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Die Blutfinke

Wenn die Phantasie zur Waffe wird
von

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Am Grab

Plötzlich stand sie vor dem Grab ihrer Familie. Auch wenn sie vollkommen von der Dunkelheit umhüllt war, lag die Marmorplatte breit und mächtig da. Marie-Louise erahnte ihre Umrisse, und als sie noch einen Schritt vor trat, stiess ihre Schuhspitze an harten Stein. Über den Block beugte sich ein großer Engel, seine scharfen Umrisse schnitten in das fahle Morgengrau. Das Haupt, stilisiert und ohne Details wie der gesamte Körper, verneigte sich vor den Toten. Das Mädchen hatte diesen Engel noch nie gemocht, nicht nur wegen des sterilen Kunststils, sondern weil er sie als kleines Kind an die böse Hexe eines Märchens erinnert hatte.

Auf der Grabplatte glänzten fahl die metallenen Lettern, die die Verstorbenen der Reihe nach auflisteten. Die Großeltern väterlicherseits, deren Eltern, alle waren große Gründer und vornehme Leute. Marie-Louise hatte als Kind sich viele Geschichten angehört, was diese Vorfahren alles erreicht, wie geschäftstüchtig und vorausschauend sie auch in Notzeiten gewirkt hatten. Damals hatte Marie-Louise diese Geschichten noch interessiert, doch dann hörte sie sie immer wieder und allmählich nervten sie: Mahnten die Eltern sie doch häufig, diese Vorfahren, denen sie den Wohlstand und die angesehene Stellung in der Gesellschaft verdankten, als Vorbild zu nehmen. So wurde ihr der Besuch des Grabes zu einer lästigen Pflicht, die des häuslichen Friedens willen, mit aufgesetzter Freude absolviert wurde.

Die Eltern legen viel Wert auf diese Tradition, doch ihrer Tochter kam es wie eine leere Hülse vor. Sie hatte die Großeltern nie kennen gelernt, sie konnte sich kein lebendiges Bild von ihnen machen. Trotzdem sollte sie ihnen nacheifern, fleissig studieren und lernen sich durch zusetzten um selbst einmal die Firma zu übernehmen und sie erfolgreich führen. Sie seufzte, eine Szene schwebte ihr vor, damals als ein Schulfreund von ihr abgeschrieben hatte und die bessere Note als sie bekommen hatte. Sie war so überrascht darüber, dass sie ihren Eltern davon erzählte. Die Mutter hielt ihr vor, dass sie ihre Leistung verschenken würde, der Vater lachte über sie, denn der Freund hatte offensichtlich ihre Fehler bei sich ausgebessert. Die Mutter ärgerte sich, und wies darauf hin, dass sie Freunde hatte, die sie ausnützten und ihr nicht halfen. Die Folge war, dass ihr Schulfreund nicht mehr zu ihr nach Hause kommen durfte, da er wohl nur bei ihr abschrieb. Die Eltern waren zufrieden, aber die Schülerin wurde von einem Tag auf den andern nicht nur von diesem Mitschüler, sondern auch noch von seinen Freunden gemieden und bespöttelt.

Diese Episode war eine von mehreren, in denen es ihr nicht gelang dauerhafte Freundschaften zu schliessen, denn immer gaben die Mitschüler ihr zu verstehen, dass sie „anders“ war, reicher, strebsamer, ...eingebildeter? Ein Paradebeispiel war ja ihr fünfzehnter Geburtstag. Die Eltern hatten ihr erlaubt, sämtliche Schüler ihrer Klasse einzuladen. Marie-Louise mochte aber nicht die Mitschüler bei sich haben, die in der Klasse über sie gelacht hatten. So verteilte sie die Einladungen nur an einen Teil der Schüler. Zuerst schienen sich die eingeladenen zu freuen, doch als der Abend der Party gekommen war, saß sie allein da! Die Frechen waren beliebter als sie.

