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Hunger

von

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„Das wird wohl eine große Feier?“

Die Frau an der Kasse lächelt Rikarda freundlich an, während sie die Waren über den Scanner zieht.

„Was? Äh, jaja, genau.“

Mit ihren Gedanken ist das Mädchen ganz wo anders, sammelt hastig die Lebensmittel ein und wirft sie achtlos in den Einkaufswagen. Eiscreme, Tiefkühlpizzen, verschiedene Sorten Kekse, Chips und Knabbergebäck, Waffeln, Konserven, Süßigkeiten und frisches Gemüse landen übereinander.

„Haben Sie eine Punktekarte und einen Parkschein?“

Rikarda schüttelt den Kopf und zieht die EC-Karte aus ihrer Geldbörse. Ungeduldig und besorgt starrt sie das kleine graue Gerät an, welches schließlich den erlösenden Piepton von sich gibt, der ihre Zahlung bestätigt. Das Konto wurde also noch nicht gesperrt. Immer noch lächelnd reicht die Kassiererin ihr die Karte mit einem Kassenauszug.

„Dann wünsche ich noch einen schönen Abend und viel Spaß.“

„Danke, ebenso“ murmelt Rika.

Den Buchungsbeleg stopft sie in die Jackentasche und schiebt eilig den Wagen zu den Packtischen. Systematisch sortiert sie die Einkäufe in ihren Rentner- Mercedes. Dieses scheußliche Gestell hat sie sich aus praktischen Gründen zulegen müssen. Auch wenn der kleine Karren mit blau kariertem Stoff optisch alles andere als reizvoll ist, passen ihre Großeinkäufe hinein und sie kann sie ohne schmerzende Schultern oder Arme durch die Stadt transportieren. Ein Bund Karotten steckt Rikarda in ihre Umhängetasche und macht sich dann auf den Weg zur Bushaltestelle. Es ist kurz vor halb acht. Dieser Supermarkt ist am weitesten von ihrer Wohnung entfernt. In den beiden, die sich in ihrem Stadtteil befinden, war sie bereits am Morgen und Mittag einkaufen gewesen. Sie holt eine Karotte aus der Tasche, wischt die Erde ab und beißt hinein. Als der Bus hält, liegen bereits fünf abgenagte Krautstängel im Papierkorb.

Bis Rika ihr Wohnhaus erreicht, ist das Bund alle. Der Aufzug ist noch immer außer Betrieb, weshalb sie ihren schweren Einkauf doch die fünf Stockwerke nach oben schleppen muss. Glücklicherweise begegnet ihr kein Nachbar, der ihr scheißfreundlich seine Hilfe anbietet. Der hätte ihr dann nur wieder blöde Fragen gestellt. Diese neugierige Kassenfrau hat sie schon genervt. Feier, denkt das Mädchen voller Sarkasmus klar doch. Was auch sonst? Sie will sich gar nicht ausdenken, was der Azubi bei Edeka gesagt hätte, wenn sie zum zweiten Mal an diesem Tag dort hin gegangen wäre.

Erschöpft betritt sie schließlich ihre Wohnung und lässt sich auf den kleinen Hocker neben der Tür fallen. Noch im Sitzen packt sie den Trolli aus und stapelt dessen Inhalt neben die Küchentür. Sie erreicht sogar den Herd und so kann der Ofen schon mal vorheizen, während sie die Lebensmittel auf der Arbeitsplatte zurecht legt.

Gerade als Rika das Messer ansetzt, klingelt das Telefon. Seufzend läuft sie in den Flur. Mit dem schnurlosen Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt räumt sie die restlichen Einkäufe in den Kühlschrank und schneidet das grüne Kraut von den restlichen Karotten. Verärgert über die Störung ist sie ziemlich kurz angebunden und unkonzentriert, als sie ihrer Mutter antwortet.

„Ja, Mama.“

„Nein, Mama.“

„Warum?“

„Ja, ich bin gerade bei den Vorbereitungen.“

„Ich weiß noch nicht, vielleicht schaff ich es nächste Woche nach der Arbeit.“

„Doch, natürlich will ich euch besuchen, aber-“

„Ja, ich melde mich.“

„Ich dich auch und Grüße an Papa.“

Frustriert knallt sie das Gerät zurück auf die Ladestation.

