Tag 3 vom Rest meines Lebens
Der Sturz
Der nächste Tag war kälter als die anderen. Die Luft war eisig. Doch der strahlend blaue Himmel und die leuchtende Sonne machten das Wetter ideal zum Skifahren und so hatte sich Maike entschieden, dass sie genau das an diesem Tag tun würden.
In dicke Winterkleidung eingepackt fuhren sie und Drew die Anfängerhügel der Skipiste hoch und runter. Maike hatte dabei viel Spaß, auch wenn sie das ein oder andere Mal auf die Nase fiel. Drew, der etwas geübter war als sie, war bisher noch nicht einmal gestürzt, doch sein Spaß hielt sich in Grenzen.
Das Skifahren war mitunter ziemlich anstrengend und hinzu kam, dass die eisige Luft Drews Atemwege zuzuschnüren schien. Er fühlte sich nicht gut und er wusste, dass es besser gewesen wäre, wenn er sich zurück gezogen und eine Weile ausgeruht hätte, doch dann wäre Maike enttäuscht gewesen und das wollte er nicht. Er wollte sie in den letzten paar Tagen, die sie noch hatten, nicht traurig sehen.
Also zwang er sich zu einem Lächeln, während er neben Maike her fuhr, ihr hier und da etwas Naschhilfe gab oder sie wieder auf die Skier zog, nachdem sie gestürzt war. Er hatte alle Mühe damit, nicht zu zeigen, dass er schlecht Luft bekam und das sein Herz schon wieder überstunden machte. Wenn es ganz schlimm war, entfernte er sich ein paar Meter von seiner Freundin um kurz eine Verschnaufpause einzulegen und sich wieder etwas zu fangen. Doch das hielt nie sehr lange.
„Drew, kommst du?“, rief Maike plötzlich, die einen etwas steileren Abhang hinunter gefahren war und unten auf ihn wartete.
Sie sah schrecklich aus in ihrem rosaroten Skianzug und mit der übergroßen Sonnenbrille auf der Nase, aber wenigstens konnte man sie so ganz gut vom Schnee unterscheiden, was man von Drew nicht gerade sagen konnte. Der hatte einen blassgrünen Skianzug an und eine Sonnenbrille trug er gar nicht. Zusammen mit seiner blassen Hautfarbe könnte man ihn fast für einen leicht schimmligen Schneemenschen halten.
„Ja, ich bin gleich bei dir“, rief Drew nach unten, holte tief Luft und stieß sich dann ab um nach unten zu fahren.
Niemandem der Anwesenden entging es, dass irgendetwas mit Drew nicht stimmte. Er hatte bisher souverän jede kleine Erhebung und jede schwierige Kurve genommen und nun schien er den Hügel regelrecht hinunter zu stolpern. Sie Haltung war falsch, er wirkte gekrümmt, so als hätte er Schmerzen und so kam es, wie es kommen musste. Er stürzte und rollte den kleinen Rest des Hügels hinunter.
„Drew!“, schrie Maike panisch, schlüpfte aus ihren Skiern und rannte hastig zu Drew hin, der gekrümmt im Schnee lag und eine schmerzverzehrte Miene zog.
Alle im Umkreis waren stehen geblieben oder sogar näher an Drew heran getreten und beobachteten nun gebannt die Situation. Ein Koordinator, dem Maike bei einem Wettbewerb schon einmal begegnen war, verkündete, dass er einen Arzt holen würde und fuhr los, während der Rest der Anwesenden nur etwas unbeholfen auf Drew starrte, der seine Position noch immer nicht verändert hatte.
„Drew!“, sagte Maike erneut, während sie sich neben ihn kniete. „Drew was ist den los? Hast du dich verletzt?“ Sie streckte die Hand nach ihm aus, doch sie brachte es nicht fertig ihn zu berühren. Sie hatte Angst ihm weh zu tun.
„Es ist nichts weiter“, keuchte Drew mit schmerzverzerrter Miene und wollte sich etwas aufrichten um zu demonstrieren, dass wirklich nichts weiter war, doch er schaffte es nicht. Die Schmerzen in seiner Brust waren einfach zu stark.
Maikes Herz überschlug sich vor Panik und auch sie hatte einen kleinen Moment das Gefühl, ihr würde die Luft weg bleiben; doch sie riss sich mit aller Kraft zusammen, denn sie wusste, dass Drew sie jetzt brauchte.
