus gewesen waren, und er keine Ahnung hatte, was in dieser Zeit vorgefallen war – und Yuzurus überraschender Aussage nach musste etwas vorgefallen sein. Takaya spürte Unbehangen in sich aufsteigen. Er hoffte, dass Kousaka Yuzuru nicht mit unnötigen Dingen belastet hatte, aber irgendwie wusste er, dass dies reines Wunschdenken war. Takaya konnte nur hoffen, dass Yuzuru keine falschen Schlüsse zog, und sich an ihn wenden würde, wenn er mit dem, was auch immer er gehört haben sollte, nicht klarkommen würde. Yuzurus ratlose Stimme riss Takaya aus seinen Gedanken.

„Ich mein, ich kenne Kousaka nicht, und bevor ich mir eine Meinung über einen Menschen bilde, will ich ihn selbst kennenlernen. Nun, was ich sagen will, ist... Also, ich habe ja mitbekommen, dass ihr alle nicht sehr gut auf ihn zu sprechen seid. Aber wie ich schon gesagt habe, will ich mir meine eigene Meinung bilden. Und wenn ich jetzt ehrlich bin, dann will ich diesen Menschen gar nicht kennenlernen. Ganz schön blöd, was?“, beendete Yuzuru laut seine ehrlichen Gedanken, und warf Takaya einen frustrierten Blick zu.

Dieser war über die Offenheit seines Gegenübers nicht überrascht, da er Yuzurus Wesen inzwischen sehr gut kannte. Er konnte auch verstehen, warum jenem diese Situation schwer zu schaffen machte.

Yuzuru sah in allen Menschen das Gute. Daher behandelte er alle mit gleichem Respekt, unabhängig davon, wie sich die Gegenseite ihm gegenüber verhielt. Takayas Hochachtung vor dieser Haltung kannte keine Grenzen, dennoch, er wusste, dass Yuzuru mit dieser Einstellung, die viele als naiv abstempelten, hin und wieder an seine eigenen noch vorhandenen Grenzen stieß. Dass dieser Weg kein einfacher war, musste Yuzuru oft genug spüren, aber das hatte nicht dazu geführt, dass jener einen anderen Pfad einschlug.

Takaya holte tief Luft, bevor er mit verkrampfter Miene zu reden begann.

„Kousaka mag zwar undurchsichtig erscheinen, um es mal NETT auszudrücken, aber ich glaube, er sucht eigentlich auch nur nach etwas, was ihm Frieden verschafft.“

Takaya musste sich regelrecht zwingen, diese Worte auszusprechen, aber er wollte Yuzuru etwas Trost in seiner misslichen Lage schenken.

„Takaya! Das war ein Satz für die Ewigkeit! Ich wusste gar nicht, dass du zu so etwas fähig bist!“, antwortete Yuzuru belustigt mit aufgerissenen Augen. Takaya wollte schon mit der Faust drohen, als er eine Veränderung in Yuzurus Körpersprache bemerkte.

„Danke.“, sprach dieser aus tiefstem Herzen.

„Keine Ursache...“, murmelte Takaya mit sanfter Stimme. Yuzuru und er verstummten, und blickten gemeinsam für eine Weile in den vor ihnen liegenden Garten.

Die sich inzwischen vollends ausgebreitete Dunkelheit erlaubte es lediglich, dunkle Umrisse und Schatten zu erkennen, so dass sie die Augen schlossen, und geräuschvoll die kühle Nachtluft einsogen. Die beiden schenkten den Geräuschen um sie herum verstärkte Aufmerksamkeit, und genossen die Anwesenheit des anderen.

„Oh... Das Essen! Wir sollten uns beeilen, Takaya! Ich glaube, Haruie wird sonst-“

Eine unerwartete, aber bekannte, wohlklingende Stimme aus dem Nichts, stoppte Yuzurus plötzlichen Ausbruch, und ließ die beiden zusammenzucken.
 

