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Der Malar

Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen
von

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Abschied

Das heisere Heulen der Kaktuswarane, die das Ende der kühlen Nacht begrüßten, weckte mich sanft aus meinem tiefen Schlaf.

Ausgiebig streckte ich meine klammen Glieder, die ich an diesem Morgen als sehr schwer und steif empfand.

Kaum dass ich die Augen geöffnet hatte, registrierte ich sofort eine mir nicht vertraute Maserung des Holzes in der Deckenvertäfelung.

Mit klopfendem Herzen drehte ich mich in dem fremden Bett auf die Seite und starrte in das Angesicht meines wahrhaftigen Alptraumes.

„Oh nein, verdammter, stinkender Spinnendreck!“ entfuhr es mir unwillkürlich.
 

Für einen Moment wünschte ich mir ernsthaft, der braungebrannte Körper meines Gegenübers würde sich in rotem Qualm auflösen und die Gestalt meines Malaren offenbaren, der mir dieses Mal einen besonders geschmacklosen Traum beschert hatte.

Leider handelte es sich aber um die bittere Wahrheit, dass es sich bei dem kaum bekleideten Mann, der da mit einem schiefen Grinsen selig in den zerwühlten Laken neben mir schlummerte, um meinen Lehrmeister handelte, mit dem ich die letzte Nacht verbracht hatte.

Und wie wir diese Nacht gemeinsam verbracht hatten!

Ich schluckte die aufkommende Übelkeit tapfer herunter, wälzte mich vorsichtig von der mitgenommenen, ächzenden Matratze und stakste splitterfasernackt, die knarrenden Dielen verfluchend, aus dem Schlafraum.
 

Nein, nein, nein, das durfte doch einfach alles nicht wahr sein!

Behutsam schloss ich die quietschende Tür und sog tief die vergleichsweise frische Luft des Flures ein, die nicht den Geruch von vergangener körperlicher Vereinigung in sich trug.

Dieser leichtsinnige Trunkenbold, diese vermaledeite Valdrobularrinde!

Wie hatte das nur passieren können? Hatte ich denn komplett das letzte bisschen Verstand verloren?

Wahrscheinlich hat der versetzte Tee mich so gleichgültig und träge gemacht, dass ich mich aus purer Bequemlichkeit nicht gegen Myroons Annäherungen zu Wehr gesetzt hatte.

Und Myroon muss dieses heimtückische Gebräu in einen äußerst anspruchslosen Lüstling verwandelt haben, denn ich wusste, dass ich in keiner Weise dem Beuteschema meines Ausbilders entsprach, was die Wahl seiner stets bezaubernden Liebhaberinnen betraf.
 

Ich griff in mein zerzaustes Haar und eine heraus geraufte Feder segelte lautlos zu Boden.

Nun hatte ich sie also auch endlich hinter mir die berühmte, heiß ersehnte erste Nacht mit einem Mann, und ich konnte mich kaum noch an etwas erinnern.

Und das war mir eigentlich ganz recht, schließlich handelte es sich bei dem besagten Mann um Myroon, den arroganten, abgehobenen Weiberheld, der bis weit über die Dorfgrenzen hinaus für seine Zügellosigkeit und Nachlässigkeit berüchtigt war.

Wie peinlich!

Ich knirschte angespannt mit den Zähnen.
 

Wenn das jemandem zu Ohren käme… meinen Eltern…Vilthon.

Meine Ohren begannen zu glühen, bei dem Gedanken, wie schnell solche Neuigkeiten im Dorf die Runde machen konnten, vor allem, wenn ein so großspuriges Klatschmaul wie Myroon sie verbreitete.

Mit höchster Wahrscheinlichkeit würde er diesen unsagbaren Vorfall als amüsante Anekdote zum Besten geben, wenn er am nächsten Abend vor seinen Freunden bei einem gemütlichen Becher Honigfruchtwein im Gemeindehaus mit seinen Liebesabenteuern prahlte.

Bei der Vorstellung eines angetrunkenen Myroons, der erfreut quer über den Gemeindeplatz grölte, sogar das spröde Drachenmädchen flachgelegt zu haben, überwältigte mich der Brechreiz und ich schaffte es gerade noch in den Waschraum um mich elendig über der Toilettenschüssel zu übergeben.
 

Einige Augenblicke verharrte ich auf den kühlen Fliesen, dann begann ich, Eimer für Eimer eiskalten Brunnenwassers in den Waschraum hinaufzuziehen und den Boiler der Duschvorrichtung damit zu befüllen.

Ich verzichtete darauf, das Schälchen mit Schlegelsand unter dem Wasserbehälter anzuzünden, um das Wasser auf Körpertemperatur zu erhitzen, sondern drehte gleich den Hahn auf, um sofort in einem eisigen Regen des kühlen Nasses den Schmutz und den Schweiß der letzten Nacht von meinem Leib abzuwaschen.

Die Kompresse an meinem Hals löste sich sanft von meiner hellen Haut.

Das an die schreckliche Wunde, die der Malar geschlagen hatte, nur noch einige hässliche Narben an den Stellen erinnerten, in die er seine fürchterlichen Fänge in mein Fleisch gebohrt hatte, registrierte ich mit Desinteresse.

Viel zu sehr war ich damit beschäftigt, penibel jeden Quadratzentimeter meines Körpers gründlich mit einem mit Saponsiskrautsaft getränktem Schwamm abzuschrubben.
 

