Eine welkende Tulpe
Die Heizung bollert, röhrt und tropft. Die Füße frieren. Nebenan läuft der Fernseher, wertloses Gewäsch, während im Bad die Waschmaschine rumpelt. Das Mobiltelefon läutet schrill, nach Aufmerksamkeit heischend, und bleibt doch unbeachtet auf der Kommode liegen. Der Verkehr vor dem Fenster rast, die Zeit ist knapp, warum weiß keiner und dennoch muss jeder sich beeilen. Die Katze schnurrt aufmunternd. Und ihm wird, als das Haar auch nach mehr als zwanzig Minuten Arbeit die kleine Glatze nicht vergessen machen kann, eines bewusst:
Er ist eine welkende Tulpe.
Nett, aber doch durchschnittlich, einst schön, doch nun haben sich das Alter und die Anstrengung in seine Züge gebrannt und ihn unansehnlich zurückgelassen. Die Haut scheint noch straff, doch man sieht ihr an, dass sie bald Falten werfen wird; die enge Unterwäsche hilft da auch nicht. Sie beweist noch zusätzlich, dass sein einstiger Glanz, die frühere Ansehnlichkeit, schwindet. Und er ist schockiert.
Eine welkende Tulpe.
Vielleicht nicht einmal das. Vielleicht ist er nur das, wovor er sich immer gefürchtet, das, was er immer verlacht hat. Vielleicht hat die Zeit nun auch ihn gezeichnet.
Doch das kann, das darf nicht sein; er muss Aktionismus zeigen. Noch heute wird er hinausgehen, und jenen jungen, strammen Burschen aufgabeln, der ihm sein Ego zurückgeben kann.
Schafft er das nicht, wird er zu einer Lachnummer.
Dann wird er zu einer welkenden Tunte.
Die Lichtanlage schmerzt sein Auge; die Müdigkeit in seinen Gliedern lässt ihn fast verzweifeln. Nicht das Alter, versucht er sich einzureden, während er merkt, dass die Disko ihn abstößt, nicht das Alter ist es, das ihn von den anderen unterscheidet – er hat nur keine Lust, ja das wird es sein. Sein Auge flitzt, streichelt die Körper, schnell, schnell, bevor das Unbehagen zu stark wird. Der Rauch brennt in den Lungen, die Ohren dröhnen und der Alkohol hat den Gang schon ein wenig unsicher gemacht.
Da sieht er ihn.
Er ist jung und blond und blau und schön und er wird ihn auslachen, wenn er ihn anmacht. Nein, wird er nicht, aber so toll ist das Kind – ja genau, das ist es, ein Kind – nicht, trotz blauer Augen und enger Hose keine Erotik.
Deswegen spricht er ihn nicht an, nur deswegen.
Und das Auge sucht weiter, ohne zu wissen wonach, und das Unbehagen wächst. Die Musik schlägt auf ihn ein, macht ihn schwindelig, den Bauch zieht er ein. Weil es so eng ist, genau, deswegen muss er ihn einziehen. Die Figur – tadellos, schreit er einem Fremden ins Ohr, tadellos, seit er zwanzig ist. Der Fremde nickt und geht.
Nicht, weil zwanzig bei ihm schon so lange her ist, sagt sich der Mann, nein, weil die Tanzfläche den Fremden ruft. Überhaupt, der war nicht seine Liga, die Nase so schief, die Bewegung so wenig anrüchig, denkt er, während sein Blick ihm verlangend folgt.
Da sieht er etwas, rot, rotes Haar, jung und braun und jung und DA, vor ihm, an ihm, mit ihm. So jung, da kann er selbst nicht alt sein.
Und er tanzt und küsst und hält und vergisst. Dann nimmt er ihn mit. Und fickt.
Er ist kein Kind. Nein, er ist kein Kind. Zwanzig ist er, in der Blüte seiner Manneskraft. Und er ist geil. Befriedigung überschwemmt ihn, zusammen mit Erleichterung. Er ist kein Kind. Er hat ihn verführt, diesen Mann, so groß, so stark, so reif…
Er ist kein Kind.
