The end starts...
Niemand hat Macht über die Vergangenheit,
man kann die Vergangenheit nicht ändern.
Die Gegenwart ist bloß der Widerschein dessen, was wir waren, sonst nichts,
und es gibt nur eine Zukunft, wenn man nicht einen einzigen Schritt zurück macht.
- Die Stumme Bruderschaft, Julia Navarro
Seine Arme um seine angezogenen Beine geschlungen, und seine Stirn auf seine Knie gelehnt, saß Kamui zusammen gekauert auf dem kalten Boden. Zumindest war der Platz Wind- und Regengeschützt, doch die Kälte drang dennoch unbarmherzig durch den dünnen Stoff seiner Schuluniform. Wie viel Zeit war wohl schon verstrichen, seit er Subarus Wohnblock erreicht hatte?
War bloß eine halbe Stunde vergangen? Oder konnte er seinem Gefühl noch trauen, was bedeuten würde, dass er tatsächlich schon mehrere Stunden vor der geschlossenen Wohnungstür verharrte, in der Hoffnung, dass der Onmyôji endlich zurückkehrte?
Nachdem er einen Shiki von Hinoto mit dem dringlichen Befehl sich sofort im Parlament einzufinden erhalten hatte, hatte er etliche Male erfolglos versucht das Oberhaupt des Sumeragi Clans telefonisch zu erreichen, doch Subaru hatte weder abgehoben noch zurück gerufen.
Obwohl er wusste, dass er eigentlich dem Befehl der Prinzessin Folge leisten musste, und die anderen Himmelsdrachen mittlerweile mit Sicherheit auf ihn warteten, hatte er sich entgegen aller Vernunft dazu entschieden erst die Wohnung des Älteren aufzusuchen um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war.
Was hatte ihn eigentlich dazu getrieben? Die Tatsache, dass Subaru nicht auf seine Anrufe reagierte, hatte doch nun wirklich nichts zu bedeuten. Wahrscheinlich hatte er einfach zu tun, immerhin war er erwachsen und überdies hinaus noch das Oberhaupt des sogar über Japan hinaus bekannten Sumeragi Clans. Also eigentlich keinerlei Grund für seine innerliche Unruhe. Hinoto hatte die Nachricht mit Sicherheit an alle Siegel geschickt. Vielleicht war Subaru sogar schon im Parlament während er sich in der Kälte den Tod holte.
Und trotzdem rührte er sich nicht vom Fleck, sondern bibberte weiterhin neben der Wohnungstür des Älteren vor sich hin.
Müde blinzelnd hob er schließlich den Kopf, führte seine von der Kälte klammen Finger zu seinem Mund und versuchte diese dürftig mit seinem warmen Atem zu wärmen, als plötzlich leise Schritte auf der Treppe zu hören waren.
Hoffnungsvoll hob Kamui seinen Kopf, richtete sich dann ruckartig auf als er den unverkennbaren weißen Mantel erkannte.
“Subaru!”
Der angesprochene hob irritiert den Blick und für einen Sekundenbruchteil schienen sich die feinen Gesichtszüge zu verhärten, bevor der Ausdruck dann aber auch schon wieder verschwunden war und Kamui seine Beobachtung seiner Einbildung zuschob.
Die Lippen des Älteren verzogen sich zu einem müden Lächeln. “Kamui. Was machst du hier? Ist irgendetwas passiert?”
Der Himmelsdrache musterte das Siegel einen Moment lang wortlos, bevor er dann innerlich erleichtert aufatmet. Scheinbar hatte er tatsächlich Flöhe husten hören. Der Ältere hatte wohl tatsächlich die gesamte Nacht lang gearbeitet und wahrscheinlich deshalb weder Zeit gefunden seine Anrufe entgegen zu nehmen noch ihn zurückzurufen. Hinotos Shiki hatte den Älteren wohl auch nicht erreicht, nicht weiter verwunderlich wenn man bedachte, dass Subaru mit Sicherheit mit übernatürlichen Kräften gearbeitet hatte. Da konnte es schon sein, dass die Nachricht der Prinzessin deshalb nicht zu ihm durchgedrungen war.
