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Zerspringende Ketten

von

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Grenzen

Ein warmer Wind fuhr sanft durch die wenigen Laubbäume, die gemeinsam mit den vorherrschenden Rotkiefern um die Aufmerksamkeit der Besucher dieses ruhigen Ortes konkurrierten. Während der Windhauch das Laub zum Singen brachte, entlockte er den Kiefern ein tiefes Knarren, welches hin und wieder von einem lauten Vogelschrei begleitet wurde.

Takaya schloss befreit die Augen und genoss die angenehme Briese, die mit ihrem verliebten Spiel vor seinen dunklen Haaren keinen Halt machte. Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er nahm einen tiefen Atemzug und öffnete seine Augen. Er strich mit der Hand die in das Gesicht gewehten Haarsträhnen zur Seite, und richtete wehmütig seinen Blick auf den Mann vor ihm. Naoe schritt schweigsam einige Meter voraus, und hatte die Jacke lässig über die Schulter geworfen.

Takaya starrte für einen Moment über Naoe hinweg in die Ferne, und konnte den Umriss des Tateshina Berges erkennen, der sich blass in der trüben Luft abzeichnete. Er hatte diesen schon während der letzten Kilometer mit dem Auto hierher ständig im Blickfeld gehabt und dafür gesorgt, dass ungewollt alte Erinnerungen wach wurden – nicht nur schöne, wie er feststellen musste.
 

Der Berg Tateshina gehörte zu dem nördlichen Ausläufer der Yatsugatake Gebirgskette, die sich in den Süden erstreckte und mit dem Berg Amigasa ihren Abschluss fand. Takaya konnte sich entsinnen, einmal einen Schulausflug zum Berg Tengu gemacht zu haben, der ebenfalls ein bekannter Berg dieser Gebirgskette war und mittig in ihr lag.

Damals war er einfach nur Takaya gewesen. Hätte ihm seinerzeit jemand gesagt, dass er eine über 400 Jahre alte Seele war, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Neuzeit vor überdauernder Seelen machthungriger Kriegsfürsten zu schützen, hätte er die Absurdität dieser Offenbarung durchaus auf die Höhenluft schieben können. Aber heute, einige Jahre später, gab es nichts mehr, was die Wahrheit um seine Person verschleiern konnte.

Er war Lord Uesugi Saburo Kagetora, der aufgrund schrecklicher Erfahrungen ihn, Ougi Takaya, in seiner Seele geboren hatte, um sich auf diese Weise, unauffindbar von allem Schmerzlichen, tief zurückziehen und die Aufgabe des reinen Überlebens an ihn abgeben konnte. Takaya fühlte, wie sich dieser zurückgezogene und gänzlich unbekannte Teil seiner Seele immer weiter in ihm ausbreitete, ohne aber seine bisherigen Erfahrungen und Gedanken auszulöschen.

Die Menge dieser neu hinzugewonnen Informationen war für ihn zum jetzigen Zeitpunkt schlicht und ergreifend überwältigend und kaum zu ertragen. Noch immer machte ihm die unbändige Wut Kagetoras Angst, die ihn mehr und mehr auszufüllen drohte und, wie er zugeben musste, auch durchaus nachvollziehbar war. Dennoch konnte er dieses Empfinden nicht akzeptieren. Er wollte diese Wut umwandeln, damit weder er noch Naoe in Zukunft weiter darunter leiden mussten, aber es war schwer – unendlich schwer, und er fragte sich, ob er überhaupt je in der Lage war, dieses Empfinden bewusst steuern zu können. Manchmal kam er sich wie eine Marionette vor, die keinen eigenen Willen besaß, obwohl das natürlich nicht zutraf. Er besaß einen, oder wohl eher zwei, die sich langsam übereinander schoben und für ein innerliches Chaos sorgten.
 

Takaya seufzte leise und versuchte sich wieder auf den Weg zu konzentrieren. Er, Naoe und Yuzuru befanden sich auf dem Pfad zu einem kleinen Friedhof oberhalb einer alten Siedlung, deren Namen er schon vergessen hatte. Einzig Kousaka war nicht bei ihnen. Dieser hatte entschieden abgelehnt sie zu begleiten, als er erfahren hatte, wohin ihre Fahrt ging. Er hatte, wie er erklärte, auf diese perverse Rührseligkeit keine Lust und war im Auto geblieben.

Tatsächlich wäre es Takaya lieber gewesen, mit Naoe allein zum Grab gehen zu können, aber er wollte Yuzuru so wenig wie möglich mit Kousaka allein lassen, und hatte daher dessen Mitkommen regelrecht befohlen. Zum Glück hatte sein bester Freund ohnehin Interesse gezeigt, so dass die harschen Worte rasch vergessen waren.

Takaya warf einen Blick über seine Schulter und sah neugierig zu Yuzuru, der einige Meter entfernt an einer sehr alten und ergrauten knorrigen Kiefer stehen geblieben war und die Hände zum Beten erhoben hatte. Auf dessen Gesicht konnte er einen ungewöhnlich sanften Ausdruck erkennen, der Takaya in seinem eigenen befriedeten Empfinden bestätigte.

Er wartete, bis sich sein Freund wieder in seine Richtung gedreht hatte, bevor er ihm etwas zurief.

„Hast du zufällig noch einen Schokoriegel einstecken?“, fragte Takaya grinsend, der einen Augenblick später mit seiner Hand einen Riegel fing. Während er ihn auspackte, gesellte sich Yuzuru an seine Seite und gemeinsam folgten sie Naoe, der wartend an der nächsten Wegbiegung stand und ihnen einen unergründlichen Blick zuwarf.

„Du solltest deinen Zuckerkonsum vielleicht etwas zurückfahren, sonst ist dir der Zahnarztbesuch sicher, Takaya!“, scherzte Yuzuru.

„Sei doch froh, so haben deine Eltern wenigstens etwas zu tun.“, meinte Takaya lachend, den halben Riegel längst verschlungen hatte.

„Ist das wirklich okay?“, fragte Yuzuru unerwartet nach einigen schweigsamen Schritten nebeneinander.

Yuzurus besorgt klingende Stimme ließ Takaya innehalten. Er hatte das Gefühl, dass sich dessen Frage nicht auf die Nebenwirkungen von Süßigkeiten bezog. Ihn erfasste auf einmal unbewusst tiefe Trauer, die ihn nach Luft schnappen ließ.

„Alles in Ordnung?“, wollte Yuzuru wissen, der sich ihm unerwartet in den Weg stellte und fest den Blick auf ihn gerichtet hielt. Takaya erwiderte ruhig dessen fragenden Blick.

„Was soll nicht in Ordnung sein? Kein Grund zur Sorge.“

„Ich finde, dass eine ganze Menge nicht in Ordnung ist! Und das HIER kommt mir reichlich grausam vor – für dich und für Naoe. Warum-“

Yuzuru spürte plötzlich für einen Moment Takayas kühle Hand auf seinen Lippen, die einen sanften Druck ausübte. Er verstummte.

„Ich weiß nicht, was Kousaka dir erzählt hat. Aber du kannst mir glauben, dass ich mir das hier gut überlegt habe. Dies ist ein Schritt, den ich früher oder später mit Naoe sowieso gehen wollte. Nun geschieht es eben etwas frühzeitiger, und leider völlig unausgesprochen mit Naoe.“, antwortete Takaya wehmütig.

