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Zerspringende Ketten

von

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Brandung

Haruie parkte ihr Motorrad, zog die Handschuhe aus und nahm anschließend den Helm ab. Sie befreite ihr langes Haar aus der eng anliegenden schwarzen Motorradjacke, welches augenblicklich vom sanften Wind erfasst wurde. Es wehte seitlich ins Gesicht, und kitzelte ihr dabei ein glückliches Lächeln auf die roten Lippen. Sie wandte ihr Gesicht dem Wind zu, und schloss für einen Moment gedankenverloren die Augen.

Sie hatte die Fahrt hierher zum Stützpunkt schon lange nicht mehr so sehr genossen wie heute. Das sonnige Wetter, die kurvenreiche Straße, sowie die Aussicht auf eine interessante Unterhaltung mit Chiaki waren aber nicht Grund allein für ihre ausgezeichnete Laune. Es tat darüber hinaus einfach gut zu wissen, dass es den wenigen Mitgliedern ihrer Gruppe zum jetzigen Zeitpunkt hervorragend ging. Dessen ungeachtet hatte sie natürlich die nervenaufreibenden letzten Wochen nicht vergessen.

Die Sorge und Suche nach Naoe hatte ihnen allen zugesetzt – auch jetzt noch, selbst wenn es dem Ältesten ihrer Gruppe dem Anschein nach bestens ging. Haruie wollte sich nicht der Illusion hingeben, dass die brutale Gefangenschaft völlig spurlos an ihrem Freund vorbeigegangen war. Genau wie Chiaki, befürchtete auch sie, dass die Erlebnisse Naoe zu einem späteren Zeitpunkt einholen würden und sie wünschte sich inständig, dass er dann nicht allein war. Ihre Hoffnung lag hier bei Kagetora, der, wie sie mit Freude feststellen konnte, ein wenig seiner Schärfe Naoe gegenüber verloren hatte.

Haruie öffnete ihre Augen und nahm mit einem tiefen Atemzug ein Stück des Windes in sich auf, das sie im nächsten Moment mit einem zufriedenen Seufzen wieder frei gab. Sie stieg elegant von ihrem Motorrad und warf einen aufmerksamen Blick zur Straße, konnte aber nichts Beunruhigendes feststellen. Den Schlüssel in der Jackentasche verstauend, schritt sie eilig zur Eingangstür und betrat rufend das Haus.
 

„Mehr hat er nicht erzählt?“

„Du kennst ihn doch! Glaubst du im Ernst, er erzählt UNS, wie es war? Selbst Naoe hat sich kein Stück dazu geäußert. Tja, wir hätten da noch Yuzuru. Er könnte uns zumindest erzählen, wie der Umgang der beiden miteinander ist – so von außen betrachtet halt...“

„Das mag stimmen, aber ich denke, das sollte jetzt nicht unsere Sorge sein, Chiaki.“, entgegnete Haruie entschieden. „Shishidos Vater bereitet mir wirklich Kopfzerbrechen. Beinah noch mehr, als der Sohn. Eines haben die zwei gemeinsam: Sie greifen beide auf ein flächendeckendes Netz an Informationsquellen zurück, das interessanter nicht sein könnte. Ich wette mir dir, dass da der ein oder andere Doppelagent darunter ist.“

„Der Meinung bin ich auch.“, stimmte Chiaki Haruie zu. „Und das macht ihre Aktionen für uns umso undurchsichtiger. Vater und Sohn haben sich sicherlich auf diese Spion-berücksichtigende-Vorgehensweise des jeweils anderen eingestellt und handeln daher nicht so, wie wir es aufgrund der ermittelten Informationen annehmen würden.“, erklärte er weiter und blickte ernst zu Haruie, die auf der Couch gegenüber saß. Zwischen ihnen befand sich ein niedriger Beistelltisch, auf dem Tee, Gebäck und eine Schale Obst angerichtet dastanden, jedoch noch unberührt. Chiaki änderte diesen Zustand, indem er zum ersten Mal nach seiner Teetasse langte. Nach einem kleinen Schluck, sah er erneut zu Haruie, die sich ihrerseits einen Keks genommen hatte. „Wir können daher den weiter getragenen Botschaften innerhalb ihrer Netze nicht einfach trauen, sondern müssen sie hinsichtlich dieser besonderen Voraussetzung analysieren. Nicht einfach, aber uns bleibt nichts anderes übrig.“

