Der Rest meines Lebens
Traurige Gewissheit
Ein junger Mann von 19 Jahren mit grünen Augen und ebenso grünen Haaren in einer schwarzen Jeans, mit einem weißen Hemd und einer dicken schwarzen Winterjacke trottete langsam durch die verschneiten Straßen von Kalktorstadt.
Der eiskalte Wind peitschte ihm die übergroßen Schneeflocken unbarmherzig ins Gesicht, doch der junge Koordinator merkte es gar nicht. Sein Blick war starr auf den verschneiten Boden gerichtet, seine Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben, er achtete gar nicht auf den Weg.
Drew wusste nicht einmal so genau, wo er hin wollte und er war auch im Moment nicht gewillt, darüber nachzudenken. Er hatte andere Dinge im Kopf, wichtigere Dinge, Dinge, die nun keinen Aufschub mehr duldeten, denn die Zeit lief ihm davon. Aber er wusste einfach nicht, was er zuerst machen sollte. Es gab noch so viel zu tun und er hatte nur noch so verdammt wenig Zeit.
Seufzend blieb er stehen und blickte auf. Er stand inmitten der Stadt. Um ihn herum etliche Backsteinhäuser in den unterschiedlichsten Größen. Sie alle waren umrandet von weißen Zäunen, die man durch den vielen Schnee überall nur schwer erkannte. Die Bäume, die hier und da auf den Grundstücken standen, waren allesamt kahl und schneebedeckt. Um Drew herum waren etliche Leute unterwegs.
Ein kleiner rothaariger Junge ging an der Hand seiner Mutter an ihm vorbei und Drew hörte, wie der kleine Junge begeistert aufzählte, was er sich alles zu Weihnachten wünschte, derweil hatten sie gerade einmal Mitte Oktober; aber die Mutter lächelte vor sich hin und nickte ab und zu, zur Bestätigung, dass sie die Wünsche ihres Sohnes gehört hatte.
Der gründhaarige Drew musste sofort an seine eigene Mutter denken und wie lange er sie und den Rest seiner Familie nicht mehr gesehen hatte. Er musste sie unbedingt noch einmal besuchen. Er wollte sich unter allen Umständen noch von ihnen verabschieden. Erklären musste er ihnen Gott sei dank nichts, denn sie wussten bescheid. Allerdings waren sie da auch die einzigen, wie Drew augenblicklich klar wurde als er darüber nachdachte darüber nachdachte. Von wem er sich noch alles verabschieden wollte?
Als Drew schließlich mit geknickter Miene weiter ging, lief ein junges Pärchen an ihm vorbei, dass Händchen hielt und darüber sprach, wie schön es doch war, dass sie im Moment so viel Zeit miteinander verbringen konnten, weil der viele Schnee das Reisen derzeit ziemlich beschwerlich machte, egal, wie und wohin man reisen wollte.
Sofort kam Drew seine Freundin Maike in den Sinn. Auch sie hatte er eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Zwei Monate war es jetzt her, dass sie sich das letzte Mal getroffen hatten. Aber sie beide hatten es ja so gewollt. Sie verzichteten darauf an denselben Wettbewerben teilzunehmen um keine Streitigkeiten zu provozieren, waren daher aber auch ständig in völlig unterschiedliche Richtungen unterwegs und konnte sich deswegen nur sehr selten treffen. Viel zu selten, wie Drew jetzt erkennen musste.
Bisher hatte ihn das nie so gestört; immerhin hatten sie Freunde, die ein Paar sind und trotzdem sogar in verschiedenen Regionen unterwegs waren und die sich daher noch seltener sahen und von denen beschwerte sich auch keiner. Aber jetzt, wo ihm klar wurde, was sie dadurch alles verpasst hatten, Dinge, die sie nun nie mehr nachholen könnten, machte es ihn wütend, dass er das so lange so einfach hingenommen hatte, es sogar befürwortet hatte.
Während Drew in Richtung des hiesigen Pokémoncenters ging, kam er auch an einer Gruppe junger Trainer vorbei, die sich intensiv über ihre Trainingsmethoden und deren Wirksamkeit unterhielten. Einer von ihnen, ein Junge von etwa 14 Jahren, wie Drew schätzte, sagte dass er seine Pokémon mit Strenge und Ausdauer trainiere, dabei aber immer daran dachte, dass seine Pokémon seine Freunde waren und dass er daher nie mehr von ihnen verlangte, als von sich selbst.
Drew hatte es immer genau so gesehen. Aber jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Er würde keine Zeit mehr dafür haben seine Pokemon zu trainieren. Alles was er nun noch für sie tun konnte, war für sie ein neues und gutes Zuhause zu suchen oder vielleicht ließ er sie auch frei oder aber er gab sie Maike, die meisten seiner Pokemon mochten sie. Aber andererseits würde Maike wohl nur darunter leiden, wenn sie unter diesen Umständen Tag für Tag mit seinen Pokémon leben und trainieren müsste.
Geknickt trat Drew in das große Pokémoncenter ein bei dem er mittlerweile angekommen war. Da er schon ein paar Tage hier in Kalktorstadt gewesen war, musste er Schwester Joy nicht um ein Zimmer bitten; er hatte bereits eines und genau da würde er nun auch hin gehen. Was sollte er auch anderes tun? Ihm war im Moment nicht nach Smalltalk oder Ähnlichem.