Als diese Prozedur endlich beendet war, glühte meine wundgescheuerte Haut stellenweise in einem fleckigen, rosafarbenen Ton.

Mein Spiegelbild bot daraufhin den denkbar erbärmlichsten, ungesündesten Anblick, den man sich vorstellen konnte, und ich beeilte mich damit, meine Zähne zu putzen, um den seltsamen, schalen Geschmack in meinem Mund loszuwerden.
 

Da Myroon die Wäsche immer noch nicht abgenommen hatte, stand mir kein frisches, trockenes Handtuch zur Verfügung, also schlich ich mich am ganzen Leib zitternd in die Wohnküche, um meinem Schrank saubere Kleidung zu entnehmen.

Auf meinem Weg dorthin fiel mein Blick unwillkürlich auf die zerfetzte Hängematte, in der ich sonst immer geschlafen hatte, und auf die riesig erscheinende dunkle Lache meines getrockneten Blutes, die sich Myroon offensichtlich noch nicht zu entfernen bequemt hatte.

Abermals drohte sich mein Magen umzudrehen.
 

Hier konnte ich nicht eine Sekunde länger bleiben, jeder Platz, jeder Gegenstand in diesem Haus rief plötzlich diverse unangenehme Erinnerungen hervor, denen ich mich zu stellen noch nicht gewachsen fühlte.

Kurz entschlossen zog ich mich an und packte wahllos einige Kleidungsstücke und meine wenigen persönlichen Habseligkeiten in meinen Rucksack und verließ leise das Baumhaus.
 

Als ich die Strickleiter hinabkletterte, war die Sonne noch nicht aufgegangen, doch die herrliche junge Morgenröte, die ihr vorauseilte, flutete die Hälfte des klaren, dunkelblauen Himmels bereits in leuchtenden, satten Farben.

Unten angekommen kitzelte taufeuchtes Gras meine Fußknöchel.

Als ich mich hinab beugte, um den Saum meiner weiten Hose tiefer zu ziehen, schreckte mich ein lautes Knacken und Rascheln aus dem angrenzenden Wald auf.

Mit gehetztem Blick suchte ich die Bäume nach einer Bewegung ab, nach einer Gestalt, die das verräterische Geräusch brechender Äste verursacht haben könnte, fest damit rechnend, den Malaren in einem der Wipfel oder hinter einem der Stämme zu entdecken.

Doch es war nur der kleine blaue Schnabelgecko, der mit hohen Sprüngen aus dem Dickicht hervorschnellte.

„Coatl!“ rief ich erleichtert und ließ das flinke Reptil an mir hochklettern.

Schnatternd bettelte der Gecko um die begehrten Piragienkernen, doch ich musste ihn auch heute enttäuschen.
 

„Tut mir leid, Kleiner, aber ich glaube diese Zeiten sind vorbei. Ich kann hier nicht mehr länger wohnen, denke ich, und auf Myroons Gnade solltest du dich nicht verlassen. Ich habe dich ohnehin zu lange mit diesem öligen Zeug verwöhnt. Schau mal, die vielen Kerne haben schon Spuren an deiner schlanken Linie hinterlassen.“

Neckisch strich ich dem Tier über sein wahrhaftig leicht gewölbtes Bäuchlein.

Coatl keckerte verärgert, denn er ließ sich nicht gerne anfassen.

Ich grinste schelmisch.

„Na, Süßer, willst du dich denn wenigstens noch ein bisschen an mir aufwärmen? Jetzt geht es zu Onkel Vilthon, vielleicht hat der ja noch was Leckeres für dich übrig. Du kannst gerne so auf meiner Schulter sitzen bleiben, dann sieht wenigstens niemand die Abdrücke der Malarenzähne. Aber ich denke, um diese Zeit wird sowieso kaum jemand unterwegs sein. Na, dann halt dich jetzt mal fest, Kleiner!“

Ich rannte über die Wiese, die frische Morgenluft, die meine Lungen auf belebende Weise füllte, genießend.

Dann folgte ich dem Weg in Richtung Dorfmitte.
 

Ich kam an den großen Scheunen vorbei, in denen die Ernte der umliegenden Felder nicht nur gelagert, sondern auch sortiert, getrocknet, gepresst, oder anderweitig aufbereitet wurde, bevor man die jeweiligen Erzeugnisse herausgab, damit man sie zu Körben, Tauen, Stoffen und dergleichen weiter verarbeiten konnte.

Aus diesen stets sorgsam gefüllten Lagern konnte man Leinenfasern beziehen, und die nahrhaften Xeraatkolben, aus denen der Müller wertvolles Mehl gewinnen konnte. Auch die geschmeidigen Salizenweidenruten, aus denen sich gute Körbe flechten ließen, Baumwolle aus den Knospen des Stachelknochenstrauches, sowie auch die unverwüstlichen Rohre der Didigipflanzen konnte jeder Dorfbewohner hier in Empfang nehmen.

Das gute Holz von Roonen, Querken und Betoolen bewahrte man ebenfalls in diesen Scheunen auf, wo man es trocknete und dem späteren Verwendungszweck entsprechend behandelte.
 