„Die Erfolgsquote dürfte dabei nicht sehr hoch sein, befürchte ich.“, entgegnete Haruie unzufrieden. „Wenn ich bedenke, wie schwer wir es hatten, irgendetwas über Naoe herauszufinden.“

„Wer weiß… Wir sollten Kagetora nicht unterschätzen! Schließlich war er es, der Naoe gefunden hat. Ich frage mich nur, was sie machen werden, wenn sie Shishido gestellt haben. Sie können ihn schließlich nicht einfach so exorzieren – mal abgesehen davon, dass dieser es wohl kaum so leicht zulassen würde.“, gab Chiaki mit einem schiefen Grinsen zu bedenken.

„Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Auf jeden Fall wird das Aufeinandertreffen eine heikle Angelegenheit. Und nicht nur für Kagetora…“, mutmaßte Haruie, die sich ihre gute Laune von all diesen Gedanken nicht nehmen lassen wollte. Rasch griff sie nach einem Apfel und biss herzhaft hinein. „Lassen wir uns überraschen!“, sprach sie mit vollem Mund.

„Da fällt mir ein. Dieser Scharfschütze, der Kagetora und Yuzuru am Fluss ins Visier genommen hatte, und den du später in die Flucht geschlagen hast. Kannst du dich an ihn erinnern? Es hat den Anschein, als gäbe es da eine Verbindung zu Shishido. Wie genau die aussieht, kann ich noch nicht sagen. Sie scheint aber etwas mit dem engsten Mann Shishidos zu tun zu haben. Wie war noch gleich der Name… Genau, Arakawa oder so ähnlich. Vielleicht bringt uns das etwas weiter.“

Haruies Augen verengten sich für einen Moment zu wütenden Schlitzen, bevor sie antwortete. „Ach der… Erinnere mich bloß nicht an den. Der war wirklich eine zähe Nuss. Und in die Flucht konnte ich ihn auch nur schlagen, weil es einfach zu voll dort geworden ist. Weder er noch ich wollten uns zusätzlich mit der Polizei rumschlagen, wobei ich glaube, dass er da bessere Karten gehabt hätte – denken wir nur an ihre weitläufigen Verbindungen.“

„Möglich, aber es war schon eine Überraschung zu erfahren, dass diese Gruppe zu Shishidos Vater gehört. Wenn es stimmt, dass Shishido und sein Alter nicht miteinander können, dann macht mich dieser junge Mann noch neugieriger. Vielleicht ist er ja ein Doppelagent.“, fügte Chiaki grinsend hinzu, dem Haruies skeptischer Blick nicht entging. „Leider gibt es gerade keine neuen Informationen über ihn. Entweder untergetaucht, oder aber… Wer weiß…“, beendete er bedeutungsvoll seine Erklärung.

„Hm, selbst wenn er aufgeflogen ist, sofern er Shishidos Spion wäre, wüsste ich nicht, was es uns bringen würde, mehr über ihn in Erfahrung zu bringen.“

„Kannst du nicht mal ein wenig mehr Interesse und Begeisterung für deine Widersacher entwickeln?“, motzte Chiaki scherzhaft, der sich gemütlich auf der Couch zurück lehnte. „Es kann uns eine ganze Menge bringen, Haruie! Selbst wenn es nur die Möglichkeit ist, unsere Fähigkeiten zu testen – sprich, UNSER Informationsnetz zu verbessern, auszubauen und natürlich für andere unangreifbar zu machen. Wobei das natürlich nie der Fall sein wird. Es wird immer jemanden geben, der dich für die Aussicht auf eine bessere Alternative verraten würde. Kousaka ist da das Paradebeispiel!“