„Haruie hat sich inzwischen mit eurem Fortbleiben angefreundet, und angefangen zu essen. Ihr solltet euch also beeilen, wenn ihr noch etwas abbekommen wollt!“, klärte Naoe sie im amüsierten Tonfall auf, der nun ebenfalls die Veranda betrat. Takaya spürte sein Herz schneller schlagen, als sich Naoes Gesicht aus der Dunkelheit schälte. Dieser widmete ihnen ein freundliches Lächeln, während er zu ihnen trat.

Die verdrängten Gedanken an jene Berührungen im Wald schossen Takaya mit voller Wucht zurück ins Gedächtnis. Er fühlte Hitze in sich aufsteigen, und verfluchte sich innerlich dafür. Die Tatsache, dass es dunkel war, verschaffte ihm ein wenig Erleichterung, denn so würde seine veränderte Gesichtsfarbe unentdeckt bleiben. Er hoffte, dass ihn auch seine Stimme nicht verraten würde, als er sich zusammenriss und zu sprechen begann.

„Wir waren gerade auf dem Weg, also kein Grund, extra hierher zu kommen.“, antwortete Takaya übertrieben gereizt, der es vermied, Naoe in die Augen zu sehen. Er bemerkte, dass Yuzuru ihn mit einem unbestimmten Ausdruck in den Augen anstarrte und fühlte, dass sich die Wärme in seinen Wangen schlagartig erhöhte. Takaya senkte den Blick.

„Äh, also. Wir waren wirklich gerade auf dem Weg! Tut uns leid...“, stammelte nun Yuzuru unsicher, der sich der ansteigenden Spannung seines besten Freundes bewusst war.

Er blickte bekümmert zwischen Naoe, der seinen Blick auf Takaya gerichtet hielt, und Takaya, der noch immer zu Boden starrte, hin und her, ehe er einen Schritt in die Richtung machte, aus der er, und nun auch Naoe, vor einiger Zeit gekommen war.

Yuzuru sah, dass sich Takaya ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte, aber einen Moment später, beim Klang von Naoes Stimme, wie angewurzelt stehen blieb.

„Kagetora-sama. Kann ich dich einen Moment sprechen? Allein?“

Yuzuru sah erschüttert zu Naoe rüber, der seine Augen weiterhin auf Takaya gerichtet hielt, während er sprach. Ein schmerzvoller Ausdruck lag auf dessen Gesicht, der Yuzuru den Hals zuschnürte. Während er die eigenen aufgewühlten Gefühle ausblendete, verabschiedete er sich hastig von beiden und ging schnellen Schrittes den gekommenen Weg, erneut allein, zurück. Yuzuru hoffte, dass er, bevor er wieder das Haus betrat, seine Ruhe wiederfinden würde.
 


 

Takaya hielt noch immer den Blick gesenkt. Es fiel ihm schwer, den Kopf zu heben, und zu Naoe zu schauen, der weniger als einen Meter von ihm entfernt stand. Bei seiner zu Boden gerichteten Sicht, konnte er wage dessen Schuhe erkennen, die so schwarz wie die Nacht um sie herum waren.

Verdammt! Reiß dich zusammen, Takaya! Schwäche ist jetzt nicht das, was du gebrauchen kannst...

Takaya holte tief Luft, richtete sich mit lautloser Ermunterung auf, und traf unerwartet auf Naoes vor Leidenschaft funkelnde Augen, die sich nur noch wenige Zentimeter von seinen entfernt befanden.

„Wa-“

Takaya konnte nicht zu Ende sprechen, da Naoe ihn sanft an die Hauswand drückte, und dessen Lippen ungestüm ein weiteres Mal an diesem Abend seine suchten. Als sie ihr Ziel gefunden hatten, blieb Takaya nichts anderes übrig, als sich verzweifelt an Naoes Rücken zu klammern, um nicht den Halt zu verlieren.
 

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als Naoe von ihm abließ, und einen Schritt zurücktrat. Takaya spürte noch immer Naoes weiche Lippen auf den eigenen, sowie die Wärme der Hände, die sich sanft um seine Wangen gelegt hatten. Schmeckte den flüchtigen Zigarettenrauch, als sich dessen Zunge einen Weg in seine Mundhöhle gebahnt hatte, und ihm damit einen erregenden Schauer nach dem anderen über den Rücken gesandt hatte.