„Kousaka hat mir zwar einige Dinge erzählt, aber ich möchte sie lieber von dir hören! Es fühlt sich einfach nicht richtig an, nur seine Sicht der Dinge erfahren zu haben. Du bist mein bester Freund, Takaya, und er nur ein Fremder für mich.“, rief Yuzuru aufgewühlt, der spürte, dass Takaya nicht bereit war zu reden. Enttäuscht ließ er den Kopf hängen.

„Weißt du, ich will dir damit einfach nur einen Teil deines Schmerzes nehmen…“, murmelte Yuzuru kaum hörbar, der eine Sekunde später einen schmerzhaften Schlag gegen seine Schulter spürte, der ihn überrascht nach hinten stolpern ließ – begleitet von Takayas freundlichem Lachen.

„Anstatt sich Sorgen um mich zu machen, solltest du zur Abwechslung mal lieber über deine Lage nachdenken!“ Während Takaya sprach, trat er seufzend auf Yuzuru zu und tippte diesem sanft mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.

„Echt… Was würde ich nur ohne dich machen?!“

„Verhungern? Vereinsamen? Verblö-“ Yuzuru konnte nicht zu Ende sprechen, da er sich auf einmal im Schwitzkasten von Takaya wiederfand, der ihn gespielt mit maßlos übertriebenen Verwünschungen überschüttete.

„Hey! Takaya... Lass mich lo-“

Yuzuru begann zu lachen und spürte Erleichterung in sich aufsteigen. Selbst wenn Takaya jetzt nicht mit ihm reden wollte, hatte er zumindest die Gewissheit, dass dieser es eines Tages tun würde. Ihm lief ein entzückter Schauer über den Rücken, der augenblicklich stoppte, als er Naoes genervte Stimme vernahm.
 

„Könnt ihr mir mal verraten, was ihr da macht?

Takaya und er sahen gleichzeitig nach vorn zu Naoe und begannen zu grinsen. Yuzuru wusste, dass die Situation alles andere als lustig war, denn schließlich befanden sie sich auf dem Weg zum Grab von Minako. Dennoch wollte er sich das berauschende Gefühl der Verbundenheit mit seinem besten Freund nicht nehmen lassen – auch nicht von Naoe.
 


 

Shishido blickte gedankenverloren auf den Fluss, der sich unterhalb der Anhöhe entlang bewegte, auf der er seit einigen Minuten allein stand. Er verfolgte das fließende Wasser, welches sich auf dem Weg zum Meer befand, das sich am Horizont abzeichnete. Er genoss die Ruhe, die ihn hier umgab und dachte für einen Moment an sein Anwesen in Wajima, das unmittelbar an jenem Meer lag. Trotz aller widrigen Umstände freute er sich auf sein Zuhause. Er hoffte, noch ein wenig Zeit für sich zu haben, ehe Kagetora und Naoe eintrafen.

Denn dass sich diese auf dem Weg nach Wajima befanden, stand außer Frage, auch wenn die letzten Informationen zu deren derzeitigem Verbleib eher dürftig ausgefallen waren. Bisher war die kleine Gruppe auf keiner Straße Richtung Norden entdeckt worden, was aber nicht hieß, dass sie es nicht dennoch war.

Shishido konnte nur darüber rätseln, zu was Kagetora fähig war. Ihr kurzes Aufeinandertreffen war erschreckend, aber zugleich berauschend gewesen. Er hatte einen kleinen Vorgeschmack auf dessen Macht erhalten können, welcher wahrscheinlich lediglich die Spitze des Eisberges war, der aber dafür gesorgt hatte, dass er sich nach einem erneuten Treffen verzerrte. Er konnte nicht sagen, ob er Kagetora gewachsen war, aber er war zu weitaus mehr fähig, als es ihm sein verletzter Zustand bei ihrem ersten Aufeinandertreffen erlaubt hatte.

Es wäre reines Wunschdenken von ihm, wenn er glaubte, Kagetora würde ihn einzig und allein anhand dieser einen Begegnung einschätzen. Dieser Mann war nicht weniger intelligent als er selbst, was die ganze Angelegenheit interessant werden ließ. Aber nicht nur diese Tatsache sorgte für Aufregung bei allen Beteiligten. Das Interesse seines gehassten Vaters an Kagetoras Freund Yuzuru erzeugte ungeheuren Druck auf diese Gruppe, von dem er hoffte, dass er diesen für sich nutzen konnte. Bisher ging es ihm lediglich darum, Kagetora zu zerstören, wie es dieser mit dem eigenen Bruder getan hatte. Inzwischen aber formte sich der Gedanke in ihm, Kagetora mit Hilfe von Yuzuru in die Knie zu zwingen. Wenn ihm Naoe schon entschlüpft war, konnte er sich vielleicht auf Yuzuru konzentrieren, der, den Aussagen seiner Leute nach, keinerlei Kontrolle über die in diesem innewohnende Kraft hatte und somit ein leichteres Opfer darstellte. Auf diese Weise würde er seinem Vater ebenfalls den Weg durchkreuzen, was ihm große Befriedigung verschaffen könnte.

Shishido richtete seinen Blick nach innen und überprüfte seinen körperlichen Zustand. Alle Wunden waren inzwischen verheilt und er fühlte sich gut. Die übertriebene Vorsicht seines engsten Vertrauten war ihm lästig, aber nachvollziehbar, denn schließlich konnte Arakawa nicht in ihn hineinsehen. Er seufzte leise und sah erneut zum Horizont. In weniger als drei Stunden würden sie in Wajima ankommen und seine Reise vorerst ein Ende finden. Vielleicht würde er sich dann ein paar vergnügliche Stunden mit Arakawa schenken, die dieser sich sicherlich schon seit Wochen wünschte.

Ein Lächeln begann Shishidos Lippen zu umspielen, wenn er an seinen Vertrauten dachte. Arakawa würde ihn zu Bett tragen und ihn sanft, aber mit besitzergreifender Bestimmtheit lieben. Der Gedanke an dessen warme Hände ließ ihm einen erregenden Schauer über den Rücken laufen.

Die Stunden, die er mit Naoe verbracht hatte, hatten ihm durchaus Befriedigung verschafft, aber mehr auf geistiger Ebene und in Bezug auf Kagetora. Es war Shishido nicht verborgen geblieben, dass Arakawa die ganze Zeit über eifersüchtig auf Naoe gewesen war. Was sein engster Vertrauter aber nicht wusste, war, dass nur dieser in der Lage war, ihn in völlige Hochstimmung zu versetzen. Diese Tatsache wollte er Arakawa aber nicht auf die Nase binden, denn es würde ihren derzeitigen Umgang miteinander schwer verändern. Vielleicht ergab sich zu einem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit, Arakawa über seine wahren Gefühle aufzuklären, aber im Moment war dieses Vorgehen vorerst undenkbar.
 

Shishido spürte das Herannahen der Person, die eben noch seine Gedanken bestimmt hatte. Er wartete stumm mit dem Rücken zu Arakawa, der im kurzen Abstand hinter ihm zum Halt kam.

Ein leichter Wind umspielte sie beide, und zerrte sanft an ihren Haaren und Kleidungsstücken. Shishido schloss erneut die Augen und ergab sich für einen Augenblick seinem Gefühl des Verlangens, das er in gleicher Intensität hinter sich lodern spürte und ihm unaufhörlich entgegenschlug.