„Na, der ist eigentlich DAS Maß aller Dinge in dieser Hinsicht!“, rief Haruie böse, der die Erwähnung dieses Mannes sauer aufstieß. „Ich kann Kagetora nicht verstehen, warum er diesen Kerl in seine Nähe lässt. Kousaka ist einfach unerträglich.“

„Ja, aber leider ist er nicht nur das. Für uns und Kagetora stellt er eine enorme Quelle an möglichen Informationen dar, auch wenn er sich verschlossen und unergründlich gibt. Kousaka ist nicht fehlerfrei, Haruie. Das heißt, früher oder später wird er sich verraten, was uns zugute kommen wird.“

„Ja ja, wenn er vorher nicht uns in den Rücken fällt. Ahhhh, lass uns bitte nicht weiter über diesen Mann sprechen!“, rief Haruie genervt. „Erzähl mir lieber, was Kagetora auf dem Weg nach Wajima plant!“

„Das hat er auch nicht erzählt.“, meinte Chiaki kleinlaut zu Haruie, die aufgrund des Gehörten mit den Augen rollte.

„Okay. Dann lass uns jetzt einfach über etwas ganz anderes sprechen, sonst platze ich hier noch. Sollen die doch machen, was sie wollen…“, rief Haruie übertrieben aufgebracht, was Chiaki ein amüsiertes Lachen entlockte.

„Na dann, wollen wir ins Kino gehen?!“, fragte dieser belustigt.

Haruie blickte zu dem lachenden Mann und zog irritiert die Augenbrauen hoch. Chiaki war ihr manchmal wirklich noch ein Rätsel. Yasuda Nagahide, so sein richtiger Name, war schon immer der unbeschwerteste unter ihnen gewesen. Sie mochte ihn für seine unkomplizierte offene und ehrliche Art. Außerdem war er unglaublich machtvoll in seinen Fähigkeiten, und nach Kagetora der Zweitstärkste in ihrer Gruppe. Einziges Manko war seine manchmal zu offen demonstrierte vorrangige Loyalität Naoe gegenüber, die dieser zwar begrüßte, Chiaki aber immer wieder vor den Kopf stoßen musste, indem er ihm erläuterte, wem die absolute Loyalität zu gelten hatte. Haruie lächelte bei diesem Gedanken. „Soweit wollte ich es dann doch nicht treiben! Wir sollten schon etwas arbeiten, Chiaki. Vielleicht rufe ich nachher noch Naoe, um zu hören, wie es ihm geht.“

„Da springt er bestimmt im Kreis, wenn du ohne ersichtlichen Grund anrufst!“, scherzte Chiaki gehässig.

„Und wenn schon! Du telefonierst doch ständig mit ihm, da kann eine Abwechslung nicht schaden.“

„Der Unterschied ist aber, dass ich meistens eine Neuigkeit weitergebe und mich nicht einfach nach dem Wohlbefinden erkundigen will – zumindest nicht vordergründig.“

„Sei still, dann soll er eben durchs Telefon springen!“, rief Haruie amüsiert. „Außerdem habe ich eine Neuigkeit für ihn!“

„So? Und die wäre?“

„Verrat ich nicht!“

„Wie jetzt? Raus mit der Sprache!“, setzte Chiaki nach, den nun die Neugier plagte.

„Nein. Da musst du dich noch etwas gedulden!“, antwortete Haruie entschieden, die innerlich lachte, denn eigentlich führte sie Chiaki nur an der Nase herum. Sagen würde sie ihm das jetzt aber noch nicht. „Also los, dann mal an die Arbeit mit uns zweien…“

„So soll es sein.“ Chiaki grinste Haruie an, die ihm ein breites Lächeln schenkte, und erhob sich vom Sofa.
 


