Ziellos
Das Leben war friedlich. Zumindest hier oben über den Wolken.
Hier brauchtest du keinen Ärger zu fürchten. Hier gab es nichts, was dir gefährlich werden könnte…außer mir, wenn du die Regeln verletzen solltest.
Schon seit sehr vielen Jahren, viel zu langen Jahren, beschützte ich die Welt, die mir anvertraut wurde. Ich bin der Hüter. Der Beschützer. Der Auserwählte.
Ich sah, wie sich die Erde entwickelte. Wie sich alle Lebewesen entwickelten. Sowohl Pokémon als auch Menschen.
Menschen.
Sie waren ja so verschieden! Der größte Teil war noch zu ertragen. Schließlich kümmerten sie sich um die Pokémon, gaben ihnen ein Zuhause.
Doch andere wiederum – die ich zutiefst hasste und verabscheute – behandelten sie wie den letzten Dreck und hatten nur ihre eigenen, perfiden Gedanken.
Unterdrückung. Gefangenschaft. Krieg. Weltherrschaft.
In all den Jahrhunderten hatte sich nichts geändert. Es gab immer wieder einige, die mithilfe der Pokémon versuchten, an grenzenlose Macht zu kommen. Und immer wieder scheiterten. Nicht zuletzt auch durch uns.
Wir – die legendären Pokémon.
Kaum jemand kannte die wahren Gründe unserer Existenz, nur verschleierte Legenden berichteten von uns.
Dass wir die Welt im Gleichgewicht hielten und darauf aufpassten, dass die Pokémon-Welt und die Menschenwelt friedlich nebeneinander lebten, dass wir es waren, die überhaupt für dieses Leben verantwortlich waren, daran dachte niemand.
Darum kümmerten wir uns allerdings auch nicht. Wir bevorzugten ein Leben im Hintergrund. So konnten wir unseren Aufgaben gerecht werden.
Schließlich hatte jeder von uns seine ganz speziellen Pflichten.
Ich war der Anführer. Ich Bestimmte und Lenkte. Da ich allerdings nirgendwo gleichzeitig sein konnte, waren in jedem Land zwei Wächter, die sich dort um alles kümmerten. Aber auch sie hatten Hilfe von drei Botschaftern, die im jeweiligen Land umherstreiften und die Pokémon und Menschen im Auge behielten. Falls es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte, die die Menschen nicht von sich aus lösen könnten, erfuhren es die Wächter als erstes und überbrachten dann mir die Botschaft. Anschließend entschied ich darüber, was geschehen würde. Man konnte auch sagen, ich war eine Art Richter.
So und nicht anders regelten wir die Angelegenheiten. Und so wie es aussah, würde das noch die ganzen nächsten Jahrhunderte so weitergehen.
Der Ozean unter mir war tiefblau und spiegelte die Wolken wieder, die um mich herum waren. Auch mein Körper blitzte ab und zu hindurch.
Ohne ein Ziel glitt ich durch die Wolken hindurch und genoss die Ruhe und Einsamkeit. Als mein Blick wieder auf das weite Meer fiel, verspürte ich ein trockenes Gefühl in meiner Rachengegend. Sofort setzte ich zum Sinkflug an und sauste nun knapp über der Oberfläche entlang. Das Wasser rauschte in einer wahnsinnigen Schnelligkeit unter mir vorbei. Über den Wolken verlor ich immer das Gefühl für meine Geschwindigkeit. Ich musste hunderte von Stundenkilometern schnell sein.
Langsam wurde das trockene Gefühl richtig lästig.
Ich sog einmal kräftig die frische Luft ein und verschloss meine Nüstern. Im nächsten Augenblick war ich auch schon durch die Wasseroberfläche gestoßen und befand mich im Ozean.
Als nächstes nahm ich erst mal ein paar kräftige Züge vom Meerwasser. Das Salz würde ich früher oder später durch meine Drüsen hinaus filtern.
Nachdem ich meinen Durst gestillt hatte, blickte ich mich um und beschloss meinen ziellosen Weg unter Wasser fortzusetzen. Schließlich konnte ich mehrere Stunden ohne Luft verbringen.
Ich liebte das Meer genauso wie den Himmel. Hier war noch alles in seinem ursprünglichen Zustand. Hierher waren die Menschen noch nicht vorgedrungen und hatten sich angesiedelt. Hier war noch alles in Ordnung.
Während meines Weges machten mir sämtliche Pokémon ehrfürchtig den Weg frei. Einige verbeugten sich sogar.
„Sowas albernes“, dachte ich mir, nickte aber kurz zurück.
„Was führt dich denn hierher?“, hörte ich eine Stimme etwas weiter unter mir. Eine dunkle Gestalt kam immer näher, bis sie neben mir durchs Wasser glitt.
„Nichts, Lugia. Bin ziellos unterwegs“, antwortete ich schlicht. Ich war nie jemand von vielen Worten gewesen. Im Gegensatz zu ihm.
„Ach so. Na denn. Hatte schon gedacht, es gäbe irgendwelche Schwierigkeiten. Aber wenn das so ist…“ Ich rollte die Augen.
„Gibt es in anderen Gebieten Probleme?“, fragte Lugia.
„Nein“
„Aber wenn welche auftreten, sagst du Bescheid, ja?“
„Ja“
Ich wartete. Sollte das etwa schon alles gewesen sein? Verblüffend!
„Sag mal, hast du auf deinem Weg Kyogre getroffen?“, fing Lugia wieder an. Verdammt! Ich hätte mich eben nicht zu früh freuen sollen.
„Nein. Wieso? Ist etwas vorgefallen?“ Als ich Lugias aufglühende Augen ansah, bereute ich meine Frage.
„Nein, keinesfalls! Jedenfalls nichts Schlimmes! Ich weiß ja nicht, wie lange du schon hier unten bist. Aber jetzt wo du es erwähnst…“ Ich rollte wieder mit den Augen. „…wenn du ihn siehst, sag ihm doch bitte, dass er seinen letzten Sieg nicht zu ernst nehmen sollte. Ich will eine Revanche! Sag ihm das bitte, ja? Machst du das?!“
„Natürlich“
Damit war das Gespräch auch schon beendet. Zum Abschied nickten wir uns zu und während Lugia in den Tiefen des Meeres verschwand, erhob ich mich aus dem Wasser wieder in die unendlichen Weiten des Himmels.
Der Wind fegte über meine nassen Schuppen, die aber kurzerhand trocken waren. Gerade als ich mich vergewissern wollte, wo ich mich befand, spürte ich eine Veränderung in der Luftbeschaffenheit. Ich konnte das fühlen. Meine Sinne waren 100-mal feiner, als die der anderen Geschöpfe. Es gab überall Unterschiede. Mal war sie trockener, mal gab es eine höhere Luftfeuchtigkeit, dann gab es kältere und wärmere Luftschichten.
Die Luft hier war die mir bekanntere von allen, die ich bisher ertastet hatte. Sie hatte eine höhere Luftfeuchtigkeit als anderswo und es war wärmer, wenn auch nur ein paar unwesentliche Grad, wodurch die Vegetation sich hier sehr ausbreiten konnte.
Hier fühlte ich mich zuhause.
In Hoenn.