„Es gibt keine neuen Informationen über Kagetora und dem Verbleib der Gruppe. Kakizaki Haruie und Shuuhei Chiaki befinden sich noch immer in Matsumoto. Es hat nicht den Anschein, dass sie erneut zur Gruppe stoßen werden.“

Während Arakawa sprach, drehte sich Shishido langsam zu diesem um und starrte in dessen dunkelgraue Augen, in denen er Sorge erkennen konnte. Sein engster Vertrauter erwiderte seinen Blick für wenige Sekunden, ehe dieser die Augen abwandte und nervös an ihm vorbei unbestimmt in die Ferne sah. Shishido registrierte dieses Verhalten mit Genugtuung und schenkte dem jungen Mann vor ihm dafür ein Lächeln.

„Dann sollen die Männer in Wajima in Stellung gehen. Wenn Kagetora vor uns ankommen sollte, dann sollen sie die Gruppe beschatten und ihnen freien Zugang zum Anwesen lassen, falls dieses deren Vorhaben sein sollte. Ich wünsche keine Konfrontation.“

„Wie Ihr wünscht, Shishido-sama.“, entgegnete Arakawa angespannt.

Shishido hob neugierig die Augenbraue. Er überlegte, ob er warten sollte, bis ihm Arakawa von allein den Grund für dessen Unruhe mitteilte, oder ob er gleich danach fragen sollte. Die Entscheidung wurde ihm aber in der nächsten Sekunde abgenommen.

„Ich habe einen Anruf von Sasuke erhalten.“, sprach Arakawa mit fester Stimme, der sich bemühte, seine Besorgnis aus der Stimme fernzuhalten.

„Euer Vater lässt nicht nur nach Yuzuru suchen, sondern nun auch gezielt nach Euch.“

„Lass mich raten. Kopf dieser Mission ist niemand anderes als Sasuke.“, meinte Shishidos herablassend, der sah, dass sich Arakawas Augen dabei für einen Moment wütend verengten.

Shishido wusste, dass sich die beiden Brüder sehr nahe standen, und Sasuke als Spion eine gefährlichere Aufgabe zu meistern hatte als Arakawa. Diese Tatsache belastete seinen engsten Vertrauten mehr, als dieser es zugeben würde. Shishido hatte mit diesem Schritt seines Vaters schon viel früher gerechnet. Denn es wäre vermessen gewesen zu glauben, dass Sakamoto Kyosuke die Veränderung Sasukes nicht bemerkt hätte.

Für Shishido stand schon seit geraumer Zeit fest, dass sein Vater Sasuke nur aus dem Grund am Leben ließ, weil dieser sich dadurch erhoffte, ihn irgendwann mittels dieser Verbindung aufspüren zu können. Er ging davon aus, dass Arakawa dieser Umstand auch bekannt war, auch wenn sie bisher nicht offen darüber gesprochen hatten. Dieser befürchtete nun, und das wohl auch zu Recht, dass Sasukes Zeit ablief und ihm die Hände gebunden waren.

„Es ist so, wie Ihr es sagt. Er hat zwar freie Hand, was die Mission angeht, aber einer der engsten Vertrauten Ihres Vaters soll ihm dabei zur Hand gehen – ihn wohl eher dabei überwachen. Sasuke erwartet Eure Anweisung.“

Während Arakawa sprach konnte Shishido erkennen, dass dieser Mühe hatte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Er konnte sich gut vorstellen, dass dieser hoffte, er würde augenblicklich Sasukes Rückzug befehlen und damit für dessen Sicherheit sorgen, aber so einfach ging das natürlich nicht. Sasuke stand unter Beobachtung. Würde er jetzt fliehen und zu ihnen stoßen, hätte sein Vater genau das erreicht, was sich dieser womöglich mit diesem Auftrag an Sasuke erhoffte. Sie hatten im Moment keine andere Wahl, als abzuwarten und zu hoffen, dass der jüngere Bruder Arakawas in seiner Funktion als Spion nicht das Leben verlor.

Bei längerer Überlegung kam Shishido zudem zu der Feststellung, dass Sasukes Leben vorerst nicht in größerer Gefahr schwebte als noch vor dem neuen Auftrag des alten Clanoberhauptes. Er ging sogar soweit zu glauben, dass es seinem Vater nicht wirklich um Sasuke ging, sondern um dessen älteren Bruder Arakawa, seinem besten Mann. Denn zum einen hatte dieser eine wichtigere Position innerhalb seines Machtgeflechts inne, und zum anderen besaß Arakawa großen Einfluss auf ihn, mehr als es seinem engsten Vertrauten selbst klar war. Sein Vater hatte sich also die beste Strategie ausgesucht, Arakawa und somit auch ihn selbst aus der Reserve zu locken. Lediglich der Zeitpunkt kam Shishido sehr ungelegen. Er hatte mit Kagetora und dessen Gruppe schon alle Hände voll zu tun, und wollte sich daher nicht auch noch mit seinem verhassten Vater einlassen.

„Sasuke soll die Stellung halten und wenn möglich, den Aufbruch nach Wajima so lange wie möglich herauszögern. Viel Zeit wird ihm mein Vater wohl nicht lassen, aber vielleicht reicht es aus, um vorher die Sache mit Kagetora erledigt zu haben.“

Während Shishido sprach, spürte er, dass Arakawa Mühe hatte, schweigsam den Befehl entgegen zu nehmen. Dieser öffnete mehrmals stumm den Mund, presste diesen aber im nächsten Augenblick wieder angespannt aufeinander. Doch dann verschaffte Arakwa seinem Unmut letztendlich Platz, was Shishido nun mit wachsendem Ärger registrierte.

„Sollte sich Sasuke nicht sofort zurückziehen und vorerst untertauchen? Ich meine, er hat lange genug die Ste-“

Arakawa kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn Shishidos unsichtbare Macht erfasste ihn und stieß ihn unerwartet hart nach hinten, so dass es diesem schwer fiel, sich auf den Beinen zu halten. Er ging in die Knie und fasste sich an die schmerzende Brust, wo er noch immer den dumpfen Aufschlag der Macht spüren konnte. Er blickte überrascht zu Shishido hoch, der nähergekommen war und verärgert auf ihn hinabstarrte.

„Ich wusste gar nicht, dass ich meine Befehle wiederholen muss, damit sie gehört und ausgeführt werden?“, sprach Shishido, dessen Stimme von einem unheildrohenden Ton begleitet wurde. Arakawa senkte den Blick.

„Verzeiht. Ich werde mich sofort darum kümmern. Wenn Ihr mich entschuldigt, da-“

Arakawa wurde erneut ohne Vorwarnung unterbrochen – nun aber völlig gegensätzlich zur ersten Unterbrechung. Shishido griff sanft nach seinem Oberarm und half ihm auf. Anschließend entließ ihn dieser aber nicht aus dem Griff, sondern zog ihn sogar näher zu sich heran, so dass sich ihre Lippen beinah berührten. Arakawa hielt gespannt die Luft an und spürte einen Moment später den warmen Atem seines Herrn am Ohr, als dieser zu sprechen begann.

„Ich kann nachvollziehen, dass dir dein Bruder wichtig ist, aber vergieß niemals, dass das du mein engster Vertrauter bist und MIR deine absolute Loyalität gehört. Zudem glaube ich, dass du eigentlich zum gleichen Ergebnis gekommen sein müsstest, was den Umgang mit Sasuke in dieser Situation angeht. Du bist nicht umsonst mein intelligentester Berater. Sieh also zu, dass dein Sachverstand wieder die Oberhand gewinnt, und vertrau auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten deines jüngeren Bruders.“

Shishido löste sich von Arakawas Ohr und sah ihm dann anschließend in das Gesicht. Er konnte erkennen, dass es diesem noch immer schwer fiel, den Blick zu erwidern.