Doch Drew kam nicht allzu weit. Er war gerade an der ersten Bank vorbei gekommen, auf der zwei Trainer saßen und ihre Pokemon mit Pokériegeln fütterten, als Schwester Joy ihn rief und zu sich an die Theke winkte. Der Koordinator überlegte erst ob er nicht einfach so tun sollte als hätte er sie nicht gehört, entschloss sich dann aber doch zu ihr zu gehen und zu fragen, was sie wollte.
„Warst du wieder im Krankenhaus?“, fragte Schwester Joy direkt heraus, als Drew bei ihr angekommen war.
Er nickte nur als Antwort. Das war doch schließlich überhaupt der Grund gewesen, wieso er in diese Stadt gekommen war. Für einen Koordinator jedenfalls, der nach Feuriostadt wollte, so wie er, war der Besuch in dieser Stadt nicht von Nutzem, es sei denn, er benötigte ein Krankenhaus für Menschen.
„Sind die Tests ausgewertet worden?“, hakte Joy neugierig nach und Drew verleierte innerlich die Augen. Er verfluchte seine Mutter dafür, dass sie bei ihrem Anruf neulich, als Drew noch nicht wieder zurück war, Schwester Joy Drews ganze Geschichte erzählt hatte.
„Ja, sind sie. Ich werde also, wenn das Wetter es zulässt, Morgen abreisen. Danke, dass ich so lange hier bleiben durfte“, meinte er und hoffte inständig darauf, dass das Thema damit beendet war.
Doch die rosahaarige Schwester Joy, die aussah, wie jede andere auch, bemerkte nicht, dass Drew nicht weiter reden wollte. Sie hakte weiter nach. „Und? Was ist bei den Tests heraus gekommen?“, fragte sie und beugte sich leicht über den Tresen zu Drew.
Dieser seufzte. „Dass ich nie wieder hier her kommen werde“, antworte er, drehte der Krankenschwester entschlossen den Rücken zu und verschwand in Richtung des Flures, der ihn zu seinem Zimmer führen würde.
„Warte doch Drew!“, rief Schwester Joy ihm nach. „Was soll das heißen?“, wollte sie wissen, erhielt aber keine Antwort mehr.
Alle Trainer, die sich in der großen Eingangshalle mit den vielen Bänken versammelten hatten, um sich zu unterhalten oder ihre Pokemon zu versorgen, sahen Drew nach. Niemand kannte sein Geheimnis. Niemand wusste, wie es um ihn stand und doch sagten die Blicke der vielen Fremden ihm, dass sie alle zu ahnen schienen, dass sie ihn niemals wieder sehen würden.
Niemals...
~*~
Drew hatte eine ganze Woche bei seiner Familie in seiner Heimatstadt verbracht, doch die Woche war ganz und gar nicht so gelaufen, wie Drew sich das gewünscht hatte.
Seine Mutter war ständig in Tränen ausgebrochen, wenn sie ihn gesehen hatte und sein Vater war ihm aus dem Weg gegangen. Seine Geschwister hatten zwar versucht so zu tun als wäre alles okay, aber auch ihnen hatte man angemerkt, dass sie die Sache schwerer traf als sie sollte; immerhin hatten sie alle schon seit Jahren gewusst, was passieren würde und hatten es im Gegensatz zu Drew auch immer akzeptiert und mit Fassung getragen. Doch vermutlich war es anders, wenn die Situation, die man bisher immer nur theoretisch durchgesprochen hatte, plötzlich real wurde.
Die gedrückte Stimmung war so schlimm gewesen, dass Drew richtig erleichtert war, als die Woche vorbei war und er damit wieder in die Maho Region zurück kehren konnte, wo er sich mit Maike treffen würde. Sie wusste nichts, ahnte nicht einmal etwas, sie freute sich nur, dass sie sich endlich wieder sehen würden. Drew hatte es einfach nicht fertig gebracht auch nur anzudeuten, dass etwas nicht stimmte.
Der Abschied von seiner Familie war hart. Viel härter als Drew es vermutet hätte, doch er musste da durch. Tapfer ertrug er es, dass seine Mutter ihn anflehte nicht zu gehen, mit einem Schlucken ertrug er es, dass sein Vater, den Drew bisher noch niemals hatte Weinen sehen, in Tränen ausbrach. Mit Tränen in den Augen nahm er die Umarmung seiner geliebten Geschwister hin und mit dem Hauch eines Schmunzelns auf den Lippen ertrug er auch die zweideutige Anspielung, die sein Bruder über das Treffen mit Maike machte.
„Lebt wohl.“
Drew fand es erschreckend, dass das die letzten Worte waren, die seine Familie von ihm zu hören bekam. Doch was sollte er sonst sagen? Alles Wichtige, war bereits geklärt gewesen. So blieb ihm also nichts anders übrig als noch einmal zu winken, sich ein aufheiterndes, fast tröstendes lächeln zu erkämpfen und dann zu gehen und zwar für immer.
Das schwerste jedoch, hatte Drew erst noch vor sich...
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Ich hoffe euch hat der Prolog der Story gefallen, auch wenn es etwas unüblich ist, aus Drews Sicht der Dinge zu schreiben.
Wem es gefallen hat oder auch wer konstruktive Kritik zu bieten hat, kann gerne ein kleines (oder großes) Kommi abgeben.