Mein Weg führte mich nun an der Zwirnstube vorbei, einem Häuschen, in dem Pflanzenfasern, Wollspinnenfäden und Zaronnenwolle weiterverarbeitet wurden und in dem sich die die Weber, Spinner und Näher trafen.

Laphanie, eine sehr attraktive, langbeinige Alwin, die ebenfalls dort beschäftigt war, kam mir entgegen.

Sie lächelte mir schon von weitem freundlich zu, und ihre schönen, ebenmäßigen Zähne strahlten.

Ich grinste gequält zurück, indem ich meine großen Kauwerkzeuge freudlos entblößte.

Laphanie gehörte zu den jungen Frauen, die Myroon bevorzugte, und ich hatte die beiden so manches Mal gemeinsam im Wald verschwinden sehen, wenn ich wieder einmal allein das Unkraut im Garten jäten musste, damit uns die sorgsam gehüteten roten Piragien, süßsauer schmeckende, fleischige, saftige Gemüsefrüchte, nicht elendig zugrunde gingen.
 

„Grüß dich, Tilya!“ zwitscherte Laphanie gut gelaunt und warf einen amüsierten Blick auf den Schnabelgecko, der seinen langen, blauen Körper um meinen Hals und meine Schultern gewunden hatte. „So früh schon unterwegs?“

„Guten Morgen!“ erwiderte ich, gezwungenen lächelnd und senkte den Blick zu Boden. Der Gedanke an Myroon hatte meine Speiseröhre schon wieder mit unangenehmen Krämpfen gesegnet. Coatl krächzte ungeduldig, als sein mobiler Untersatz stehen blieb.

„Wie geht´s Myroon?“ fragte Laphanie mich arglos. „Herr Vilthon hat ja gestern erzählt, er sei von einem fremdartigen Tier gebissen worden, das von den Menschen gekommen ist. Hoffentlich fängt man es bald ein und bringt es dorthin zurück, wo es hergekommen ist. Hast du dich gut um Myroon gekümmert, kommt er heute wieder ins Dorf?“

„Äh, ja, Myroon geht es blendend, aber er schläft noch.“ stammelte ich. „Er muss sich noch etwas schonen, glaube ich. Wenn ihr euch heute noch seht, kannst du ihm bitte sagen, ich wäre bei Vilthon?“

„Warum bist du bei Vilthon? Ist deine Ausbildung etwa schon beendet? Hast du deshalb deine Sachen gepackt?“ fragte die Alwin mich verwundert.

„Ach, Vilthon braucht dringend meine Hilfe…irgendwelche Experimente…du weißt ja…seine Forschungen…“ druckste ich herum und fuchtelte dabei wild mit meinen Händen in der Luft herum. Ich war mir bisher selbst nicht darüber im Klaren, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Und den Malaren durfte ich dabei natürlich auch nicht vergessen.

Mir wurde es ganz flau im Magen.
 

Coatl knurrte missbilligend, als Laphanie sich besorgt ein Stück zu mir hinunter lehnte, um mein bleiches, müdes Gesicht in Augenschein zu nehmen. „Ist alles in Ordnung, mit dir, Kleine? Du siehst sehr schlecht aus.“

„Ja, danke…äh, Laphanie. Ich muss jetzt aber los, Vilthon wartet schon auf mich.“ murmelte ich, ihren Blicken hartnäckig ausweichend. Ich verabschiedete mich flüchtig und rannte den Weg hinauf ins Dorf, wobei mein Rucksack wild auf und ab hüpfte und seine Riemen unangenehm an der frisch verheilten Bisswunde des Malars scheuerten.

Der Schnabelgecko krallte sich ängstlich an meiner Schulter fest.
 

Schon ließ sich der strenge, beißende Geruch der Gerberhütte vernehmen, in der sich zu dieser frühen Stunde schon die Lederer, Schuster und Färber emsig tummelten.

Der Weg führte mich über die Brücke über den Fluss, vorbei an der Wassermühle des Müllers, von dessen anliegender Backstube aus sich bereits der herrliche Duft frischgebackenen Xeraatbrotes in den lauen Morgenwind mischte.

Ich verlangsamte meinen Lauf, als ich das große Glühbeerenbeet erreichte, welches rund um das Zentrum des verhältnismäßig großen Hügeldorfes angelegt worden war und den großen Tauschplatz, den Dorfbrunnen, das Gemeindehaus, die Bücherei, das Gästehaus und die Rabenvoliere meines Onkels umschloss.

Einen großen Bogen machte ich um den Gemeindeplatz, durch den die gepflasterte Hauptstraße führte und nahm einen weiteren Umweg zwischen einigen Wohnhäusern in Kauf, um nicht am Haus der Gesundheit vorbeikommen zu müssen, in dessen Nähe außerdem auch meine Eltern wohnten.

Ich folgte den Quellwasserleitungen am Dorfrand, die sich in die angrenzenden Felder, Plantagen und Terrassen abzweigten.

Dann kam ich am Salnachkohlfeld vorbei. Der Salnach, dessen schlanke, mannshohe Kohlsprossen geerntet werden konnten, sobald sie begannen, sich zu öffnen, konnte nur gegart verzehrt werden und ließ sich geschmacklich in etwa mit den von den Menschen bevorzugten Kohlsorten wie Spinat, Wirsing und Mangold vergleichen.