„Arakawa, sieh mich an…“, sprach Shishido drängend.

Beim Klang der Stimme seines Herrn sah Arakawa auf. Einen Augenblick später spürte er dessen weiche Lippen auf seinen. Hätte er sich nicht mehr in Shishidos Griff befunden, wäre er überrascht einen Schritt zurückgetreten. So musste er aber in dieser Stellung verharren, was ihm im Grunde auch lieber war. Er genoss die Intimität und wünschte sich, sie würde nicht enden.
 

Shishido blickte Arakawa mit gemischten Gefühlen nach, als dieser nach dem beendeten Kuss zurück zum Wagen ging, um sich dort mit Sasuke in Verbindung zu setzen. Er zweifelte nicht an der Urteilskraft Arakawas, aber er musste ein Auge darauf haben, vor allem dann, wenn es wirklich brenzlig für seinen jungen Spion werden würde.

Shishido glaubte nicht, dass Arakawa ihn in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen würde, um den jüngeren Bruder zu retten, aber er musste auf der Hut sein. Blutsbande konnten durchaus Loyalitätsbande übersteigen. Dieser Gedanke bereitete ihm Sorgen und rief hässliche Gefühle in ihm wach. Shishido fragte sich, ob diese Gefühle aus Eifersucht auf Sasuke entstanden.

Im Moment konnte Shishido nur abwarten und die eigenen Gefühle wieder unter Kontrolle bringen. Er würde sich auf Kagetora konzentrieren und hoffen, dass sein bester Mann keine falsche Entscheidung traf.
 


 

„Ich werde hier auf der Bank warten.“

Naoe, Takaya und Yuzuru hatten den kleinen Friedhof erreicht, und standen nun unentschlossen am Eingang der überschaulichen Anlage. Diese befand sich an einer Böschung und war an drei Seiten von Bäumen umsäumt. Lediglich die Richtung zum Tal war offen und bot einen wunderschönen Anblick auf die Siedlung bergab, in der sich die hier Verstorbenen wohl zu Lebzeiten aufgehalten haben.

Das Friedhofsgelände wies nur einen breiten Hauptweg in der Mitte auf, von dem aus eine handvoll kleinere nach oben und nach unten abzweigten. Die Grabsteine standen dicht gedrängt entlang der Wege, und waren vereinzelt mit Blumen und entzündeten Räucherstäbchen geschmückt, was darauf hindeutete, dass den verstorbenen Familienangehörigen erst kürzlich mit einem Besuch bedacht wurde.

„Ich warte hier.“, sprach Yuzuru ein weiteres Mal bestimmend, dem die besorgten Blicke der beiden anderen nicht entgangen waren.

Es war für ihn in Ordnung gewesen, Naoe und seinen besten Freund hier herauf begleiten zu müssen, aber er hatte nicht vor, bis zum Schluss Teil dieses aufreibenden Vorhabens zu sein. Er wollte auf keinen Fall mit zum Grab von Minako gehen. Wenn Takaya das zu diesem schwierigen Zeitpunkt unbedingt durchziehen musste, dann sollte dieser die letzten Meter mit Naoe allein gehen.

Vielleicht würde diese Maßnahme tatsächlich dazu führen, dass sich die Beziehung zwischen Naoe und Takaya entspannt, und sie die bevorstehende Weiterreise nach Wajima dadurch unbeschwerter fortführen konnten. Aber letztendlich hatte Yuzuru keine Ahnung, wie es in Naoe oder Takaya aussah. Es konnte also auch sein, dass der Besuch ihre ohnehin verfahrene Situation verschlimmerte. Yuzuru blieb also im Moment nichts Weiteres übrig, als abzuwarten, den beiden Zeit allein zu geben und, falls nötig, Takaya aufzufangen, wenn im Anschluss dieses Besuches in seinem besten Freund ein emotionales Chaos loszubrechen drohte.

„Ich weiß zwar nicht, zu welcher Stelle ihr müsst, aber der Platz hier ist so klein, dass wir einander nicht aus den Augen lassen können, Takaya. Zudem sind wir allein, denn sonst hättest du bestimmt schon etwas bemerkt, oder? Und wenn uns jemand gefolgt wäre, hätte uns Kousaka Bescheid gegeben. Ich werde mich also einfach hier hinsetzen und die Aussicht genießen.“

Yuzuru sah den beiden nacheinander in die Gesichter und konnte noch immer Bedenken erkennen.

„Na los, geht schon!“, rief er und setzte sich demonstrativ auf die Bank. Nach einigen Sekunden des Zögerns seufzte sein bester Freund geschlagen und ermahnte ihn, sich bloß nicht von der Stelle zu bewegen. Denn auch wenn Yuzuru mit seiner Einschätzung richtig lag, dass sie hier tatsächlich allein waren, blieb dennoch ein Restrisiko vorhanden, das sie zur Vorsicht zwang.

Yuzuru sah Takaya und Naoe mit gemischten Gefühlen hinterher, die mit langsamen Schritten den breiten Hauptweg bis nahe an das gegenüberliegende Ende des Friedhofs gingen, um dann dort auf den letzten abzweigenden Pfad nach unten abbogen. Naoe ging voraus, weil dieser schon einmal hier zu Besuch gewesen war, und daher den Weg und das Grab kannte. Nach einigen Schritten blieb dieser stehen. Yuzuru konnte die Anspannung an Naoes verkrampfter Körperhaltung ablesen. Takaya trat neben den älteren Mann und senkte einen Moment später den Kopf.

Diese, aufgrund des erschreckenden Hintergrundes, beinah unwirkliche Vereinigung am Grab war schlichtweg zu grausam, um sie sich anzusehen. Daher zwang sich Yuzuru wegzusehen, und konzentrierte sich daher auf die Umgebung in seiner Nähe. Er las im Geiste die Inschriften der Grabsteine und hoffte, dass es seinem besten Freund dort drüben mit dessen selbst gewählten Besuch nicht allzu schlecht erging.
 

„Wir sind da.“, sprach Naoe mit leiser Stimme. Er warf einen kurzen Blick auf Takaya neben sich, der den Kopf gesenkt hielt, und schwieg anschließend. Naoe würde sich nicht hinreißen lassen, mit seinem Herrn über das Geschehene zu streiten. Er bereute seine damalige Entscheidung nicht. Dennoch nagten hin und wieder Zweifel an ihm, die sich seit dem Auffinden und des Kennenlernens Takayas, der im Grunde eine verborgene und überraschend freundliche Seite Kagetoras war, vermehrt hatten, und ihn somit häufiger quälten, als er es sich wünschte.

Naoe vermochte nicht zu sagen, wie es Takaya gerade erging. Er wusste, dass Takaya mit der an sich selbst neu entdeckten aggressiven und kompromisslosen Seite, die ein bezeichnendes Merkmal Kagetoras war, noch immer nicht umgehen konnte, geschweige denn sie zu kontrollieren, wenn sie in den Vordergrund trat. Naoe spürte, dass Takaya sich mit diesem

Unvermögen unwohl fühlte, sich sogar für diese überwältigenden Gefühle schämte.