“Die Prinzessin hatte einen weiteren Traum. Einer der Bannkreise wird fallen… Wir sollen uns im Parlament versammeln. Ich wollte dich abholen…”
Subaru nickte nur wortlos, während er seinen Schlüssel aus der Tasche kramte und schließlich die Türe aufschloss.
“Ich ziehe mich nur kurz um. Komm ruhig rein und wärm dich etwas auf.”
Obwohl das Oberhaupt des Sumeragi Clans sehr wohl gemerkt zu haben schien, dass er schon seit geraumer Zeit vor der Türe gesessen haben musste, äußerte er sich in keinem Wort dazu. Kamui war ihm dankbar dafür.
Zögernd folgte er dem Älteren in das Innere der Wohnung, bevor er dann die Türe hinter sich zuzog.
Während Subaru hinter einer der von dem Flur abzweigenden Türen verschwunden war, blieb Kamui befangen direkt am Eingang stehen.
Der Himmelsdrache hatte ihn zwar herein gebeten, dennoch wagte er nicht weiter in dessen Wohnung einzudringen. Nicht umsonst hieß es, dass man mit seiner Wohnung einen Blick in seine Seele offenbarte. Immerhin sagten sowohl Einrichtung als auch persönliche Gegenstände sehr viel über das wahre Wesen einer Person aus.
“Die Türe rechts. Setz dich einfach auf das Bett.”, forderte ihn da allerdings Subarus gedämpft zu ihm durchdringende Stimme auf, sodass er hastig seine Schuhe abstreifte, bevor er dann zögernd die besagte Türe öffnete und sich gleich darauf in einem großen, spärlich möbliertem Zimmer wiederfand.
Eine große Fensterfront offenbarte einen Blick hinaus auf die Hochhäuserfront Tokyos, ein glänzendes Lichtermeer, das selbst zu dieser unmenschlichen Tageszeit anzeigte, dass eine Großstadt niemals schlief.
Bis auf ein Telefon auf dem Boden, ein Bett und eine einfache Stehlampe war der Raum völlig leer. Keine persönlichen Gegenstände, weder Pflanzen noch anderes Dekormaterial das es vermochte dem Raum eine weniger triste Atmosphäre zu verleihen.
Erst als der Himmelsdrache näher trat wurde er auf einen kleinen Gegenstand aufmerksam, der neben dem Telefon auf dem Boden stand. Ein gerahmtes Foto.
Wie in Trance ging er leicht in die Knie, wollte gerade nach dem Bild greifen, als er plötzlich die Präsenz einer weiteren Person hinter sich spürte und wie ertappte zusammenzuckte.
“Tut mir leid, ich wollte nicht…”, stammelte er nervös, verstummte aber sofort, als er den seltsam abwesenden Ausdruck im Gesicht des Älteren bemerkte. Wortlos beugte Subaru sich an ihm vorbei vor, griff nach dem Bild und hob es hoch. Beinahe zärtlich strich er über die verglaste Oberfläche.
“Ist… das deine Schwester?”, brach Kamui schließlich das Schweigen, obwohl er sich nicht sicher war, ob es eine gute Idee war, den Älteren nun darauf anzusprechen.
“Und die andere Person auf dem Bild? Ist… er das? Der Mensch, der dich verraten und deine Schwester…?”
Kamui blinzelte irritiert als Subarus Lippen sich für einen Sekundenbruchteil zu einem kalten Lächeln verzogen. Als er seine Lider wieder öffnete war das Gesicht des Onmyôji allerdings wieder völlig ausdruckslos, und der Himmelsdrache der Ansicht, dass ihm seine visuelle Wahrnehmung einmal mehr etwas vorgegaukelt hatte.
“Ja… das ist er…”
+~+~+~+~+
Langsam kehrte sein Bewusstsein zurück, ebenso wie das Kälteempfinden seines Körpers. Die feuchte Nässe des Schnees war durch seinen Mantel in seine darunter getragene Kleidung gedrungen, sein gesamter Körper war eiskalt.