Zurück in der Küche stellt sie zufrieden fest, dass der Ofen fertig vorgeheizt ist und schiebt zwei Pizzen hinein. Nebenbei knabbert sie die nächste Karotte, diesmal konnte sie sie vorher wenigstens abspülen und die Erde knirscht nicht zwischen den Zähnen.

Mit einer Hand bedient sie den elektrischen Konservenöffner und schüttet die Ravioli aus der ersten Dose in den großen Edelstahltopf, dem sie schon vorher Strom unterm doppelten Boden gemacht hat.

Die Karotten sind alle. Rika setzt sich auf einen der Küchensessel. Gewöhnliche Holzstühle konnte sie noch nie ertragen, egal wie weich die Kissen darauf waren. Umso glücklicher war sie, als ihre Eltern ihr vor einem Jahr zum Geburtstag diese Garnitur aus knallroten Sitzmöbeln schenkten, die nun wie eine Sofaecke angeordnet um den niedrigen Tisch stehen. Die Literpackung Straciatellaeis ist inzwischen so weit angetaut, dass sie den Inhalt direkt aus dem Plastikbecher löffeln kann. Zeit zum Schmelzen gibt sie ihm nicht; die kühle Süße wird einfach hinunter geschlungen. Um sich danach nicht übergeben zu müssen, steckt Rika sich eine Hand voll Schokoflocken in den Mund. Und noch eine. Und noch eine. Die Ravioli sind warm, nicht zu heiß, damit sie sich nicht die Zunge daran verbrennt. Rika schüttet sie direkt aus dem Topf in ihre Müslischüssel und den Inhalt der nächsten Dose in den Topf, gießt Wasser hinzu und setzt sich um die ersten Fleischtaschen zu vertilgen. Ihre Schüssel ist gerade leer, als der Ofen piepst: Die Pizza ist fertig. Erst am Geruch erkennt die Zwanzigjährige, dass sie versehentlich Thunfisch und Schinken mitgenommen hat. Aber das ist jetzt auch egal.

Jemand sollte vor geschnittene Tiefkühlpizza erfinden denkt sie, als sie die Teigfladen auf zwei Teller verteilt und mit dem Pizzaschneider bearbeitet.

Die nächsten beiden Pizzen sind schon im Ofen, Margarita und Salami. Sie dreht die Temperatur etwas herunter. Sie müssen nicht so schnell fertig gebacken sein wie die vorherigen.

Weil sie merkt, dass bald nichts mehr geht, isst Rika die Pizzen so schnell wie möglich. Der Boden ist etwas zu trocken geraten, mit Diätcola runter gespült jedoch einigermaßen erträglich.

Die Teller sind leer und Rika spürt schon den Reflex, den sie nun nicht mehr unterdrücken, sondern im Gegenteil, hervorrufen will. Sie stürzt ins Badezimmer. Mit dem Licht schaltet sich automatisch das Radio im Badezimmer ein.
 

Rika sitzt müde und kraftlos auf dem Badewannenvorleger. Die letzte Ladung orangeroten Breis hat sie gerade herunter gespült. In der Küche piepst der Ofen und die Ravioli kochen über.