Es war schwer für Takaya, keine Frage, aber es war nicht weniger schwer für ihn selbst. Und jetzt an diesem Grab zu stehen, setzte dem allen die Krone auf, auch wenn Naoe durchaus Verständnis für Takayas Wunsch hatte. Trotzdem befürchtete er, dass der gewählte Zeitpunkt nicht der passendste war und er nicht sagen konnte, wie Takaya in den nächsten Minuten reagieren wird.

„Kagetora-sama?“, fragte Naoe unsicher. Er konnte noch immer keine Reaktion Takayas erkennen, der nach wie vor schweigsam mit gesenktem Kopf da stand. Ihm wäre es lieber, wenn der junge Mann sprach, sich bewegte, irgendeine Gefühlsregung zeigte und ihn somit nicht völlig allein mit den eigenen Gedanken ließ. Er hatte keine andere Wahl, als ungeduldig auf das zu warten, was auch immer da kommen mochte.
 

„Naoe.“

Der Angesprochene zuckte beim Klang der Stimme zusammen. Naoe sah, dass Takaya den Kopf hob und ihn mit unergründlichen Augen anblickte. Er schluckte nervös. Was Naoe dort entdeckte, verhieß nichts Gutes. Takayas Augen begannen machtintensiv zu glühen und verengten sich. Alles deutete nun auf eine unschöne Auseinandersetzung hin, auf die er lieber verzichtete hätte.

„Gibt es nichts, was du zu sagen hast, Naoe Nobutsuna?“

„Gibt es etwas, was Ihr hören wollt, Kagetora-sama?“, antwortete Naoe beinah gleichgültig, der sich für diese leichtsinnige Antwort innerlich eine Ohrfeige verpasste. Er sollte besser versuchen, die Situation zu entspannen, als sie weiter zu verschärfen.

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Kagetora-sama.“, ergänzte Naoe aufrichtig und hoffte, dass sein Herr ihm glaubte.

„Wie, du weißt nicht, was du sagen sollst? So sprachlos kenne ich dich überhaupt nicht.“, erwiderte Takaya arrogant.

„Wie wäre es mit einem stummen Gebet? Der Bitte um Vergebung? Einem Kniefall vor Minako und mir?“

Takayas harte Worte verfehlten ihre grausame Wirkung nicht. Naoe spürte für einen Moment Reue in sich aufsteigen, die aber im nächsten Moment von unbändiger Wut und Begierde verdrängt wurde.

„Könnte ich nicht das gleiche von dir verlangen?“, entgegente Naoe ungestüm, der zu betroffen war, sich um die formale Anrede in diesem Moment zu kümmern. Er erwiderte Takayas intensiven Blick, der bei seinen Worten merklich bedrohlicher geworden war. Aber das war ihm nun egal. Sein Vorhaben, sich nicht auf diese schwierige Auseinandersetzung einzulassen, war ohnehin dahin. Er war aufgebracht, verletzt und voller Gewissensbisse.

Naoe vermutete, dass diese Konfrontation für ihn weniger schlimm wäre, wenn aus Takaya lediglich der alte Kagetora sprechen würde.

Die Person nämlich, die er über die Jahrhunderte begleitet hatte.

Die Person, die wenige nette Worte in all der Zeit für ihn übrig hatte.

Die Person, bei der er nur wenige Momente des Friedens erleben durfte. Aber so, unter diesen neuen Umständen, die seinen alten Herren völlig zu verändern drohten, fiel es ihm besonders schwer, den alten Stolz und die Gleichgültigkeit in Bezug auf Minako aufrecht zu erhalten. Vor Kagetora blieb er hart und gleichgültig, aber vor Takaya schämte er sich für seine Tat, obwohl im Grunde aber ein und dieselbe Person vor ihm stand. Es war erstaunlich, welch widersprüchliche Gefühle das in ihm auslöste. Er stöhnte innerlich auf.

„Du wagst es, so mit mir zu reden?“, zischte Takaya gefährlich, was Naoe zwar einen Schritt zurücktreten ließ, seinen Mut aber nicht bezwang.

„Bin ich etwa auf meine alten Tage hin nachlässig geworden? Vielleicht helfen ein paar Disziplinarmaßnahmen, um-“

„Wirklich? Und was ist mit deinem Versprechen, dass du mir erlauben würdest dich zu halten, wenn ich mich bessere? Habe ich das nicht getan? Tue ich nicht seit jeher alles für dich? Habe ich denn nicht langsam deine Gnade verdient? Was muss ich denn noch tun, damit du mir gehörst?“, rief Naoe aufgebracht ohne zu überlegen dazwischen und sah, dass sich Takayas Augen für einen Augenblick überrascht weiteten, sich aber im nächsten Moment noch bedrohlicher verengten. Er kannte und verehrte diesen Blick. Seine Sehnsucht, diesen Mann vor sich endlich bedingungslos halten zu können, schoss explosionsartig in die Höhe und schnürte ihm beinah die Kehle zu. Er streckte seine Hand nach Takaya aus.

„Ich liebe dich.“
 

Takaya spürte, wie die Macht weiter unkontrolliert in ihm anwuchs, sich an dem Gesagten nährte und darauf drang, sich nach außen Platz zu verschaffen. Wütend schleuderte er ungewollt eine erlösende Salve auf Naoe, die diesen mehrere Meter nach hinten stieß, und ihn anschließend zu Boden sinken ließ. Er konnte Naoes schmerzhaftes Aufstöhnen zeitgleich mit Yuzurus entsetztem Aufschrei hören. Takaya sah von Naoe rüber zu Yuzuru, der von der Bank aufgesprungen und einige Schritte in ihre Richtung gelaufen kam. Er konnte schieres Entsetzen in dessen Gesicht erkennen, was seine hemmungslose Wut auf Naoe erneut anfachte. Takaya ignorierte Yuzuru und ging langsam auf Naoe zu, der noch immer auf dem Boden saß und nicht in der Lage war, aufzustehen. Er blieb unmittelbar vor diesem stehen und blickte schweigsam hinab. Der am Boden sitzende Mann versuchte zurückzuweichen, aber dessen Körper schien nicht zu reagieren.

Naoes Reaktion erfüllte Takaya mit Wohlwollen, aber zugleich mit Abscheu über sich selbst. Es war erschreckend, wie diese widersprüchlichen Gefühle in ihm um die Vormachtstellung kämpften, sein achtsames Verhalten, was er für gewöhnlich an den Tag legte, regelrecht ausschalteten.

Takaya spürte, dass er noch immer Schwierigkeiten hatte, die sich überlappenden Gefühle von ihm und Kagetora zu vereinigen, um dadurch eine positive Wirkung zu erzielen, so dass diese nicht immer wieder zu einer Gefahr für ihn selbst, aber vor allem für Naoe wurden. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass dieser Besuch ein Risiko darstellte, aber er hatte dennoch auf diese gemeinsame Reise hierher bestanden. Er konnte nicht sagen, ob er sich oder Naoe damit einen Gefallen getan hatte, aber insgeheim fühlte er, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Er würde heute hier stellvertretend von einer Frau Abschied nehmen, die er nicht gekannt hatte, dafür aber der andere Teil seiner Seele.

Kagetoras Schmerz war auch sein Schmerz.

Sie waren eine Person.

Sie beide liebten Naoe, aber konnten dieses Gefühl nicht zulassen – noch nicht, wie er ehrlicherweise zugeben musste, denn tief in ihm drin spürte er die unaufhörlich wachsende Veränderung dieser Haltung.