Damit liess sie es bleiben und zog sich zurück. Sie hatte ohnehin nicht mehr viel Zeit mit Gleichaltrigen Spaß zu haben, denn ihre Noten verschlechterten sich und sie musste in ihrer Freizeit Kurse besuchen. Lernen, lernen, forderte die Mutter und der Vater bezahlte die Kurse, damit sie „gut“ wurde. Gut war sie allerdings schon; sie sollte sehr gut werden. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie für die Prüfungen lernte bis sie die Materie auswendig konnte, dennoch fiel das Ergebnis nicht mit Auszeichnung aus. Enttäuscht machte sie sich daran weiter zu lernen. Das Aufnehmen von Wissen wurde zum Lebensinhalt, alles begann sich darum zu drehen, morgens beim Aufstehen bis abends im Bett, und selbst wenn ein Alptraum sie nachts hochschreckte, dachte sie an ihre Aufgaben, die noch zu erledigen, oder vielleicht zu verbessern wären.
 

Marie-Louise setzte sich auf die Grabplatte, die Kälte drang ihr durch das Gewand an die Haut und liess sie frösteln. Doch die Schülerin war in ihren Gedanken gefangen, denn da war noch ein Ereignis, dass sie ärgerte: Der Umstand, dass sie ihr Können nicht verbessern konnte. Die Auszeichnung schien ihr unerreichbar. Die Mathematikarbeit hatte sie nur mit einem gut abgeschlossen, die Enttäuschung schnürte ihr damals die Kehle zu, sie saß schnüffelnd und mühsam die Tränen verbergend, an ihrer Schulbank. Sie schaute sich die Fehler mehrmals an, und konnte nicht begreifen, wie sie ihr unterlaufen waren. Beim Üben hatte sie diese Fehler längst nicht mehr gemacht.

Beim nächsten Mal hatte sie sogar Spickzettel gemacht. Doch die Aufgaben, die ihr schwer erschienen, machte sie richtig, und die Fehler unterliefen ihr bei denen, die sie eigentlich sehr gut konnte. Irgendetwas in ihr blockierte die weitere Entwicklung, vermutete sie, doch die Eltern verlangen noch mehr Nachhilfestunden.

Sie drückte das heisse Gesicht auf den kalten Stein. Ihr war als hätte sie Fieber, ihr Herz raste. Warum gelingt es mir nicht alles zu können, klagte sie in Gedanken, warum ging ihre Leistung nicht weiter nach oben?

Neulich hatten ihr auch die Eltern diese Frage gestellt. Sie war wütend geworden. Flapsig gab sie zur Antwort, dass sie überall eine ausreichende Benotung habe, weshalb kein Anlass zur Beunruhigung bestehe. Die Mutter war sofort gekränkt, und der Vater hielt ihr die Ausgaben für die Kurse vor. Dieser Streit war einer von mehreren in letzter Zeit. Das Lernen nervte sie in zunehmenden Maße, sie schwindelte öfters, kam zu spät zum Geigenunterricht oder nach Hause.

Die Eltern monierten ein solches Verhalten, und bestanden auf Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, sie duldeten auch kein „langes Gesicht“, denn was taten sie nicht alles für ihre Tochter! Marie-Louise beteuerte Reumütigkeit, doch so schnell war die Mutter nicht zu besänftigen, noch Tage später sprach sie ihre Tochter mit säuerlicher Miene darauf an.

Dies waren die Momente, in denen sich die Tochter am liebsten in ihr Zimmer zurück zog und froh war, wenn sie niemand störte. Ein beengendes Gefühl legte sich im ihr Herz und raubte ihr den entspannten Atem. Sie begriff sich selbst nicht. Sie regte sich über das Verhalten der Eltern auf, aber im nächsten Moment bedauerte sie es, ihrer Familie gegenüber aufmüpfig gewesen zu sein. Die Eltern wollten nur das Beste für ihre Tochter - leider konnte sie es ihnen aus irgend einen Grund nicht geben. Sie schaffte nicht die beste Leistung.

Sie biss an der Lippe. Es fühlte sich schlecht an, das Gefühl zu Versagen überfiel sie und trieb ihr die Tränen in die Augen.

Das Mädchen weinte.



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