 

Yuzuru blickte fasziniert auf das Japanische Meer, an dessen Küste sie seit der Stadt Joetsu seit nunmehr als zwei Stunden in südwestliche Richtung entlang fuhren. Gelegentlich wurde die raue Küstenlandschaft von kleinen Ortschaften abgelöst, die ihre Existenz allein der Fischerei verdankten. Die Einwohnerzahl dieser verschlafenen Orte dürfte häufig weit unter 100 liegen, wie Yuzuru stumm mutmaßte. Er sah zum Horizont und entdeckte dort Boote verschiedenster Größen, die auf der ruhigen See sanft vor sich hinschaukelten und ihm ein wehmütiges Lächeln auf die schmalen Lippen zauberten. Yuzuru sank tiefer in den Sitz hinein und schaute zum Himmel hoch. Die Sonne hatte den Zenit längst überschritten und würde in nicht allzu langer Zeit im Meer versinken. Wenn es soweit war, würden sie Wajima längst erreicht haben.

Er wandte seinen Blick nach innen, und sah sich verstohlen im Auto um. Takaya saß vorn neben Kousaka, der den Wagen fuhr. Er selbst hatte hinten neben Naoe Platz genommen, als sie heute früh aufgebrochen waren. Wie zu erwarten, war die erste Stunde der Autofahrt nicht einfach gewesen. Die bedeutungsvolle Stille war hin und wieder durch verbalen Schlagabtausch einiger Insassen unterbrochen worden, die dieser Auseinandersetzungen nicht müde zu werden schienen.

Yuzuru hatte das Ganze schweigsam verfolgt. Es war erstaunlich, mit was für einer Unbeschwertheit Kousaka seine giftigen Bemerkungen austeilte, die wiederum mit einer unglaublichen Ruhe seitens Takaya und Naoe beantwortet wurden. Wenn er nicht wüsste, wie die drei tatsächlich zueinander standen, hätte ihr Verhalten durchaus auch als freundschaftliches Geplänkel durchgehen können.

Sein Blick blieb an seinem besten Freund hängen, der gerade das Handy wegsteckte und anschließend mit einer konzentrierten Miene tonlos Worte formte, die durch eine Reihe elegante Handbewegungen begleitet wurden. Yuzuru wusste zwar nicht, was Takaya da genau tat, aber er war sich sicher, dass es mit einer Art Beschwörung zu tun hatte. Vielleicht schickte er seine geisterhaften Helfer zum Auskundschaften voraus, oder ähnliches. Jedenfalls kam ihm Takaya in diesen Moment sehr fremd vor.

Yuzuru musste zugeben, dass er diese ungewohnte Seite Takayas noch immer nicht vollständig akzeptiert hatte. Kousakas Worte bezüglich Kagetoras Persönlichkeit hatten ihre Wirkung nicht verfehlt – und nicht nur bezogen auf seinen Freund. Selbst wenn er an Naoe dachte, spürte er noch immer eine gewisse Unruhe. Diese hatte sich aber nach dem befreienden Gespräch am heutigen Morgen mit dem älteren Mann etwas gelegt. Dennoch würde er Zeit brauchen, auch für sich selbst, da er am wenigsten sich und die geheimnisvolle Macht kannte, die in ihm schlummerte.

Yuzuru sah auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass sie inzwischen seit mehr als fünf Stunden im Auto saßen. Und es würden weitere drei dazukommen, ehe sie Wajima erreichten. Er dachte an ihre letzte Rast und überlegte, ob es nicht Zeit für eine weitere wäre, als sich ein unüberhörbares Magenknurren im Innenraum ausbreitete. Verlegen spähte Yuzuru um sich und traf auf Naoes belustigt aufblitzende Augen. Er schenkte dem Mann neben sich ein schiefes Grinsen, und hörte währenddessen Takayas amüsiertes Lachen. Yuzuru blickte nach vorn.

„Ist es wieder Zeit für eine Pause?“, fragte Takaya noch immer lachend.