Sie beide konnten so nicht weitermachen. Es war an ihm, ihre Beziehung zueinander zu verändern. Diesen bisher vehement bekämpften Teil endlich zuzulassen, um gemeinsam einen neuen Weg beschreiten zu können. Aber Takaya fühlte, dass sie Zeit brauchten – er Zeit brauchte, eins mit Kagetora zu werden, um so die Wut, aber auch die Liebe ihrer beider Willen aufzuarbeiten.

Er schloss die Augen und atmete tief ein. Für einen Moment verharrte er, rief sich innerlich zur Ruhe, bevor er sich Naoe wieder zuwandte.

„Alles in Ordnung, Naoe?“, sprach Takaya sanft, während er einen weiteren Schritt auf den älteren Mann zuging, um diesen mit seiner Hand Hilfe beim Aufstehen anzubieten. Ihm entging dabei nicht das Wechselspiel der Gefühle, welches sich ausdrucksvoll auf dem Gesicht seines alten Freundes abzeichnete – dem schmerzvollen Ausdruck folgte Unglauben und fand seinen Abschluss im Ausdruck der vollkommenen Liebe. Takaya hielt einen Moment den Atem an.
 

„Geht schon, Takaya.“, presste Naoe schmerzhaft hervor, der sich noch immer die Stelle der Brust rieb, wo ihn die entfesselte Macht Kagetoras getroffen hatte. Er langte mit seiner Hand nach oben, und ließ sich aufhelfen.

Zurück auf beiden Beinen, stand er einem gefassten Takaya gegenüber, der keine Anstalten machte, seine Hand loszulassen. Überrascht blickte Naoe auf seine Hand, denn er fühlte einen kühlen Gegenstand innerhalb der Berührung ihrer Hände, der zurückblieb, als Takaya seine Hand aus ihrer Vereinigung löste.

„Warum-“, begann Naoe zu fragen, aber Takaya kam ihm mit der Antwort zuvor.

„Takahashi wollte, dass ich sie behalte, um sie dir irgendwann wiederzugeben. Das tue ich hiermit. Ich schreibe dir nicht vor, was du mit ihr machen sollst, aber vielleicht ist es das Beste, sie hier beim Grab zu lassen.“

„Und was ist, wenn Takahashi sie hier findet?“, entgegnete Naoe unsicher.

„In Anbetracht der Tatsachen, ist es nur gerechtfertigt, wenn sie sie findet und ihre Schlüsse daraus ziehen kann. Ich glaube nicht, dass sie dabei der Wahrheit nur annährend nahe kommen wird. Dennoch ermöglicht es ihr zumindest eine Antwort auf ihre vielen unbeantworteten Fragen. Vielleicht wird sie die Wahrheit auch irgendwann von mir erfahren.“

Während Takaya sprach, betrachtete Naoe die Kette in seiner Hand. Der Vorschlag seines Herrn war in jeder Hinsicht die beste Lösung. Denn zum einen wollte er dieses Erinnerungsstück nicht haben, und zum anderen könnte er es auch nicht ertragen, wenn Takaya es weiterhin für ihn aufbewahren müsste.

Er sah von der Kette auf und traf auf Takayas schimmernde Augen, die ebenfalls seine suchten. Naoe konnte für einen erregenden Moment in ihnen verweilen, ehe diese sich abwandten, um zu Yuzuru rüber zu sehen. Er tat es Takaya nach und erblickte den blassen jungen Mann, der noch immer angespannt an der Stelle stand, wo er zuvor hingelaufen war. Naoe konnte Takaya dabei beobachten, wie dieser eine beschwichtigende Geste in Richtung des besten Freundes machte.

„Ich werde mit Yuzuru vorausgehen. Lass dir hier Zeit, wenn du sie brauchst, oder auch nicht. Sobald wir wieder bei Kousaka sind, werden wir unverzüglich nach Wajima aufbrechen. Direkt durchfahren sollten wir nicht mehr, denn dafür ist es zu spät und zu viel passiert. Wir werden unterwegs übernachten, und dabei Haruie und Chiaki nach dem neuesten Stand der Dinge fragen, sofern es einen gibt.“, erklärte Takaya nüchtern, der sich danach abwandte und ihn allein zurückließ.

Naoe nickte stumm und verfolgte Takaya mit den Augen, der auf dem Weg zu Yuzuru noch einmal am Grab von Minako stoppte, und die Hände zum Beten erhob. Anschließend ging dieser ohne zurückzublicken nach vorn.

„Ich liebe dich…“, flüsterte Naoe mit bebender Stimme ein weiteres Mal, dem noch immer Takayas außergewöhnliches Verhalten in den Knochen steckte.
 


 

Die drei Männer standen angespannt auf dem Parkplatz vor dem älteren Gebäude, das mit einer schäbigen Leuchtreklame um Gäste für die freien Betten warb. Takaya murmelte ungeduldig vor sich hin, während sich Yuzuru und Kousaka neugierig im Abendlicht die Umgebung ansahen.

Zur Pension gehörte ein weiträumiger Parkplatz, der bis auf ihr und ein weiteres Auto vollkommen leer war. Neben der Gaststätte, abseits der Hauptstraße, auf der sie vor wenigen Minuten noch selbst gefahren waren, führte ein Weg die Böschung hinauf, wo sie, im Kontrast zum alten Gebäude, einen relativ neu aussehenden überdachten Freisitz entdecken konnten. Hinter diesem befand sich eine überraschend gut gepflegte Apfelbaumplantage, dessen Ernteertrag wohl für die kaum vorhandenen Gäste der Pension entschädigte. Der Plantage folgte Wald, der sich in der Dämmerung als schwarze Fläche ausdehnte und in weiter Ferne, im Anstieg am dortigen Gebirge, lichtete und schließlich gänzlich verschwand.
 

„Das ist jetzt schon der dritte Versuch. Wenn es wieder nicht klappt, werden wir im Auto übernachten. Ich bin es leid, weiterzusuchen. Also, stellt euch eventuell auf eine unbequeme Nacht ein.“

Takaya wandte seinen Blick vom Eingang ab und sah zu Yuzuru und Kousaka, die ihm zwar nicht widersprachen, deren Gesichter aber Bände sprachen. Er musste grinsen.

„Keine Sorge, Yuzuru! Wir werden uns den hinteren Raum mit umgeklappter Rückenlehne teilen, während sich die beiden älteren Herren vorne begnügen können.“

„Ach ja? Ich wusste gar nicht, dass ich dir mein Auto vermacht habe, so dass du frei darüber entscheiden kannst, Kagetora?!“, maulte Kousaka, dem es seit einem heftigen Anschnauzer seitens Naoe kurz nach Beginn ihrer Weiterfahrt nicht besonders gut ging.

„Ich würde sagen, angesichts meiner heut extremst geschundenen Seele werden ich und Yuzuru die Nacht im Auto verbringen, DU und Naoe außerhalb. Ihr könnt von mir aus zum Schlafen auf Bäume klettern. Dort dürftet ihr euch wohl auch ganz wie zu Hause fühlen.“

Während Kousaka sprach, winkte er mit dem Autoschlüssel in Takayas Richtung, und betätigte anschließend den Knopf der Zentralverriegelung. Ein boshaftes Grinsen machte sich auf seinen Lippen breit.

„Damit ist es wohl entschieden!?!“, sprach er arrogant und steckte den Autoschlüssel weg.