Auf dem abgeschnittenen Strunk wuchs eine neue Sprosse heran, jedoch stets um einiges schmaler und zarter als ihr Vorgänger, so dass der Salnach nach vier Ernten neu gesät werden musste, wenn man auf einen Fruchtwechsel des Ackers verzichtete.

Auch das große Patuttfeld ließ ich hinter mir zurück, nicht ohne schüchtern die vorsichtig zwischen den Pflanzen herum staksende Xyllienne zu grüßen, eine schlaksige, freundliche junge Alverliekin mit dem Talent, das Pflanzenwachstum zu beeinflussen, um welches ich sie glühend beneidete.
 

Bei der Patutt handelte es sich um ein unauffälliges Nachtschattengewächs, deren runde, orangefarbene, sehr stärkehaltigen Wurzelballen die die Größe eines Kopfes erreichen konnten, und neben der Xeraat die mild schmeckende Nahrungsgrundlage der Insel darstellte.

Als ich das Feld mit den Heerscharen kleiner, süßscharfer Sonnenbulbenzwiebeln erreichte, deren golden und violett gescheckten Blütenblatter sich munter in der milden Brise wiegten, und ein ekstatisch flimmerndes Farbenspiel zur Schau stellten, schlug ich den Weg zwischen den Häusern der verliekischen Töpfer, Ziegelbrenner und Glaser ein.

Ich passierte die Hütte der Schmiede und gelangte nun wieder auf die Hauptstraße, die mich vorbei an den Werkstätten der Handwerker führte.

Hier hielt sich oft mein Vater auf, um mit anderen materialkundigen Verlieken, die sich hier trafen um gemeinsam alle anfallenden Reparaturarbeiten zu bewältigen, über effektive Imprägnierungstechniken zu fachsimpeln.

Ich schlich mich vorsorglich möglichst nahe an der Wand der Werkstatt vorbei, um ja nicht entdeckt zu werden.

Fast wäre ich dabei über das Reitgeschirr eines Roonengräbers gestolpert, das jemand achtlos neben einem leeren Torfkarren liegen gelassen hatte.

Die Arbeit bei den Handwerkern war beliebt, weil sie sich so vielseitig gestaltete. Man hielt sich häufig kaum in der eigentlichen Werkstatt auf, in der vor allem geschreinert, getischlert und geschnitzt wurde, denn meist befand man sich an der frischen Luft um beispielsweise mit den Querkenkneifern Holz zu fällen und zu verarbeiten oder um Gebäude, Anlagen und Gerätschaften zu renovieren oder zu installieren.

Man arbeitete stets Hand in Hand mit anderen Dorfbewohnern, zum Beispiel mit den Schmieden, den Glasern, den Torfstechern und Ziegelbrennern.

Mein geselliger Vater war hier ganz in seinem Element und suchte man nach ihm, brauchte man nur dem Lärm zu folgen, den in den meisten Fällen die eifrigen Handwerker zu verantworten hatten.
 

Das röhrende Brüllen der Reitechsen kündigte lautstark den Aufgang der Sonne an.

Bald würde reges Treiben die leeren Straßen füllen.

Ich beeilte mich, zu Vilthons Haus zu gelangen, das man hinter den Tierställen, zwischen der Leguanfarm und dem Wollspinnengehege fand.

Die beiden Querkenkneiferweibchen des Dorfes dösten ruhig in ihren riesigen Käfigen vor sich hin.

Querkenkneifer waren gewaltige, massige krabbenartige Wesen, doppelt so hoch wie eine ausgewachsene Zaronne und ebenso breit.

Die wuchtigen Körper wurden von einem grünen, chlorophyllhaltigen, lederartigen Panzer geschützt, den drei Paar kräftige Beine trugen und ein paar kräftige Scherenzangen verteidigen konnten.

Querkenkneifer lebten in den tieferen Wäldern der Insel und die Alwen lehrten den Verlieken, ihre weiblichen Larven aus den Nestern zu holen, um sie bei sich aufzuziehen und mit den ausgewachsenen Tieren zu arbeiten.

Die Weibchen der Querkenkneifer waren um ein Vielfaches größer als die schnabelgeckogroßen Männchen, die bei jeder Brut gute neunzig Prozent der Nachkommenschaft ausmachten und sich im Gegensatz zu den Weibchen von Aas, Kleintieren und Waldpilzen ernährten statt von Blüten und Beeren.

Wegen ihrer vergleichsweise geringen Größe fielen jedoch viele Männchen ihren zahlreichen Fressfeinden, den Kronennebeldrachen, Kaktuswaranen oder Wollspinnen zum Opfer.

Ihren Namen verdankten die Querkenkneifer den gleichnamigen Bäumen, den Querken, die die Weibchen mit ihren großen, scharfen Mundwerkzeugen bevorzugt für den Bau ihrer riesigen Bruthöhlen fällten.

Neben der Querkenkneiferhütte befanden sich die Käfige für die fünf Roonengräber.

Diese einzelgängerischen, mannsgroßen, asselartigen Insekten mit ihrem glänzend schwarzen Gliederpanzer wurden nach den hohen, schlanken Nadelbäumen benannt, deren Zapfen und Wurzeln sie verspeisten.

Mit Hilfe ihrer kräftigen Grabschaufeln verbuddelten sich diese genügsamen Tiere während den kühleren Jahreszeiten in der Erde, um in eine Kältestarre zu verfallen.