Als er erwacht, sind da der pochende Schmerz in seinem Kopf vom Alkohol, das Brennen in seiner Nase vom Kokain und der Schmerz in seinem Gesäß vom Sex. Dem Sex, der zeigt, dass er kein Kind ist.
Ein Arm liegt über seiner Brust. Ein starker Arm, braungebrannt, natürlich Sonnenstudio, ein männlicher Arm, ein geiler Arm, ein…
Alter Arm?
Plötzlich sind da Falten, die Muskeln scheinen die Haut nicht mehr ganz zu spannen; ohne Lichtanlage und Drogen ist der Fremde verbraucht.
Er schüttelt sich, schüttelt den Zweifel ab. Und der Fremde erwacht, berührt ihn, und da ist es wieder, so alt! Er schüttelt sich, schüttelt den Arm ab; dann zieht er sich an.
„Was ist? War’s nicht gut?“
Und wieder ein Schütteln, er fleht, der Fremde, der sein Vater sein könnte, vielleicht noch älter, fleht!
Er öffnet die Tür.
„Doch schon. Bist nur ein bisschen… reif für mich. Sorry.“
Und er geht und lässt einen alten Mann zurück.
Er ist ein Wurm. Jeder Ring eine Falte, schleimig, eklig, alt.
Zwei rote Haare liegen auf seinem Kissen, doch der Rest ist fort, ist geflohen vor dem Greis, der sich auf seiner Haut abzeichnet. Und das Schlimmste ist, dass er sich erinnern kann, dass er weiß, wie er dasselbe gemacht hat, wie er, vor zwanzig Jahren und noch mehr, selber vor dem Alter floh.
Er ist ein Wurm, nackt, hilflos, weit entfernt vom saftigen, grünen Wald, windet sich auf dem Asphalt. Und er kann den Regen, der ihn ertränken wird, schon riechen.
Graue Augen folgen ihm, zeichnen seine Bewegungen mit Aufmerksamkeit nach und schmeicheln seiner Seele. Sein Ego schnurrt, die Lippen lächeln. Die grauen Augen sprechen, laden ihn ein, und er braucht das, braucht die Gewissheit, dass er doch interessant ist, dass er kein Wurm ist.
Kaffeebohnen verkaufen die grauen Augen, Kaffeebohnen und Schokolade und Nettigkeit an alte Frauen, an Großmütter. Auch das Lächeln verkauft, das dunkle Haar, die schönen Hände. Er trinkt keinen Kaffee, Schokolade meidet er, doch er braucht das, er braucht das Lächeln, das Interesse.
Doch als er näher kommt sieht er die Falten um die Augen. Sieht die Lebenserfahrung, die er so fürchtet, im Lächeln.
Der Verkäufer ist alt. Attraktiv, aber alt. Eine verwelkte Tunte. Da helfen die Telefonnummer und das Versprechen nicht, die Verzweiflung bleibt. Er nickt und geht und rennt und flieht.
So einsam ist er nicht, das braucht er nicht, das will er nicht. Der Mann war alt, so alt, und verbraucht.
Mindestens vierzig, bestimmt, so alt…
Er stockt.
Es zu denken fällt schwer, es schmerzt, und etwas zerbricht in ihm.
So alt wie er. Vielleicht ein oder zwei Jahre jünger.
Er ist alt.
Verwelkt.
Egal, was er tut.
Egal, was er denkt.
Egal, wen er fickt.
Die Augen finden die Hand. Die Hand hält den Zettel. Der Zettel weiß die Nummer.
Und er geht heim, heim, wo die Heizung bollert, röhrt und tropft. Die Füße frieren. Wo der Fernseher läuft, wertloses Gewäsch, während im Bad die Waschmaschine rumpelt. Und das Mobiltelefon läutet nicht mehr schrill, nach Aufmerksamkeit heischend. Es bleibt auch nicht lange unbeachtet.
Er ist alt.
Und es ist an der Zeit, erwachsen zu werden.