Zögernd legte sie seinen Kopf auf ihren Schoss und flüsterte beruhigend: „Es wird alles gut, Drew. Gleich kommt Hilfe.“
„Nein!“, sagte Drew sofort und schaffte es mit Mühe zu ihr aufzusehen. „Ich brauche keine Hilfe. Es geht gleich wieder“, versicherte er mit leichter Panik in seiner Stimme, die nicht von den höllischen Schmerzen her rührte.
Wenn ein Arzt kam, würde dieser mit Sicherheit herausfinden, was ihm fehlte und dann würde er es Maike sagen und das wollte Drew auf keinen Fall. Er wusste, dass sie es bald erfahren musste, aber doch nicht so.
„Rede keinen Unsinn, Junge!“ Die freundliche Stimme eines braungebrannten Mannes, der wohl gerade mal Anfang 30 war, drang zu Drew hindurch und kurz darauf sah er drei Männer in leuchtend orangen Jacken; zwei von ihnen trugen eine Trage.
Während der braungebrannte Mann mit den blonden Haaren, der sich knapp als Doktor Wichida vorstellte, sich zu Drew hinunter beugte und ihn erst einmal oberflächlich untersuchte, erkundigten sich die beiden Männer, die die Trage trugen und wohl so in Drew und Maikes Alter waren, was und wie es passiert sei. Maike hatte Mühe damit eine Auskunft zu geben, weil ihr das alles irgendwie zu schnell gegangen war. Drew war gestürzt und war danach vor Schmerzen gekrümmt auf dem schneebedeckten Boden liegen geblieben. Das war alles, was sie den beiden braunhaarigen Männern in den orangen Jacken sagen konnte.
Doktor Wichida erklärte schließlich, dass er erst einmal keine offensichtlichen Brüche entdeckt hatte und es das Beste war, wenn sie Drew erst einmal in seine Praxis tragen würden, die nur wenige Meter von dem Hügel entfernt in einem der kitschigen Holzhütten lag.
Dort angekommen, musste Maike im Warteraum Platz nehmen, während der Arzt Drew in seinem Behandlungsraum untersuchte.
„Hattest du das schon öfter?“, wollte der blonde Arzt von Drew wissen, nachdem er sich sicher war zu wissen, was Drew fehlte und daher nicht lange zögerte ihm eine Spritze zu geben, die seine Beschwerden lindern sollte.
Drew lies die Spritze, ohne einen Laut von sich zu geben, über sich ergehen, stellte dann sicher, dass Maike nicht im Raum war und flüsterte schließlich: „Ich habe diese Krankheit seit meiner Geburt.“ Noch immer war Schmerz in seiner Stimme zu vernehmen.
„Verstehe.“ Doktor Wichida setzte sich auf einen Stuhl, während Drew in einer Art Bett lag. „Und nimmst du Medikamente dagegen?“
„Das hab ich...“, seufzte Drew. „Aber sie schlagen nicht mehr an.“ Er spürte, wie das vertraute Medikament, das ihm gespritzt worden war, langsam aber sicher seinen Herzschlag beruhigte und seine Schmerzen damit erträglicher wurden; doch er wusste auch, dass sie nicht weg gehen würden.
Der junge Arzt nickte mit wissender Miene. Er hatte noch nicht oft mit dieser Krankendheit zu tun gehabt, aber er wusste, was es bedeutete, wenn das einzige Medikament, was dagegen half, nicht mehr anschlug. Der Tod dieses Jungen war besiegelt und niemand konnte mehr etwas dagegen tun.
Doktor Wichida erhob sich wieder von seinem Stuhl, ging zum Telefon herüber und wählte eine Nummer. „Wie lange hast du noch?“, fragte er, während er den Hörer ans Ohr legte.
„Ein paar Tage“, war die knappe Antwort von Drew, der sich nach wie vor die meisten Gedanken darum machte, ob Maike sie, da wo sie war, womöglich hören konnte.
„Ich werde dich ins Krankenhaus einliefern lassen“, erklärte der braungebrannte Arzt schließlich mit ernster Miene.
Drew setzte sich so ruckartig auf, sodass es ihn unglaublich schmerzte. „Nein, dass werden sie nicht!“, sagte er so energisch, wie es ihm in seinem derzeitigen Zustand möglich war. „Dort können sie auch nichts mehr für mich tun, außer zusehen, wie ich sterbe.“
Der Arzt lies seufzend die Schultern sinken. „Aber Junge, dort können sie deine Schmerzen wenigstens lindern“, versuchte er zu erklären.