Die vielen faustgroßen Eier, die ein trächtiges Weibchen legte, wurden größtenteils von Vögeln, Wölfen, Füchsen und Nagern gefressen, doch hin und wieder hatte man das Glück, ein Ei zu finden und einen kleinen Roonengräber im Dorf schlüpfen zu lassen, den man später beim Ackerbau und beim Torfstechen gut gebrauchen konnte.
 

Der intensive Geruch des Wollspinnengeheges drang mir jetzt in die Nase.

Es handelte sich hierbei um einen offenen Verschlag, den die Spinnen, die ihre Netze sonst weit verstreut zwischen den Bäumen des dichten Waldes spannten, frei betreten und verlassen konnten.

Hier wurden ihnen jeden Morgen die Überreste der verliekischen Nachtjagden angeboten, und während sich die mehr und minder großen Tiere genüsslich an den stark riechenden, eiweißhaltigen Abfällen gütlich taten, konnten ihre Spinndrüsen am Hinterleib durch vorsichtiges Klopfen gemolken werden.

Einen weiteren Dienst leisteten die Spinnen den Dorfbewohnern, indem sie den Riesenmoskitos nachstellten, die nach der Dämmerung von den großen Seen im Landesinneren ausschwärmten um sich unter anderem am Blut der Leute zu laben.

Nicht nur kleinen Kindern konnten diese Blutsauger zu einer ernsten Gefahr werden, doch zusammen mit den Kaktuswaranen konnten die Wollspinnen die Bedrohung durch die fliegenden Plagegeister eindämmen.
 

Ich hielt mir die Nase zu und betrat das Gehege, in welchem einige Zwergwollspinnen und eine Riesenwollspinne bereits auf ihre Mahlzeit warteten.

Coatl versteckte sich feige hinter meinem Rücken und fauchte erschrocken, als ich mich dem riesigen, prächtigen Tier näherte und sein borstiges Fell um seine acht glänzenden Knopfaugen kraulte.

„Na, Dicke?“ grinste ich die achtbeinige Schönheit schuldbewusst an. „Wenn ihr Pech habt, gibt es hier heute nicht besonders viel zu Futtern. Bestimmt haben die Verlieken die nächtliche Jagd abgesagt. Tut mir leid, das habt ihr nämlich mir und meinem wahnsinnigen Malaren zu verdanken.“

Ich klopfte der Spinne entschuldigend auf eines ihrer langen, haarigen Vorderbeine und schritt gedankenverloren über die mit Löwenzahn und Gänseblümchen überwucherte Wiese zu Vilthons hübschen, kleinen Fachwerkhaus.
 

Gerade hob ich die Hand, um an der dicken Holztür anzuklopfen, als diese ruckartig aufgerissen wurde und Vilthon mich, seinen unverhofften Besuch, beinahe umrannte. Entsetzt sprang ich zur Seite und sah an meinem besten Freund hoch.

„Vilthon!“ keuchte ich verunsichert. „Wie siehst du denn aus?“

Der adrette Alwe legte für gewöhnlich Wert auf ein gepflegtes Äußeres, doch heute hatte er seine schulterlangen, rostbraunen Haare recht leger nach hinten gebunden, und trug mehrere Lagen alter, völlig verschlissener Kleidung an seinem Körper.

Ich hätte ihn fast nicht erkannt, denn einige ungebändigte Strähnen fielen Vilthon ins Gesicht und verdeckten beinahe seine klaren, grauen Augen.
 

„Tilya!“ rief der Alwe überrascht. „Wie geht es dir? Schön, dass du schon auf den Beinen bist! Die Wunde sah gestern Abend auch schon ziemlich gut aus. Im Gegensatz zu dir, du bist sehr blass, Kind. Du hast den Cobalaextrakt nicht getrunken, habe ich Recht?“

„Doch! Und mir geht es gut.“ antwortete ich empört. Was dachte Vilthon denn von mir? Ich war doch kein kleines, ungehorsames Kind mehr!

„Du gefällst mir trotzdem nicht, Kleines.“ nörgelte Vilthon weiter und begutachtete mein äußeres Erscheinungsbild kritisch. „ An Myroons Stelle hätte ich dich noch nicht arbeiten geschickt, du siehst ziemlich erledigt aus.“

„Myroon schläft noch…“ warf ich tonlos dazwischen.

Der Alwe sog zischend die Luft ein und ich musste bei dem vertrauten Anblick seiner hochgezogenen Braue grinsen.

„Wo willst du in diesem Aufzug eigentlich hin, Vilthon?“

„Schlegelsand holen!“

Ich verzog angewidert das Gesicht.
 

Schlegel waren mannsdicke, fleischige, farblose Würmer, die eigentlich ihr einsiedlerisches Leben unter der Erde, meist in der Nähe von Mooren und Tümpeln führten.

Die lichtempfindlichen Allesfresser wurden von den Verlieken bei Nacht in den Dörfern aus hygienischen Gründen in den unterirdischen Abwasserkanälen angesiedelt.

Begehrt waren die feinen, weißen Kristalle, die die Tiere ausschieden, denn sie gaben einen mehr als ergiebigen Brennstoff ab.

„Aber das kann warten.“ verkündete Vilthon nun strahlend. „Hast du schon gefrühstückt?“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich hatte keinen Hunger…“

„Den bekommst du schon gleich beim Essen, Mädchen. Hereinspaziert in die gute Stube!“

Ergeben folgte ich der gut gemeinten Einladung.
 