„Es ist einundzwanzig Uhr. Sie hören die Deutschlandnachrichten.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (14)
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Von:  Phantom
2014-05-28T11:49:58+00:00 28.05.2014 13:49
Verdienter Sieg und Auszeichnung! Wer hätte erwartet, dass aus dem Themenvorschlag "Nahrungsmittelzubereitung" dergleichen entstehen würde? Ohne viele Fehler in der Rechtschreibung und Grammatik ist Dir eine Novelle gelungen, die einfängt vermöge ihrer kurz angebundenen Erzählweise, der vermeintlichen Normalität im Alltag der jungen Frau, die einen ausdauernd vor die Frage stellt: Worauf läuft es hinaus? Dabei wirken die fast zwei Stunden aus dem Leben der Protagonistin durch die Schlichtheit des Schreibstils, der dennoch Platz einräumt für augenscheinliche Nebensächlichkeiten (wie der Beschreibung des Autos), sowie die Anwendung des Präsens geradezu so lebensecht, als hättest Du allein mit Deinem Schreibwerkzeug ein Video aus der Realität aufgenommen. Nichts darf der Leser wahrnehmen, was nicht der jungen Frau gerade relevant erscheint, und doch erfährt er alles und gar mehr als nicht vorhandene Erläuterungen liefern, indem er in den großzügigen Freiraum spekuliert, den Du ihm dazu lässt. So können wir erfahren, dass wir es hier mit einem Mädchen zu tun haben, das allein ist, das sich allein fühlt und dessen Eltern unfähig sind, die wahre Situation hinter der Fassade ihrer Tochter zu erkennen. Allerdings glaube ich nicht, dass Dein Text belehren will. Denn das Mitgefühl des Lesers für die Hauptfigur reizt er kaum. Der Drang, etwas unternehmen, helfen zu wollen, wird nicht herausgefordert. Der Text will sich nicht aufdrängen; er will etwas zeigen und den Leser sich selbst Gedanken darüber machen lassen, und das gelingt ihm.
Von:  GodOfMischief
2013-04-19T19:32:17+00:00 19.04.2013 21:32
Das ist echt bittere Kost.
Ich weiß nicht genau, was ich dazu schreiben soll, weil mich das ganze jetzt schon ein wenig mitgenommen hat.
Der Stil ist solide, passend und du hast die Situation rübergebracht.
Das Tempo war gut und von der Erzählung her selbst nicht zu viel und nicht zu wenig.
Verdientes YUAL, auf jeden Fall :)

lg
Von:  Gmork
2009-06-27T11:04:13+00:00 27.06.2009 13:04
krasses kapitel.
du hast ihr verhalten richtig gut beschrieben, die fressattakke und danach das übergeben. es kam alles sehr realistisch rüber. das thema erschüttert mich immer wieder, ob in den nachrichten, im radio oder bei deiner fanfic.
ingesamt ein sehr... aufschlussreiches [ich will jetzt nicht "schönes" sagen, weil es ja nicht schön ist.] Kapitel. Ich bin gespannt, bald mehr von dir zu lesen.
lg, SCH0K0LADENTEE

Von:  snowwhitedoll
2009-06-15T18:08:47+00:00 15.06.2009 20:08
Mein erster Gedanke: Scheiße! Ich muss gleich kotzen.

nya...also die Geschichte ist sehr gut geschrieben und der Inhalt schaurigschön =)

Gefällt mir sehr gut!

hugs
Von: abgemeldet
2009-06-14T19:49:26+00:00 14.06.2009 21:49
Wie versprochen, schaue ich mal vorbei: Gratulation nochmal. ^^

Handwerklich einwandfrei. Starke Leistung. Was soll ich dazu groß sagen?
Nur eins stört mich: Das sie extra kocht und nicht einfach aus Tüten futtert. Wirkt irgendwie komisch auf mich. Weiß auch nicht.
joa, viel mehr kann ich nicht sagen, denn alles andere ist prima.

~ present ~
Von:  Karopapier
2009-06-12T14:01:42+00:00 12.06.2009 16:01
"Jemand sollte vor geschnittene Tiefkühlpizza erfinden(...)"
-> vorgeschnittene

"(...)mit Diätcola runter gespült jedoch einigermaßen erträglich."
-> runtergespült

Viel gibt es ja nicht mehr zu sagen, nachdem schon 9 andere Personen ihren Kommentar dagelassen haben. Deswegen als Kurzfassung: Man kann nicht sagen, es hätte mir Vergnügen bereitet die Geschichte zu lesen. Aber sie ist auf jeden Fall gut geschrieben und angemessen ausgearbeitet.

Ich für meinen Teil gehe jetzt erst mal ein Glas Wasser trinken, mir ist schlecht.
Von: abgemeldet
2009-06-10T20:55:39+00:00 10.06.2009 22:55
Wunderschönen guten Abend. =3

Also, ich kann dir gleich von Anfang an sagen, dass dieser One Shot jetzt schon zu meinen Favoriten gehört und du jegliche Auszeichnungen (oder so =3) verdient hast. =]
Echt, die kurze Story hier ging mir ebenfalls ziemlich nahe - und das nicht nur, weil es so gut dargestellt war.
Ein normaler, alltäglicher Ausschnitt aus dem Leben von Rikarda, dazu der angenehme Schreibstil. Auch hat mir sehr gut gefallen, dass du in diesem Fall auf unnötige Umschreibungen, eventuelle 'Schönredungen' ihres Tuns verzichtet und einfach alles knall hart und direkt auf den Punkt gebracht hast. Wirklich, hat mir sehr gut gefallen.