„Noch kindischer geht’s wohl nicht, Kousaka?“, entgegnete Yuzuru lachend, der sich von dessen schlechter Laune nicht anstecken lassen wollte. Im Gegenteil, dieser hatte sogar sein Mitgefühl, denn Naoe war wirklich hart mit ihm ins Gericht gegangen, als sie vom Besuch des Friedhofs zurückgekehrt und unmittelbar losgefahren waren.

Yuzuru konnte Naoe aber auch verstehen, denn Kousaka hatte ab der ersten Sekunde, wie sie alle wieder gemeinsam im Auto saßen, ununterbrochen gestichelt, und ihnen damit den letzten Nerv geraubt – was bei Takaya und Naoe ziemlich schnell gegangen war, denn diese beiden waren, trotz der kurzen Aussprache nach dem unkontrollierten Wutausbruch, noch immer sehr angespannt und leicht reizbar gewesen. Er selbst hatte ja eine ganze Weile gebraucht, die erschreckende Szene auf der Begräbnisstätte zu akzeptieren, und die Angst um beide wieder abzulegen.

Es war also kein Wunder gewesen, dass es Naoe irgendwann zu bunt geworden war, und dieser sich nicht mehr anders zu helfen wusste, als Kousaka verbal anzugreifen. Natürlich hatte er Naoes Wortwahl und Ton als eine Spur zu bissig empfunden, aber nun war es nicht mehr zu ändern. Yuzuru hoffte, dass sich Kousakas nachtragendes Verhalten bald in Luft auflöst, und sie alle wieder ein wenig gelassener miteinander umgehen konnten.

„Wir sollten erst einmal abwarten, mit was für einem Ergebnis Naoe zurückkommt. Vielleicht haben wir ja diesmal Glück und bekommen Zimmer. Es kann ja nicht jede Herberge etwas gegen vier Männer haben, die auf der Durchreise sind.“

Yuzuru sah schlichtend zwischen Kousaka und Takaya hin und her, die ihrerseits nichts mehr hinzufügen wollten. Er schloss sich ihrem Schweigen an und blickte zum Eingang der Pension, aus dem wenige Sekunden später ein erleichterter Naoe trat. Mit geschmeidigen Schritten kam dieser auf sie zu.
 

„Es hat zwar etwas gedauert, aber wir haben zwei Doppelzimmer bekommen. Außerdem können wir vor dem Essen das Bad benutzen. Falls Fragen kommen, dann solltet ihr drei erwähnen, dass ihr meine Adjutanten für einen meiner priesterlichen Aufträge seid. Ich glaube, dass das der ausschlaggebende Punkt gewesen war, dass sie uns überhaupt Zimmer gegeben haben. Wie dem auch sei, ich würde vorschlagen, dass sich Kousaka und ich ein Zimmer teilen, sowie Takaya und Yuzuru.“

Yuzuru freute sich über Naoes Neuigkeit, und war damit nicht alleine. Kousaka, der eben noch auf Konfrontation aus war und sich und ihn für die Nacht im Auto einquartieren wollte, starrte nun mit einem geheimnisvollen Lächeln zu dem älteren Mann.

Kousakas Verhalten gegenüber Naoe war mehr wie rätselhaft, wie Yuzuru fand. Dieser schien sich einzig und allein an Naoe zu orientieren, und ignorierte im Gegenzug dafür den eigentlichen Kopf dieser Gruppe. Takaya war davon natürlich ersichtlich genervt, wie auch jetzt an dessen Gesicht abzulesen war. Yuzuru konnte sehen, wie sein bester Freund Kousaka nicht aus den Augen ließ, diesen regelrecht mit dem Blick durchbohrte.

„Na, das ist ja mal was. Ich würde sagen, Glück gehabt, ihr beide!“, meinte Yuzuru froh, der sich damit Naoes fragenden Blick einfing.

„Wie muss ich das verstehen?“

„Nun, Takaya hatte eigentlich die Platzaufteilung für die Nacht im Auto schon geklärt, bei der du nicht besonders gut weggekommen bist. Aber dann hat Kousaka alles über Bord geschmissen, und dich und Takaya des Autos verwiesen. Wie du siehst, hätte dir dann eine noch unbequemere Nacht gedroht. Daher Glück gehabt. Aber ich frage mich natürlich, warum Kousaka mich nicht ausquartiert hat…“

Yuzuru sah neugierig zu Kousaka, aber erwartete keine Antwort. Er war darum umso verblüffter, als der junge Mann mit den schulterlangen Haaren ihm ein breites Grinsen schenkte.

„Ganz einfach, Yuzuru. Ich mag dich eben!“, offenbarte Kousaka lächelnd, der sich daraufhin umdrehte, und allein zum Eingang ihres Nachtquartiers ging.

„Äh… Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Nicht, dass ich etwas dagegen hätte… Also, ich meine…Kousaka?!? Und dann solche Worte!?! Ich bin schockiert.“, witzelte Yuzuru, der sich noch nicht entschieden hatte, wie ernst er Kousakas Antwort nehmen sollte.

„Ich würde gar nicht weiter drüber nachdenken. Ist wahrscheinlich wieder nur einer seiner seltsamen Scherze!“

Yuzuru sah zu seinem besten Freund, der Kousaka aufmerksam mit den Augen verfolgte und beiläufig das Gesagte kommentierte.

„Hm. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Wer weiß schon, was in dessen Kopf passiert. Ich glaube, Kousaka ist immer für eine Überraschung gut. Wir sollten uns daher ebenfalls auf den Weg machen und schauen, ob dieser Mann heute noch mehr Unerwartetes tun wird.“, entgegnete Naoe ernsthaft und starrte dabei zu Takaya, der dessen Blick nicht bemerkte, da dieser noch immer gedankenverloren zum Eingang des Gebäudes sah.

Yuzuru ließ seine Augen von Takaya zu Naoe und dann zur sich schließenden Eingangstür wandern. Wieder einmal hatte er das Gefühl, absolut ahnungslos zu sein. In der Luft zwischen den drei Männern schien es unaufhörlich zu knistern und Yuzuru fragte sich, welche gemeinsamen Erlebnisse dazu geführt haben könnten.

„Geht ihr schon mal vor. Ich werde noch kurz mit Chiaki telefonieren.“

Während Takaya nach seinem Telefon kramte, entfernte er sich entschuldigend.

„Gut. Dann wollen wir mal.“ Naoe wandte sich ab und ging zur Tür.

“Ich bin schon sehr gespannt, was mich heute Nacht erwartet…“, fügte er murmelnd hinzu.

„Hast du was gesagt, Naoe?“, fragte Yuzuru, der dem älteren Mann gefolgt war.

„Äh, nein. Nichts.“, erwiderte dieser, ohne ihn dabei anzusehen. Yuzuru hob skeptisch eine Augenbraue, sagte aber nichts weiter. Er warf einen letzten Blick zurück auf Takaya, der in der Nähe des Autos leise sprach.
 


 

Yuzuru schlug die Augen auf und starrte auf eine fremde Zimmerdecke. Es war dunkel und vollkommen still um ihn herum. Beunruhigt setzte er sich auf, und versuchte sich zu erinnern, wo er war.

„Pension…“, wisperte er einen Moment später erleichtert und sah zum zweiten Bett rüber, auf dem Takaya liegen müsste. Er strengte sich an, damit er trotz Dunkelheit den Umriss seines besten Freundes unter dessen Bettdecke erkennen konnte, wurde aber nicht fündig.

„Takaya?“, rief er leise.