„Was? Schon wieder? Die letzte ist doch noch gar nicht lange her!“, rief Kousaka unerfreut dazwischen. „So kommen wir niemals an.“

„Da muss ich dich leider enttäuschen, Kousaka. Die letzte Rast ist schon mehr als drei Stunden her. Mal abgesehen vom Hunger, mit dem nicht nur Yuzuru zu kämpfen hat, könnte es nicht schaden, sich mal eben die Beine zu vertreten. Stimmt´s, Yuzuru!?“

„Äh… Also, ich bin dabei.“, entgegnete dieser unsicher, dem Kousakas saure Miene im Rückspiegel nicht entging.

„Wenn wir die Toyama Bucht umrundet haben, können wir irgendwo auf dem Weg anhalten. Bis dahin sollte ich auch Rückmeldung über das haben, was vor uns liegt.“, entschied Takaya, der Kousaka mit einem eisernen Blick bestrafte, ehe er wieder gelassen nach vorn sah.

„Du hast Kagetora-sama gehört, Kousaka. Wenn ich mich richtig erinnere, dann liegt Himi recht günstig. Dort könnten wir anhalten und uns ein kleines Restaurant direkt am Strand suchen. Einen möglichen Angriff vom Meer her halte ich für sehr unwahrscheinlich. So können wir etwas entspannter sein…“ Naoe warf ebenfalls einen unnachgiebigen Blick in Kousakas Richtung, während er sprach. Dieser sah nur einmal kurz nach hinten und schnalzte unzufrieden mit der Zunge.

„Schön, dass ihr euch so einig seid! Und nicht nur mit euren Worten… Wenn ihr das also alle so wollt, dann bleibt mir wohl nichts anders übrig. Aber ich bin noch immer der Meinung, dass wir zügig durchfahren sollten.“, erwiderte Kousaka ärgerlich, der daraufhin verstummte.

„Ich weiß, dass das jetzt blöd klingen mag, aber ich freue mich aufs Meer und den Strand...“, gab Yuzuru aufrichtig zu.

„In der Tat, das ist echt kindisch.“, murmelte Kousaka unfreundlich.

„Ist überhaupt nicht blöd, Yuzuru! Ich freue mich auch drauf…“, erwiderte Takaya, der nach hinten blickte und seinen Freund neckisch ansah. „Aber baden geht nicht, damit das klar ist!“
 

Die Wellen rollten beharrlich den steinigen Strand hinauf, und zogen sich am Ende ihrer Kraft wieder dorthin zurück, woher sie kamen, um dann ihr Spiel von vorn beginnen zu können. Auch wenn dieser Vorgang monoton und unscheinbar wirkte, so ließ doch jede Woge etwas Neues zurück, das von aufmerksamen Beobachtern nur entdeckt werden musste.

Yuzuru griff nach einem rund geschliffenen roten Stück Glas, hielt es hoch und betrachtete es entzückt von allen Seiten. Die Brandung hatte der Scherbe ihre Schärfe genommen, und sie so in einen roten Edelstein verwandelt.

Mit rot gefärbter Sicht blickte Yuzuru neugierig rüber zu Naoe und Takaya, die in kurzer Entfernung beieinander standen und sich unterhielten. Ihre Worte konnte er nicht verstehen, denn diese wurden vom Wind hinaus aufs Meer getragen. Sein bester Freund hatte die Hände in die Jackentaschen gesteckt und den Kragen hochgeklappt, während Naoe erfolglos das Haar aus den Augen zu streichen versuchte. Yuzuru musste über diesen Anblick lächeln, wenn auch wehmütig. Denn der Gedanke, dass die beiden Männer einander liebten, dies aber aus vielerlei Gründen nicht frei leben konnten, stimmte ihn traurig. Stumm fragte er sich, ob es überhaupt einem Zeitpunkt geben wird, ab dem es für die zwei möglich war.

Yuzuru entschied, noch nicht zu den beiden zurückzugehen. Er wandte den Blick ab und sah zum Ozean hinaus.