In Windeseile zauberte mein bester Freund eine Kanne Betoolenspringbockmilch auf den Tisch, einige Scheiben würzigen Zaronnenkäse, Xeraatbrötchen und schnitt sogar noch schnell einen Piragienkürbis für mich.

Als Krönung servierte er mir noch ein gekochtes Leguanei.

Ich schluckte. „Du bist ja schlimmer, als meine Mutter, Vilthon. Wer soll das denn alles essen?!“

Coatl, der neben mir auf dem massiven Holztisch in der gemütlichen Küche Platz genommen hatte, verputzte mittlerweile laut schmatzend eine überreife Honigfrucht.

„Keine Widerrede! mit etwas Anständigem im Magen wirst du hoffentlich gleich etwas gesünder ausschauen, meine Liebe.“

Der Höflichkeit halber fing ich an, eines der Brötchen aufzuschneiden und mit Käse zu belegen.
 

„Sag mal, hat dein Besuch bei mir eigentlich einen besonderen Grund?“ fragte Vilthon beiläufig, als er zufrieden lächelnd beobachtete, wie ich begann, ohne Appetit auf meinem Frühstück herumzukauen.

Er lenkte seinen Blick bedeutungsvoll auf den schweren Rucksack, den er mir abgenommen und unter dem Tisch verstaut hatte.

Der Bissen blieb mir im Halse stecken und ich spülte mit einer Tasse Milch nach.

„Äh, Vilthon, sag mal, könnte ich vielleicht für einige Tage bei dir wohnen?“ krächzte ich dann mit rauer Stimme.

Der Alwe legte seine Hand auf meine. „Nichts lieber als das! Du weißt, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als dich um mich zu haben, Kind. Aber ich frage mich nun natürlich, was dich dazu bewegt, Myroons Haus zu verlassen. Er weiß mit Sicherheit noch nichts von deinen Plänen, sonst wäre er hier schon längst aufgetaucht. Oder habt ihr euch gestern noch darüber gestritten, aus welchem Grund er die Flucht deines Malars in meiner Gegenwart verleugnet hat?“
 

Unbehaglich rutschte ich mit gesenktem Blick auf meinem Stuhl herum.

„Nein, direkt gestritten haben wir uns nicht, aber…“

Da begriff ich plötzlich den Sinn seiner Worte und starrte Vilthon aus großen Augen an.

„Du glaubst mir also doch?“

„Nun ja…“ Vilthon seufzte. „Ich habe insgeheim schon lange befürchtet, dass es irgendwann, in irgendeiner Weise einmal so weit kommen würde. Greyan konnte mir damals noch einige Einzelheiten über den Fall der Fuchsfrau aus dem Hafendorf berichten, deren Malar angeblich ebenfalls ihr Totem vernichtet haben sollte, bevor er sich aus ihren Träumen befreite. Die junge Verliekin enthüllte ihr unglaubliches Geheimnis aber erst bei der Geburt ihres Kindes, die sie leider nicht überlebte.“

Ich war etwas verwirrt.

„Mein Malar war also möglicherweise tatsächlich nicht der erste seiner Art, der fliehen konnte. Warum hast du mir dieses Detail verschwiegen, Vilthon?“ wollte ich von meinem Freund wissen, der gerade das Leguanei pellte, nur um seine unruhigen Hände zu beschäftigen.

„Ich wollte dich nicht noch mehr verunsichern, Kleines. Schließlich wurde diese Geschichte immer für einen Mythos gehalten. Jenes zweifelhafte Ereignis liegt jetzt seit guten drei Jahrzehnten zurück, und man hat nie etwas von dem Malar gehört, geschweige denn gesehen. Selbst Greyan stand der ganzen Geschichte seit je her kritisch gegenüber. Aber nach dem, was du Myroon und mir in der vorletzten Nacht erzählt hast, kann ich nicht mehr länger mit Gewissheit ausschließen, dass es sich dabei wirklich nur um ein fantastisches Märchen gehandelt haben sollte. Und ich bin fest davon überzeugt, dass du niemals irgendein dubioses Tier mit einem Malaren verwechselt würdest.“

„Es tut irrsinnig gut, das jetzt von dir zu hören, Vilthon. Aber warum hast du Myroon nicht gleich deine Meinung gesagt? Ich bin halb wahnsinnig geworden, als mir niemand Glauben schenken wollte. Erst nachdem du gegangen bist, hat Myroon zugegeben, dass er dir und nicht zuletzt auch sich selbst was vorgemacht hatte, als er die Existenz meines Malars verleugnete.“ bohrte ich nach.

Coatl nutzte die Unaufmerksamkeit der Zweibeiner, um sich unauffällig über das Leguanei herzumachen.
 

„Du warst völlig aufgelöst, Tilya. Ich wollte einfach verhindern, dass du dich immer weiter in diese Sache hineinsteigerst, und habe deshalb versucht, dir alles auszureden. Leider muss ich jetzt erkennen, dass ich damit genau das Gegenteil erreicht habe. Aber du hast unbedingt etwas Ruhe gebraucht, doch ich fürchte, die hättest du dir selbst dann nicht gegönnt, wenn Myroon sie dir gelassen hätte, nicht wahr?“
 

„Ich muss was unternehmen, Vilthon.“ wechselte ich schnell das Thema.