„Hey, Takaya?! Bist du da?“

Yuzuru hatte beim zweiten Mal lauter gesprochen, aber bekam auch diesmal keine Antwort. Er knipste das Licht der Nachttischlampe an und wartete, bis sich seine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten. Er sah erneut rüber zur Stelle, wo sich Takaya eigentlich befinden müsste, und runzelte die Stirn.

„Vielleicht ist er zur Toilette…“, murmelte Yuzuru überlegend, während er auf seine Armbanduhr blickte.

„Kurz nach zwei. Das heißt, ich habe gerade mal drei Stunden geschlafen.“

Yuzuru schlug die Decke zurück und streckte sich. Er stand gähnend auf und ging zur Tür, um zur Toilette zu gehen.

„Ich weiß nicht wieso, aber ich habe so ein komisches Gefühl. Wollen wir doch mal sehen, ob ich recht habe…“ Während er zurück auf Takayas Bett zulief, suchte er die Umgebung nach der Kleidung seines besten Freundes ab. Nichts. Er griff unter die Bettdecke und spürte keinerlei zurückgelassene Körperwärme.

„Dachte ich es mir doch. Wo bist du hin?!“

Yuzuru beschloss, zuerst die Toilette aufzusuchen und dann nach Takaya zu suchen. Er konnte sich gut vorstellen, dass dieser ihm eine Strafpredigt halten wird, weil er allein mitten in der Nacht durch die Gegend lief. Aber er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Takaya an seiner Entscheidung nicht ganz unschuldig war. Seufzend zog er sich seine Sachen an, und verließ das Zimmer.
 


 

Takaya lag auf dem Rücken und starrte hoch zum Nachthimmel. Obwohl er seit mehr als einer Stunde hier im Grass lag und die Bewegung der Erde anhand der Sterne verfolgen konnte, war ihm nicht kalt. Im Gegenteil. Er glühte innerlich. Sein Kopf schien wegen der vielen Gedanken heißzulaufen, und er hatte keine Ahnung, wie er all die Dinge, die unaufhörlich auf ihn einströmten, stoppen konnte.

Naoe. Minako. Yuzuru. Shishido. Kousaka. Und wieder Naoe. Er seufzte und schloss geschlagen die Augen.

Er begann sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Takaya spürte die unebene Wiese. Rief sich die Apfelbäume ins Gedächtnis, an denen er vorbeigegangen war, als er hier herauf gekommen war. Spürte den leichten Wind, und nahm den Duft und die nächtlichen Geräusche des nahen Waldes und dessen Bewohner wahr. Takaya atmete tief ein, und versuchte diese friedliche Atmosphäre mit Hilfe seiner Atemluft zu verinnerlichen.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er unerwartet die Präsenz einer weiteren Person fühlte. Seine mühsam errungene innere Ruhe war schlagartig fort. Takaya presste für einen Moment schmerzhaft die Lippen aufeinander, bevor er nach der Person rief.
 

„Was machst du hier draußen, Naoe?“

„Es fiel mir schwer mit Kousaka im Zimmer einzuschlafen. Da dachte ich mir, dass ich stattdessen genauso gut die Umgebung im Auge behalten könnte. Aber ich hatte nicht erwartet, dich hier draußen vorzufinden. Was ist mit Yuzuru?“

„Er hat fest geschlafen, als ich das Zimmer verließ.“, antwortete Takaya, der sich aufsetzte und zu dem Mann hochblickte, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Trotz Dunkelheit konnte er Naoes Gesicht erkennen und sah, dass dieser erwartungsvoll auf ihn hinunter schaute. Takaya spürte, dass unter Naoes Blick seine innere Hitze zurückkehrte, und er darauf gar nicht vorbereitet war.

„Wü- würdest du mich bitte nicht so anstarren?“, stotterte Takaya verunsichert. Naoes Anwesenheit begann sein Innerstes Stück für Stück zu vereinnahmen, und das fand er überhaupt nicht gut.

„Ist es dann in Ordnung, wenn ich mich neben dich setze und dir Gesellschaft leiste? Ich würde gerne noch etwas draußen bleiben.“

Takayas Gedanken begannen zu rasen. Natürlich wollte und musste er mit Naoe einiges klären, aber er war sich nicht sicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dafür wäre.

„Wenn nicht jetzt, wann dann…“, flüsterte er letztendlich, und gab Naoe mit Handzeichen zu verstehen, dass dieser sich setzen durfte.

„Hoffen wir mal, dass wenigstens die anderen beiden schlafen können.“, meinte Takaya dann lauter, der sich nach hinten auf seine Arme stützte, um Naoe aus dieser Position heraus besser beobachten zu können. Dieser tastete gerade die Jackentaschen nach den Zigaretten ab.

„Stört es dich, wenn ich rauche?“, fragte ihn Naoe, nachdem dieser sie gefunden hatte.

„Nein. Mach nur. Aber mir ist aufgefallen, dass du neuerdings viel mehr als früher rauchst. Gibt es einen Grund?“

Takaya sah, dass Naoe kurz in seiner Bewegung innehielt, und unschlüssig zu ihm rüber blickte.

„Um ehrlich zu sein, mehrere.“ Naoe nahm einen tiefen Zug an seiner Zigarette.

„Willst du darüber reden?“

„Ich weiß nicht, ob du das hören willst, es überhaupt hören solltest.“

Damit könnte dieser durchaus recht haben, schoss es Takaya durch den Kopf, denn er fühlte sich in diesem Moment überhaupt nicht in Lage, ein normales Gespräch führen zu können – und von einem alltäglichen Gespräch war eben sicherlich nicht die Rede.

Er musterte Naoe intensiver und fragte sich, was diese starke und selbstbewusste Seele dazu brachte, sich ihm ohne wenn und aber unterzuordnen, ihm in jeder Situation zu folgen, auch wenn es die eigene Niederlage bedeutete. Es war ihm ein Rätsel, aber auch wieder nicht. Denn er brauchte nur an sich und das eigene Verhalten denken, als er Naoe endlich nach Wochen der Gefangenschaft verletzt in einer Hütte aufgespürt hatte. Dieser Moment hatte sich in seine zerrissene Seele gebrannt, und gleichzeitig die letzte Mauer des reinen Selbstschutzes einstürzen lassen. Takaya hatte sich damals von dem überwältigenden Gefühl der Liebe leiten lassen. Er hatte zwar harte Worte benutzt, aber nur, um nicht völlig die Kontrolle über sich und die Situation zu verlieren. Im Nachhinein hatte er sich mehr als einmal gefragt, was wohl passiert wäre, wenn Kousaka nicht aufgetaucht wäre.

Kousaka. Dieser Mann war gefährlich, wie Takaya immer wieder feststellen musste. Aber das dieser wenige Jahre ältere Mann Naoe zu lieben schien, sprengte jegliche Vorstellungskraft die er besaß. Auch wenn Kousaka es bisher nicht klar gesagt hatte, so spürte Takaya doch, dass es der Wahrheit sprach. Er fragte sich, ob Naoe es auch spürte.

„Takaya?“

Naoe sah ihn besorgt an.

„Alles okay?“

Takaya zähmte seine rasenden Gedanken, und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt.

„Ich war in Gedanken. Entschuldige.“

„Verstehe.“

Schweigend betrachtete Naoe die glühende Zigarette, während Takaya Naoe anblickte und bei dessen nächsten Worten erstarrte.

„Ich habe mit Shishido geschlafen.“



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