Takaya presste aufgewühlt die Lippen aufeinander und zwang sich, Naoe anzublicken. Als er dessen Gesichtsausdruck sah, stockte ihm der Atem. Es schien, als könnte sich dieser zwischen Liebe, Schmerz und Schuld nicht entscheiden, und setzte somit seinem Besitzer so stark zu, dass dessen liebevoll gemeintes Lächeln eher einer Grimasse glich. Würden sie ein unbeschwertes Leben führen, hätte dieser Anblick Takaya dazu veranlasst, bereitwillig seine Arme nach Naoe auszustrecken, um diesen, ohne wenn und aber, tiefer in sein Leben hineinzuziehen. Aber die Realität sah anders aus.

Takaya spürte, dass sich mit der zurückkehrenden Fassung, in ihm die vertrauten aufgebrachten Gefühle ausbreiteten, die es ihm unmöglich machten, entspannt mit Naoe umzugehen.

„War es DAS, worüber du mit mir reden wolltest? Wenn ja, dann sind wir hier wohl fertig, und können zu den anderen gehen.“, zischte Takaya herablassend, dem diese Worte sogleich leidtaten, als er den schmerzlichen Ausdruck in Naoes Augen erblickte. Dieser senkte für einen kurzen Moment den Kopf, ehe er Takaya erneut, nun mit ausdrucksloser Miene, ansah.

„Verzeiht, Kagetora-sama.“, sprach Naoe leise, der Takaya am Gehen hinderte.

„Was!? Lass mich-“

Während Naoe zögerlich seine Hand zurückzog, begann er zu sprechen.

„Hast du dir schon Gedanken darüber gemacht, wie unser weiteres Vorgehen aussehen soll?“, fragte Naoe nun mit gewohnt ruhiger, aber ernster Stimme.
 

Takaya starrte Naoe verwundert an und überlegte, ob er wütend oder erleichtert über diese Frage sein sollte.

Er war ihr Anführer, und von daher hatte er sich natürlich schon weitere Gedanken gemacht. Lediglich die jüngsten Ereignisse um Yuzuru herum, hatten ihn seinen bereits gefassten Plan erneut überdenken lassen.

Es blieb ihnen nun keine andere Wahl, als Yuzuru zu seinem Schutz vorerst bei ihnen zu behalten. Das bedeutete, dass sich dieser gemeinsam mit ihm, Naoe und Kousaka auf den Weg nach Wajima begeben musste, um dort möglicherweise auf Shishido zu treffen, was nicht weniger gefährlich war. Vor allem dann, wenn sich herausstellt, dass Shishidos Familie wirklich hinter dem heutigen Angriff stand.

Ob Shishido selbst darin involviert war, konnten sie noch nicht mit Bestimmtheit sagen, da momentan alles dagegen sprach. Dennoch, dieser mysteriöse Mann, der Naoe als Geisel genommen hatte, um ihn herauszufordern, war mit Vorsicht zu genießen. Leider zwangen sie aber die neuen Entwicklungen um Yuzurus Person, genau diesen Mann aufzusuchen – und nicht nur deswegen.

Takaya sah in Naoes durch die Dunkelheit überschattete Augen und fragte sich, was in diesem wohl vorging. Hegte dieser Rachegefühle? Verlangte er zuviel von Naoe, wenn er befahl, Shishido unter allen Umständen erneut zu treffen?

Chiaki hatte davon gesprochen, dass es durchaus passieren könnte, dass Naoe zu irgendeinem späteren Zeitpunkt zusammenbrechen könnte, aber das war reine Vermutung. Takaya wollte sich darüber jetzt nicht den Kopf zerbrechen und hoffte, dass Naoe wusste, was er tat – auch wenn ihm klar war, dass Naoe in seinen Entscheidungen nicht wirklich frei war.
 