Es verwunderte ihn schon ein wenig, dass sein Umgang mit der Tatsache, dass Takaya einen anderen Mann liebte, völlig vorurteilsfrei war. Schwieriger gestaltete sich da eher die Akzeptanz der fremden Persönlichkeitsanteile in seinem besten Freund. Allein schon, wenn jemand bewusst den Namen Kagetora benutzte, fühlte er sich unwohl. In diesen Momenten hatte er das Gefühl, er müsse die Namenswahl korrigieren – tat es aber nie. Für ihn käme es zumindest niemals in Frage, Takaya mit Kagetora anzusprechen. Seufzend steckte Yuzuru den roten Gegenstand in seine Hosentasche und wartete.
 

„Und? Gibt es Neuigkeiten aus Matsumoto?“

„Nein.“, antwortete Naoe leise, der einen sehnsuchtsvollen Blick auf den jungen Mann neben sich warf. „Haruie hat sich nur erkundigen wollen, wie es uns geht.“

„Verstehe. Es sieht also so aus, dass wir ohne Schwierigkeiten weiterreisen können. Es gibt keine Anzeichen für eine Falle. Shishido hält sich auf seinem Sitz in Wajima auf und scheint geduldig darauf zu warten, dass wir ankommen und höflich an seiner Tür klopfen.“ Takaya blickte auf und sah dem älteren Mann direkt in die Augen. „Ich weiß, dass es nicht einfach für dich ist. Ersparen kann ich es dir trotzdem nicht, Naoe. Ich brauche dich dabei, hörst du?! Shishido hat große Macht und ich kann noch nicht mal sagen, wie ungeheuerlich sie wirklich ist.“ Takaya nahm eine Hand aus der Jackentasche, und strich sich gedankenverloren die Haare hinter die Ohren. Dort blieben sie aber nicht sehr lange, denn der böige Wind peitschte sie ihm im nächsten Augenblick zurück in das Gesicht.

Naoe beobachtete Takaya dabei, und spürte sein Herz schneller schlagen. Die Worte seines Herrn hatten ihn glücklich gemacht. Zum ersten Mal hatte dieser ganz direkt eine Bitte geäußert, die ihm nicht das Gefühl gab, lediglich einem Befehl folgen zu müssen. Takaya schien aufrichtig um sein Wohlbefinden besorgt zu sein.

Naoe musste sich beherrschen, den Mann nicht stürmisch in seine Arme zu reißen und dessen Lippen mit seinen zu bedecken. Die Chance, dass sie dabei gesehen werden konnten – von Yuzuru mal abgesehen – war gering. Denn der Strandabschnitt, auf dem sie sich befanden, war klein und bloß durch einen schmalen abwärts führenden Pfad direkt von der Küstenstraße aus zu erreichen. Naoe sah hoch und konnte den Wagen erkennen, den Kousaka am Rand geparkt hatte, natürlich nicht ohne sich erneut lautstark über diesen Zwischenstopp zu beklagen. Der ungeliebte Zeitgenosse würde jetzt wohl unzufrieden auf ihre Rückkehr warten, wie Naoe stumm vermutete, und eines der Bentos verspeisen, auf die sie alle hatten zurückgreifen müssen, da das einzige Restaurant am Strand von Himi geschlossen hatte.

Naoe verdrängte den Gedanken an Kousaka, aber noch schwermütiger den an einen Kuss, und griff nach seinen Zigaretten. Er versuchte eine zu entzünden, was sich aber als schwierig gestaltete. Der starke Wind änderte ohne Vorwarnung die Richtung, und ließ seinem Feuerzeug damit keine Aussicht auf einen Erfolg. Sich damit schon beinah abgefunden, tauchten wie aus dem Nichts Takayas Hände auf, die sich schützend um seine legten. Naoe riss verblüfft die Augen auf und sah zu dem jüngeren Mann, der ihn mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht entgegen blickte.

