Instinkt
In früherer Zeit, als ich noch jünger war, vielleicht 8 oder 9 Jahre, konnte ich es nie abwarten, bis der Winter ins Land einbrach.
Ja, einbrach.
Ich lebte in einem Dorf in dem sich der Winter und der Herbst über Nacht ablösten, sodass wir morgens aufwachten und voller Überraschung feststellten, dass der Schnee schon zentimeterhoch vor der Tür lag.
Diese Zeit des Jahres war mir am liebsten.
Begann der Frühling konnte ich es kaum erwarten bis der Winter wieder herkam und hielt mich mit Erinnerungen der letzten Tage des vorherigen Winters bei Laune.
Aber nichts war so schön, wie richtigen Schnee in Händen zu halten.
Sich die Schneeflocken in den Mund fallen zu lassen oder Schneeengel im frisch gefallenen Schnee zu machen.
Und nun war es wieder so weit!
Ich musste mit dickem Pullover und in einem Schal gemummelt zur Schule laufen und auch die Fausthandschuhe durften da nicht fehlen.
Doch der wahre Spaß begann erst als die Schulglocke zum letzten Mal geläutet hatte. Bereits einige Minuten davor konnte ich nur hibbelig auf dem Stuhl herumrutschen.
Die Schulsachen waren schon lange davor in meiner Tasche verschwunden und mein Blick wanderte immer wieder zur Uhr hin.
13.14 Uhr.
Gleich, gleich würde sie läuten. Gleich. Nur noch wenige Augenblicke!
DINGDONG!!!
Sofort sprang ich auf, wickelte mir wieder den Schal um den Hals und war innerhalb weniger Sekunden fertig angezogen.
Und noch schneller war ich aus der Tür verschwunden!
Selten war ich schneller nach Hause gelaufen, dabei war ich nie ein großer Läufer gewesen. Aber die Vorfreude spornte mich an.
Schon stand ich vor der Haustür und wartete ungeduldig, dass mir geöffnet wurde. Selbst das Mittagessen schlang ich in einer Hast hinunter, die meiner Mutter nur ein verständnisloses Kopfschütteln abverlangte.
Dabei kannte sie mein Verlangen doch zu gut, war ja schließlich meine Mutter! Trotzdem warf sie mir eine Schneemütze hinterher, als ich flink durch die Hintertür verschwand: „Vergiss nicht deine Hausaufgaben zu machen, Nivo! Heute noch!“
Grinsend rannte ich weiter. Mein Magen machte Luftsprünge in der Erwartung auf das was ich bald zu sehen bekommen würde.
Da!
Urplötzlich blieb ich stehen. Abrupt. Als ob mich eine unsichtbare Hand am Kragen meiner Jacke zurückgehalten hätte.
Ich stand auf einem Hügel, der Schnee reichte mir schon fast bis zu den Knöcheln und ich starrte hinunter.
Auf den Fluss. Den zugefrorenen Fluss. Meinen Fluss.
Mit einem Freudenschrei rannte ich den Hügel hinunter und ließ mich nahe dem Fluss in den Schnee fallen. Mit dem Gesicht voran. Erst als ich mein Gesicht in den eiskalten Schnee gedrückt hatte, drehte ich mich auf den Rücken und grinste in den Himmel. Hier war ich in meinem Element.
Ich war der Herrscher meines kleinen Schneereiches.
Glücklich lachte ich laut auf.
Endlich war ich wieder hier.
Langsam erhob ich mich wieder. Ich hatte Lust Schlittschuh zu Laufen und mit einem gekonnten Sprung landete ich auf dem Eis.
Das Eis ächzte unter mir, hielt aber.
Natürlich, warum auch nicht? Es hielt immer!
Ich machte einige Schritte und schlitterte auf dem Eis herum.
Bis ich ausrutschte.
Ärgerlich runzelte ich die Stirn. Das war mir ja noch nie passiert! Ich war der Meister des Eises. Ich rutschte nicht so leicht aus.