„Willst du mich mit dieser Frage demütigen?“, wollte Takaya unnachgiebig, trotz seiner besorgten Gedanken, wissen, und baute sich drohend vor Naoe auf.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, solch ein Verhalten jemals toleriert zu haben...“, knurrte Takaya, dem Naoes sich plötzlich weitende Augen nicht entgangen waren.

„Wie auch immer...“, fuhr Takaya im gemäßigten Ton fort,

„...du, Yuzuru, ich und Kousaka, wenn dieser nicht schon etwas anderes vorhaben sollte, werden gemeinsam nach Wajima fahren. Geplant hatte ich diese Reise ursprünglich zu dritt, aber unter diesen Umständen möchte ich Yuzuru nicht in Matsumoto zurücklassen – selbst nicht unter dem Schutz von Chiaki und Haruie. Und was das Zurückhalten von Informationen gegenüber Chiaki und Haruie angeht, nun, da bin ich nicht deiner Meinung. Die beiden werden über alles in Kenntnis gesetzt, zumal Kousaka, wenn er uns begleiten sollte, sowieso nicht mit ihnen in Kontakt kommen wird. Yuzuru hingegen werde ich selbst nur das Nötigste erzählen und hoffe, dass er sich auf diese neue Situation ohne Schwierigkeiten einstellen kann. Chiaki wird sich darum kümmern, dass sich dessen Eltern nicht unnötig sorgen werden, und die Sache mit der Schule regeln.“

Takaya verstummte, als er am Ende der Erläuterung seines Planes angekommen war. Er blickte neugierig zu Naoe rüber, gespannt auf dessen Reaktion, die aber anders ausfiel, als er erwartet hatte – er konnte sehen, dass Naoe lediglich wortlos nickte, sich anschließend umdrehte, um sich dann mit lautlosen Schritten von ihm zu entfernen.

Takaya starrte verblüfft auf den sich entfernenden Rücken und musste zugeben, dass er nicht wirklich wusste, was er eigentlich erwarten konnte, denn schließlich waren seine Anweisungen Gesetz. Trotzdem fand er ein sich-wortloses-Zurückziehen völlig daneben, und spürte seinen Ärger erneut aufflammen.

„HEY!“, rief er aufgebracht, obwohl er innerlich über seine Schwäche – seine emotionale Abhängigkeit – fluchte. Takaya sah, dass Naoe stehenblieb, und sich ihm zuwandte.

„Kagetora-sama?!“, rief dieser fragend, während Takaya bei diesem Namen für einen Moment zusammenzuckte, ehe er, seinen Ärger unterdrückend, mit selbstbewussten Schritten auf den älteren Mann zutrat.

„Damit das klar ist... Ich denke, ich muss dich nicht darauf hinweisen, dass du gewisse DINGE in nächster Zeit unterlassen solltest, wenn wir nach Wajima fahren. Verstanden?“, sprach Takaya mit fester Stimme, der dabei Naoes Berührungen vor Augen hatte und sich bemühte, seine wachsende Aufregung zu verbergen. Er trat an Naoe vorbei, und ließ nun seinerseits diesen wortlos zurück.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  firebeast
2009-05-12T11:22:18+00:00 12.05.2009 13:22
Mega, oberhammergeil *.*...ohhhh echt geil, also besser gehts echt nicht mehr. Erstmal der Anfang war super witzig und eine kleine Entspannung zwischen den aufregenden Hetzjagden....und dann dieser genial eingefädelte Halbschlussteil....Und endlich waren die zwei mal so schlau ihre Gedanken auszuschalten udn einfach mal Gefühle sprechen zu lassen. Na ja das blöde Auto nur -.-'... sowas stört nunmal ^^. Aber egal Spannung muss sein und Spannung udn Cliffhänger ist ja dein zweiter Vorname..XD

Super geil, ich freu mich mega doll auf die Fortsetzung. Einfach geil!
Von: abgemeldet
2009-05-12T02:29:00+00:00 12.05.2009 04:29
Geil sage ich nur. Geiles Kapitel und der mittelteil erst XD abgefahren. Ich freue mich schon auf das nexte Kapitel. und wie ich mich freuen werde.


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