„Damit das klar ist, vom Rauchen halte ich noch immer nicht viel…“, erklärte Takaya beinah verlegen. „Wenn ich gerade schon nichts anderes machen kann, als dich um eine schwere Aufgabe zu bitten, will ich dir wenigstens hier entgegenkommen.“

Naoe vergaß bei diesen Worten sein Vorhaben und langte betört mit einer Hand nach Takayas Gesicht, der unter dieser Berührung leicht erbebte. „Du tust schon mehr, als du dir vorstellen kannst, Kagetora…“, raunte er, während er innerlich vor Glück zerprang. Naoe konnte für einen kurzen Moment Wut in Takayas Augen aufblitzen sehen und fragte sich, welchem Persönlichkeitsanteil diese wohl mehr entsprang – Kagetora, weil dieser nach wie vor ungehalten auf diese Dinge reagierte, oder Takaya, der mit dem zweiten Namen so seine Schwierigkeiten hatte. „Komm nicht auf die Idee, mich zu küssen!“, zischte dieser, der seinem Blick auswich und fragenden auf die Zigarette starrte. Naoe stieß seufzend den Atem aus. „Natürlich.“, entgegnete er, während ein tiefer Atemzug die Zigarette zum Glühen brachte. Mit dem Entzünden verschwanden sogleich die Hände, deren Berührung Naoe noch immer spüren konnte. „Was gedenkst du zu tun, wenn wir da sind?“

Takaya presste die Lippen aufeinander und ließ den Blick rüber zu Yuzuru schweifen, der gerade etwas in die Hosentasche steckte und zum Meer hinausblickte. „Um ehrlich zu sein, weiß ich es selbst noch nicht genau. Natürlich will ich erfahren, warum er so sehr an mir interessiert ist. Dafür sogar nicht davor zurückschreckt, Menschen zu verletzen, die mir wichtig sind. Aber dieses Wissen allein ist nicht mehr genug. Ich will Informationen über seinen Vater und dessen Organisation. Und warum sie an Yuzuru interessiert sind.“

„Ich bezweifle, dass du damit Erfolg haben wirst. Wir brauchen Shishido nicht dazu, um herauszufinden, was dessen Vater plant – zumal die beiden, unseren Informationen zufolge, keinerlei Kontakt zueinander haben.“

„Da wäre ich mir mal nicht zu sicher. Chiaki hat berichtet, dass es eine vielversprechende Verbindung zwischen den beiden gibt – wenn auch nicht direkt, sondern über einen Dritten.“, entgegnete Takaya zuversichtlich, der seine Augen wieder auf seinen engsten Vertrauten richtete. „Natürlich macht das die Sache nicht unbedingt einfacher.“

„Und wie sieht diese Verbindung aus? Chiaki hat mir gar nichts erzählt!“ Naoes Frage ging mit einer betroffenen Miene einher, die Takaya arrogant lächeln ließ.

„In erster Linie reicht es, wenn ICH es erfahre.“, meinte dieser plötzlich schonungslos, und sah in Naoes Augen neben Reue Trotz aufblitzen. „Oder bist du da anderer Meinung?“ Takayas Stimme hatte nun einen scharfen Unterton angenommen.

„Nein, Kagetora-sama, bin ich natürlich nicht.“

„Gut. Ich dachte schon, ich müsste mich mit einem zweiten Kousaka rumschlagen. Der Mann raubt mir nämlich den letzten Nerv.“

Naoe starrte Takaya für einen Moment fassungslos an, ehe er erneut etwas sagen konnte. „Mich mit Kousaka zu vergleichen, ist mir, gelinde gesagt, etwas unangenehm. Ich hoffe doch, dass ich nicht die gleichen Gefühle in dir auslöse wie er…“

„Andere, um ehrlich zu sein. Aber das war nicht deine erste Frage, daher werde ich sie auch nicht beantworten. Die Verbindung, von der ich sprach, scheint ein Doppelagent zu sein, der für das Attentat auf Yuzuru und mich in Matsumoto verantwortlich ist. Auf wessen Befehl hin er gehandelt hat, sei dahingestellt. Schließlich würde es beiden mächtigen Männern in den Kram passen, wenn ich nicht mehr wäre.“