„Ich kann mit den Schmerzen leben“, sagte Drew entschieden. „Ich bin hier um meine letzten Tage mit meiner Freundin zu genießen und genau das werde ich auch tun.“
Doktor Wichida legte den Hörer wieder auf. „Na schön. Dann kann ich dir wohl nur noch viel Glück wünschen, was?“
„So ist es“, nickte Drew. „Aber danke für Ihre Hilfe.“
„Schon gut. Ich werde jetzt deine Freundin reinholen, sie stirb vermutlich gerade vor Sorge um dich.“ Der Arzt erkämpfte sich ein Lächeln und machte sich auf den Weg zur Tür.
„Herr Doktor?“, hielt Drew ihn jedoch noch einmal auf.
„Was denn? Hast du es dir anders überlegt, Junge?“
Drew schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte sie nur bitten, meiner Freundin nichts von dieser Krankheit zu sagen.“
Der braungebrannte Arzt schien etwas überrascht, lächelte dann aber plötzlich verständnisvoll und nickte. „Wie du willst.“
Wenig später trat Maike ein und stürmte zu Drews Krankenbett. Mit einer Mischung aus Sorge und Erleichterung umarmte sie ihn. „Ich hatte solche Angst“, verkündete sie und schluchzte leicht.
„Ich weiß“, seufzte Drew und legte schwach einen Arm um sie. „Es tut mir Leid.“
„Schon gut. Hauptsache du bist wieder okay“, lächelte Maike nachdem sie ihn losgelassen hatte. „Du bist doch wieder okay, oder?“
„Sicher“, nickte Drew mit einem aufgesetzten Lächeln. „Ich hab mir nur eine Rippe geprellt“, log er dann, damit Maike keine unangenehmen Fragen bezüglich seiner Schmerzen stellte.
„Oh... kannst du dann überhaupt aufstehen?“, fragte Maike, während sie ihn besorgt musterte.
„Also heute, sollte ich wohl besser liegen bleiben, aber Morgen können wir dann wieder durchstarten“, versprach Drew.
Die blauäugige Koordinatorin sah ihn skeptisch an. „Bist du sicher? Ich meine... es würde mich auch nicht stören, wenn wir einfach nur im Bett liegen bleiben und etwas kuscheln.“
„Das glaube ich dir“, lachte Drew unter leichten Schmerzen. „Aber ich denke nicht, dass das nötig sein wird.“
„Schade“, zwinkerte Maike bevor sie verkündete, dass sie sich darum kümmern würde, dass Drew nicht ins Pokémoncenter zurück laufen musste. Dann verschwand sie erst einmal wieder aus dem Zimmer.
Drew sah ihr nach, seufzte schwer und schloss dann die Augen um ein wenig zu ruhen. Doch innerlich war er viel zu aufgewühlt dazu. Er hatte Maike in den letzten Tagen mehrfach belogen und unabsichtlich beunruhigt. Er war verwundert und erleichtert zugleich, dass sie noch immer nicht Verdacht geschöpft hatte. Er hatte nun schon einige Andeutungen gemacht und Maike selbst war ja schon aufgefallen, dass er Krank aussah und nun dieser Unfall... Doch offenbar war Maike nicht gewillt, anzunehmen, dass wirklich etwas Schlimmes dahinter stecken würde. Vermutlich glaubte sie an eine Erkältung oder Überarbeitung und eigentlich war das gut so. Noch! Aber wenn Drew ihr dann schließlich die Wahrheit sagen würde, und das würde gewiss sehr bald sein, dann würde es sie vermutlich umso härter treffen und das wollte er eigentlich nicht. Doch was sollte er dagegen tun?
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Einige von euch, haben sich gewundert, wieso Maike nichts merkt, ich möchte hier mal versuchen zu erklären, wie ich das sehe.
Wenn ein Mensch, den man sehr liebt, plötzlich Symptome für eine schwere Krankheit zeigt und merkwürdiges Zeug redet, dann gibt es zwei Möglichkeiten zu reagieren, zum einen, könnte man diese Person darauf ansprechen und zum anderen, könnte man es bewusst verdrängen. Warum verdrängen? Natürlich weil man den Gedanken nicht ertragen könnte, diese geliebte Person zu verlieren. Mir würde es zumindest so gehen.
Ansonsten bedanke ich mich für die vielen leiben Kommis vom letzten mal und hoffe, dass es auch dieses mal wieder viele nette Kommentare gibt.
Bis zum nächsten Tag, dessen Titel 'Partnerlook' sein wird.