Sein Zeitgefühl hatte sich gänzlich verabschiedet, doch allem Anschein nach hatte er längere Zeit über besinnungslos im Schnee gelegen.
“Sag bloß es war dein Spielzeug, dass dich so zugerichtet hat?”
Eine dunkle Stimme drang trotz seines noch weggetretenen Zustands zu ihm durch, doch erst nach mehreren missglückten Versuchen gelang es ihm unter Aufbringung seiner letzten Kraftreserven seine Lider einen Spalt zu öffnen.
Verschwommen konnte er dunkelbraune Stiefel direkt neben seinem Gesicht erkennen. Scheinbar hockte die Person neben ihm, dennoch fühlte er sich zu geschwächt um den Kopf auch nur ein bisschen anzuheben um sich zu vergewissern wer mit ihm sprach.
Der Ton des Gesprächspartners klang zu vertraut um einem völlig Unbekannten zu gehören, trotzdem konnte er die Stimme nicht zu ordnen. Hatte er sie schon einmal gehört? Musste er wohl. Immerhin schien die Person ihn zu kennen.
Nach und nach kehrte sein Bewusstsein zurück, und umso deutlicher spürte er die Kälte, die seinen gesamten Körper lähmte.
Was genau war passiert? Die Erinnerungen waren nur wirr und verschwommen vorhanden. Hatten sie nicht über eine Wette gesprochen? Doch worüber genau?
“Hätte ich ihm gar nicht zugetraut…”, zeriss erneut die Stimme die Stille und dieses mal schwang ein Hauch von Anerkennung in ihr mit.
Er unterdrückte ein Stöhnen, biss stattdessen die Zähne zusammen, bevor er die Luft holte und sich dann zwang sich aufzusetzen.
Ein stechender Schmerz zuckte durch seine durchgefroren Glieder, dennoch gelang es ihm seinen Körper in eine sitzende Position zu bringen.
Nachdem er kurz tief Luft geholt hatte, drehte er schließlich seinen Kopf in Richtung seines Gesprächspartners, der ihn mit einer Mischung aus Unglauben und Missbilligung musterte.
Seine visuelle Wahrnehmung spielte noch immer verrückt, sodass er nach wie vor nur unscharf sehen konnte, doch er wusste dennoch sofort, dass er ihn nicht kannte. Seine Sinne waren sofort in Alarmbereitschaft versetzt, also musste es sich wohl um einen Erddrachen handeln, dennoch verstand er kein Wort von dem was er ihm sagen wollte.
“Ich hatte mehr von dir erwartet… aber scheinbar bist du ebenso erbärmlich wie die anderen Gehilfen die mir zur Seite gestellt wurden… Beeil dich endlich. Es gibt einiges zu tun. Keine Zeit um hier im Schnee rum zu liegen.”
Was zur Hölle war hier los? Stöhnend massierte er sich die Schläfen, bevor er sich dann in die Höhe zwang.
Den missbilligenden Gesichtsausdruck des Erddrachen ignorierend, wagte er schließlich einige zögernde Schritte, bevor sein Körper ihm endlich gehorchte. Dennoch wurde er den quälenden Gedanken nicht los, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Ohne ihn noch eines weiteren Blickes zu würdigen setzte sich der schwarzhaarige junge Mann, der ihn gerade noch verächtlich gemustert hatte, in Bewegung.
Scheinbar war sein unbekannter Gesprächspartner es gewohnt, dass man seinen Aufforderungen widerstandslos nachkam, zumindest schien er ziemlich sicher, dass er ihm folgen würde.
Mehr zufällig als beabsichtigt streifte sein Blick das zertrümmerte Schaufenster eines leerstehenden Gebäude, und schlagartig spürte er wie seine Knie weich wurden.
Fassungslos glitten seine Finger über sein Gesicht, während ihm der seltsam schockiert wirkende Blick des Sakurazukamôri entgegen blickte.
~tbc~