Tja, was soll ich dazu noch groß sagen?
Ganz einfach: Fühl dich so richtig gelobt und auf die Schulter geklopft. =D

Edelweiss.♥
Von:  Flusen
2009-06-03T19:27:05+00:00 03.06.2009 21:27
toll geschrieben, absolut verdientes YUAL ^.^
Von: abgemeldet
2009-06-03T07:48:13+00:00 03.06.2009 09:48
tolle geschichte! ich finds gut das es n one-shot ist... sonst hät ich sie nicht gelesen... ich lese nämlich nicht gerne ewig lange serien die nach ner weile eh alle ausgelutscht sind... ^^ und ich find das thema echt gut ausgewählt... für die meisten war es bestimmt überraschend worauf das ganze hinauslief... für mich nicht... ich hatte mich schon des öfteren mit essstörungen auseinandergesetzt... um ehrlich zu sein habe ich sogar schon anhand des titels geahnt, dass es um ana oder mia gehen wird...

großartige arbeit!!! ~.^


lg
Von: abgemeldet
2009-04-06T17:10:44+00:00 06.04.2009 19:10
Es ist sehr interessant gewesen, diesen Text zu lesen, weil er ein großes Überraschungspotenzial enthält.

Zu Beginn habe ich gedacht, dass es sich um eine magersüchtige Frau handelt. Jedoch bekam mit jeder Zeile Zweifel, ob das wirklich das ist, was mich am Ende erwartet, weil die Frau sich immer mehr Essen in die Mund gestopft hat, sodass ich auf dem Gedanken einer Fettsüchtigen kam, die einfach nicht aufhören konnte, zu essen, was sich aber eigentlich schon durch den Atk des Essens einer Karotte widersprochen hat. (man ist ja eigentlich nur fettige Sachen, wenn man Fettsüchtig ist ... gibt es dieses Wort überhaupt? O_o)
Auf jedem Fall war ich dann doch sehr überrascht, dass sie sich dann doch als magersüchtig entpuppte.

Durch deine Wahl des Nicht-Ich-Erzählers wirkte es zwar nicht so persönlich, was sie erlebt. Jedoch wird dadurch auch eine gewisse Distanz bewahrt, die auch ganz gut ist. Schließlich ist es schwer - finde ich - sich in solche Menschen hineinzuprojezieren, sodass man ihre Handlung auch nicht wirklich nachvollziehen kann und auch nicht nachvollziehbar darstellen kann.

Du sprichst, wie oben schon angedeutet, mehrere Themen an. Die Magersucht und die Fettleibigkeit und ich glaube auch, dass Verwandte, speziell Eltern, in deinem Text kritisiert werden. Zwar hast du nicht das komplette Telefonat aufgeschrieben, aber dieser Ausschnitt genügt schon, um zu merken, dass die Frau recht distanziert von ihrer Familie lebt - was auch daduchr unterstrichen wird, dass sie mit dem Bus zum drittnächsten Supermarkt fahren muss. Es soll halt niemand erfahren, was mit ihr passiert ... diesen Punkt hätte man vielleicht besser in der Ich-Pespektive darstellen können, aber da die genauen Hintergründe fehlen, gibt das dem Leser Freiraum zum spekulieren.

So ... was gibt es noch? Ah genau, ich fand es irgendwie genial, dass du sie so viele Dinge hast essen lassen. Es waren wieder nur wenige Zeilen, bei denen man am Anfang denkt: "Hmmm ... lecker *_*" und am Ende "oh mein Gott, wie passt doch noch bei ihr rein?" Auch die Gleichgültigkeit, das bloße Herunterschlingen der Lebensmittel, war sehr gut dargestellt.

Ich mag den Text. Er ist gut geschrieben und zeigt die knallharte, wenn auch traurige Wahrheit.

mfg
Black-Water


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