„Die Ausbildung bei Myroon breche ich ab. Er hat mir all das beigebracht, was ich von ihm lernen wollte. Und leider auch noch viel mehr. Nach allem, was jetzt passiert ist, kann ich einfach nicht mehr länger in diesem Haus bleiben, wie du sicher gut nachvollziehen kannst.“

Mein Freund nickte verständnisvoll. Ich räusperte mich verlegen.

Dann blickte ich dem Alwen fest in die Augen.

„Ich hoffe, dass du mir nun einen deiner berühmten guten Ratschläge geben kannst, Vilthon. Mein Malar schleicht jetzt nämlich irgendwo da draußen umher, und ich will mir gar nicht ausmalen, was er alles anrichten könnte. Was soll ich machen?“

Vilthon rückte mit seinem Stuhl näher an den gedeckten Tisch heran.

„Denkst du, du könntest mir genau beschreiben, was sich in dieser Nacht zugetragen hat, Kleines?“ fragte er mich vorsichtig

Ich nickte und berichtete ihm stockend von jener grauenhaften Begebenheit, das spätere Malheur mit dem Valdrobulartee geflissentlich auslassend.

Vilthon hörte konzentriert zu, und unterbrach mich nur, um hin und wieder einige Details zu erfragen.

Als ich wütend meine Erzählung mit Myroons Behauptung, eine überstürzte Suche nach dem Malaren sei ebenso sinnlos wie gefährlich, beendete, nickte Vilthon zustimmend.
 

„Wenn du ehrlich zu dir selbst bist, Tilya, hat Myroon im Grunde Recht mit dem, was er sagt. Natürlich empfinde ich es als verantwortungslos, dir zu empfehlen, darauf zu hoffen, das sich das Problem von alleine löst. Wenn wir Pech haben, können wir sehr lange auf diesen Moment warten, vielleicht so lange, bis es zu spät ist, und eine entsetzliche Tragödie bereits ihren Lauf genommen hat. Aber andererseits kopflos durch die Weltgeschichte zu rennen, ohne einen Plan, ohne überhaupt eine triftige Spur zu verfolgen, ist nicht nur verdammt riskant, sondern zehrt auch unnötig an deinen Kräften.“

„Ich begreife das jetzt auch.“ gab ich zu. „Deshalb möchte ich ja nun mit dir gemeinsam überlegen, was ich tun kann. Ob mir womöglich dieser Studienkollege von dir weiterhelfen könnte, was denkst du?“

„Vor allem, mein liebes Kind, solltest du als Erstes deine Eltern einweihen, bevor du dich zu irgendeiner Handlung entschließt.“

Ich knirschte mit den Zähnen.

Dies würde sich wahrscheinlich als noch problematischer erweisen, als den Malar zu finden…

„Sie werden sicherlich versuchen, mich von jeglichen Vorhaben abzubringen, Vilthon. Es sei denn, sie nehmen mir die ganze Geschichte überhaupt ab.“

„Du bist ihre Tochter, Tilya. Es ist das gute Recht deiner Eltern, dich vor jedem potenziellen Unglück bewahren zu wollen. Aber wenn du es wünschst, werde ich dir gerne unterstützend zur Seite stehen, wenn du mit ihnen über diese Angelegenheit sprichst.“

Ich bedachte den Alwen mit einem Blick voller Dankbarkeit. „Gleich heute Nachmittag werde ich nach der Arbeit bei meinen Eltern vorbeischauen. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn du auch kommen würdest.“
 

Vilthon lächelte stolz und wuschelte mir freundschaftlich durch das gefiederte Haar.

„Das kriegen wir schon hin, Kurze!“ versprach er mir aufmunternd. „Aber jetzt muss ich los, der Schlegel wartet auf mich. Pass gut auf dich auf und mach keinen Unsinn, verstanden? Grüß deine Mutter auf der Arbeit lieb von mir!“

„Warte Vilthon!“ schrie ich dem Alwen noch hinterher, der gerade die Haustür hinter sich schließen wollte. Mir war noch etwas Wichtiges eingefallen.

„Bitte halte doch die Augen und Ohren nach allem Ungewöhnlichen offen, ja? Falls irgendwo irgendetwas Seltsames vorgefallen ist, was man vielleicht mit dem Malar in Verbindung bringen könnte, sagst du mir dann Bescheid?“

Vilthon zwinkerte beruhigend in meine Richtung und nickte, hielt dann plötzlich inne und schien einen Moment lang zu überlegen.

„Ioxannah hat in dieser Nacht einen seltsamen Anfall erlitten. Der Dorfarzt musste mich wecken, um für sie Valdrobularrinde bei mir zu borgen. Bei euch im Haus der Gesundheit scheint seit gestern die Nachfrage nach Beruhigungstee enorm angestiegen zu sein, der Arzt fand alle Vorratsdosen leer vor. Wahrscheinlich hat meine Nachricht über das geheimnisvolle Untier die Dorfbewohner zu arg verschreckt.“

„Was war denn nun los mit Ioxannah?“ drängte ich ungeduldig.