Um ehrlich zu sein rutschte ich nie aus!
Verwirrt stand ich wieder auf und drehte weiter meine Kreise.
Dann rutschte ich wieder aus.
Und noch einmal.
Sehr seltsam, dachte ich und stand einen Moment still.
Und da hörte ich das Geräusch.
Glassplittern.
Falsch. Das Eis brach! Und ich stand in der Mitte des Eises. Ich sah plötzlich meine Leiche im Wasser schwimmen. Das Wasser war metertief, ich würde entweder erfrieren oder ertrinken. Ein schauriger Gedanke.
So wollte ich nicht sterben. Ich wollte überhaupt nicht sterben! Davon mal abgesehen.
Vorsichtig versuchte ich vom Eis zu kommen.
Schritt für Schritt kam ich dem Ufer näher. Noch ein Stück, noch ein Stück! Nur noch ein kurzes Stück!
Das Eis begann gefährlich unter mir zu schwanken. Doch es hielt solange ich mich in Richtung Ufer durchkämpfte.
Und nach einigen Schrecksekunden warf ich mich wieder in den ufernahen Schnee.
Genau im richtigen Moment, denn schon hinter mir begann das Eis in Schollen auseinander zu brechen. Mit aufgerissenen Augen starrte ich auf den Fluss. Meinen Fluss!
Ich konnte es nicht verstehen!
Warum brach das Eis? Es war doch noch nie gebrochen!
Stellen sie sich meinen Schock vor! Ich war noch ein kleiner Junge, der nur knapp dem Tod entronnen war!
Natürlich rannte ich sofort nach Hause. Erzählte meiner Mutter alles. Die war natürlich genauso geschockt wie ich. Aber noch geschockter war sie als sie das Radio anschaltete, während sie mir einen heißen Kakao machte.
Die Nachricht hatte es bereits in die Regionalnachrichten geschafft.
Denn auf die Idee aufs Eis zu steigen war nicht nur ich gekommen. Beinahe alle Dorfkinder waren auf den See, der mit dem Fluss (vor unserem Haus) verbunden war, gestiegen.
Niemand wusste genau wie es passiert war, doch auf einmal brach das Eis verschlang die Läufern.
Dutzende Kinder, viele kannte ich persönlich, ertrunken in wenigen Minuten. Tot.
Ich quälte mich lange mit der Frage, warum ich überlebt hatte und die anderen nicht. Es sollte noch viele schlaflose Nächte dauern, unzählige Wiederholungen des Geschehens, bis ich verstehen sollte, konnte, dass der menschliche Körper manchmal instinktiv die Gefahr spürt. Zumindest erklärte das, warum ich immer auf dem Eis ausgerutscht war.
Es erklärte aber nicht, warum ich der Einzige gewesen bin, der die Gefahr gespürt hatte.
Die meisten Kinder, die nicht auf dem See gewesen waren, setzten nie wieder einen Fuß aufs Eis.
Ich schon.
Ich tue es immer noch. Sobald der Winter kommt steige ich wieder auf den Fluss vor meinem Haus. Oft mit meiner Frau. Jetzt auch mit meinen eigenen Kindern.
Ob ich Angst habe, dass das Eis wieder einbricht?
Nun sehen sie, ich habe da so eine Theorie.
Es ist eine Sache auf seinen Instinkt zu hören, sobald Gefahr droht.
Eine andere ist es, wenn man sich so auf etwas einlässt, dass man sein Leben darauf verwetten kann.
Man wird nicht enttäuscht, weil man vertrauen kann. Hundertprozentig.
Diese Theorie zumindest hat mir nicht nur eine Ehefrau und Kinder beschert, sie hat mich auch bis heute au das Eis gehen lassen.
Und wie sie sehen lebe ich immer noch!
Fertig! Ich hoffe sehr das ich deinen Geschmack wenigstens ansatzweise getroffen habe *hoff*.
Schon mal frohe Weihnachten im Vorraus! ^^
Deine
Haschepsa