„Verstehe. Das würde bedeuten, wenn die Information stimmt, dass Shishido durchaus in der Lage wäre, uns etwas über seinen Vater zu erzählen. Dennoch sehe ich keinen Grund, warum er uns, vor allem aber dir, von ihm berichten sollte?!“

„Wirklich?! Ich denke, da gibt es wohl etwas, was mir seine Aufmerksamkeit schenken könnte.“

„Und das wäre?“ Neugierig blickte Naoe auf, der dabei war, seine aufgerauchte Zigarette zu verstauen.

„Houjou Ujiteru.“
 


 

Die beiden Männer rannten eingeschüchtert den Weg zurück, den sie gekommen waren, um umgehend wieder ihre vorgesehenen Positionen innerhalb des Verteidigungsnetzes einnehmen zu können. Letztlich wollten sie sich aber nur ganz schnell außer Reichweite ihres aufgebrachten Herrn bringen, der für seine unberechenbare Laune bekannt war.

Shishido starrte den beiden nach und seufzte nachgiebig – natürlich tat er es so, dass er dabei ungehört blieb. Er wandte ihnen den Rücken zu und entschied, zu seiner Lieblingsstelle am Rand der Klippen zu schlendern, die sich hoch über der verärgerten Brandung befand.

Genau wie die Wellen, die sich unter ihm den steilen Klippen geschlagen geben musste, hatte Shishido eine ebenso unüberwindbare Wand vor sich: Sasuke zu befreien, würde sich als beinah unmöglich erweisen. Arakawas gewaltsam unterbrochenes Gespräch mit dem jüngeren Bruder ließ nichts Gutes erahnen. Aber Shishido war davon überzeugt, dass Sasuke noch lebte und hoffte, dass seine Zuversicht dem engsten Vertrauten etwas von dessen Gefasstheit zurückgab. Denn einen aufgewühlten Arakawa könnte er beileibe nicht gebrauchen, wenn hier in Kürze Kagetora und seine Gruppe ankamen. Er würde alle Hände voll zu tun haben, und benötigte daher Entlastung durch seinen besten Mann, der seinem Rücken als lebender Schutzschild dienen würde – dienen wollte, wie dieser lieber zu sagen pflegte. Der Gedanke ließ ihn lächeln. „Wenn du wüsstest, wie viel Macht du schon über mich besitzt…“, flüsterte Shishido und sah, ein wenig verärgert über das eigene Gefühl, in die Ferne.

Die Sonne hatte beinah den Rand des Horizonts erreicht, und würde in weniger als einer Stunde blutrot im Meer versinken. Während Shishido zum scheinbaren Rand der Welt hinüberblickte, lehnte er sich entspannt an die knorrige Rotkiefer, die seinen bevorzugten Ort hier am Rand der Klippen verriet. Laut den neuesten Berichten, sah es so aus, dass Kagetora in zwei Stunden den äußersten Rand seines unmittelbar kontrollierten Bereichs erreichen würde. Shishido hatte seinen Männern befohlen, das Auto passieren zu lassen, damit es von Arakawa persönlich zum Hauptgebäude eskortiert werden konnte.

Ein reibungsloser Ablauf dieses Willkommen-Heißens würde zeigen, ob er den Mann richtig eingeschätzt hatte oder nicht. Denn wenn Kagetora aufgrund der Aktionen seines Vaters auf Informationen spekulierte, wie Shishido stark annahm, könnte er sich auf ein paar ruhige Stunden freuen. Sicher sein konnte er sich natürlich nicht. Aber das wäre auch nicht weiter schlimm, denn dann käme es eben sofort zu der aufregenden Auseinandersetzung, die er früher oder später sowieso erwartete und der er gespannt entgegensah.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  MASTAH
2011-05-26T19:45:14+00:00 26.05.2011 21:45
yay x3

ich freu mich schon wenns weiter geht vorallem nähr bei Takaya und Naoe *Q*


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