„Kein Grund zur Aufregung, Tilya, ein Fehlalarm. Anscheinend hatte sie nur einen besonders heftigen Alptraum und ihr Freund hat etwas überreagiert, als er voreilig den Arzt verständigt hat. Nun ja. Von der plötzlichen Beunruhigung, die unsere erfundene Kreatur bei den Leuten hervorruft, profitieren natürlich auch indirekt ihre Malare, die nun ein leichteres Spiel in ihren Träumen haben.“

„Spinnendreck, auch das noch!“ fluchte ich verdrossen.

„Kleine, wenn wir die Leute warnen und zur Achtsamkeit aufrufen wollen, ist es eben unvermeidlich, das damit auch eine gewisse Besorgnis erregt wird. Das geht bald vorüber. Es hätte schlimmer kommen können.“ versuchte Vilthon mich zu besänftigen. „Wir sehen uns heute Nachmittag, dann reden wir weiter. Und erinnere deine Mutter daran, die Vorratsdosen aufzufüllen, ja?“

„Na gut. Bis später. Danke für das leckere Frühstück!“ rief ich dem Alwen noch nach, bevor dieser endgültig aus meinem Blickfeld verschwand.
 

Es würde jetzt wohl noch so einiges auf uns zukommen. Damit war zumindest zu rechnen.

Ich wartete noch geduldig, bis Coatl sich an dem Leguanei gesättigt hatte, dann räumte ich den Tisch ab und packte den fauchenden Gecko am Genick, um ihn aus Vilthons Wohnung zu tragen.

Behutsam setzte ich das zappelnde Tier auf der Löwenzahnwiese vor dem Haus ab, von wo aus es mit federnden Sprüngen zum Waldrand hüpfte.

Noch einmal kehrte ich zurück in Vilthons Küche, um aus meinem Rucksack einen Spinnwollschal herauszuholen, den ich mir um Hals und Schultern wickelte, sorgsam darauf bedacht, meine frischen Narben vollständig mit ihm abzudecken.

Dann machte ich mich tapfer auf den Weg zum Haus der Gesundheit, wo meine Mutter mich bereits erwartete.
 

„Hallo, Mama, ich bin wieder da!“ rief ich betont fröhlich in die Stube.

Doch das Ausbleiben einer Antwort verriet mir, dass meine Mutter sich im Moment nicht in der Nähe aufhalten konnte. Deren alwischen Ohren vernahmen nämlich ansonsten jedes noch so leise Geräusch, besonders, wenn es ihre ungeschickte Tochter verursachte.

Also nutze ich die Gunst der Stunde, um in aller Ruhe einen Blick auf die angeblich vollständig geplünderten Lagervorräte des Beruhigungstees zu werfen.
 

Nur einen Tag lang hatte ich im Haus der Gesundheit gefehlt, und in dieser Zeit hatten es die aufgebrachten Dorfbewohner doch tatsächlich geschafft, den gesamten Vorrat an Valdrobularrinde zu leeren, genau wie Vilthon es mir erzählt hatte.

Ungläubig den Kopf schüttelnd begutachtete ich die leeren Teedosen im Lagerraum, als die fröhlich klingende Stimme meiner Mutter die Stille durchbrach.

„Schätzchen! Da bist du ja wieder!“

Vor Überraschung glitt mir eine leere Teedose aus den Händen und zerschepperte auf dem Steinboden in tausend Scherben. Spinnendreck!

Meine Mutter, selbst schwer beladen mit einem großen Korb frischer Valdrobularrinde, verdrehte theatralisch die Augen. „Typisch, Tochter, Tilya Tollpatsch!“

Die schlanke, blonde Alwin, die ebenso klein und zierlich war wie ich, strahlte mich verschwörerisch aus ihren hellblauen Augen an und als sie ihre schmalen Lippen zu diesem frechen, unverwechselbar charmanten Grinsen verzog, bemerkte ich, wie verblüffend ähnlich wir uns manchmal sehen konnten.
 

Sie stellte den Korb mit der duftenden Baumrinde ab und musterte mich von oben bis unten.

„Ach, Tilya, bist du denn närrisch? Bei diesem herrlichen Wetter einen Schal zu tragen? Was soll denn das nun schon wieder? Hast du jetzt auch am Hals Echsenhaut? Lass mal sehen!“

„Nein!“

„Oder sind das etwa Knutschflecken, die du da vor mir verstecken willst?“

„Mama!“ rief ich, ehrlich entsetzt. Woran sie nur wieder dachte!

„Ach, Kindchen, du brauchst dich doch nicht zu genieren. Wer ist denn der Glückliche? Lass mich raten! Myroon!“

„Mama!!“ schrie ich abermals, diesmal deutlich schriller und mindestens eine Oktave höher. Auriannah lachte vergnügt, während sie mir half, die Scherben der Teedose zusammen zu fegen und sie auf das Kehrblech zu befördern.

„Wusste ich es doch! Schatz, das muss dir doch nicht peinlich sein, immerhin bist du alt genug, und wenn man dann noch bei einem der begehrtesten Junggesellen des Dorfes lebt, dann…“

„Mama, hör auf, ich muss gleich kotzen!“ brüllte ich ungehalten.

„Na gut, na gut, es geht mich nichts an, ich weiß!“ beschwichtigte Auriannah mich. „Wie geht es Myroon denn heute? Vilthon meinte, er hätte Glück gehabt, dass das Tier ihn nicht allzu schlimm erwischt hat. Schätzchen, dein Vater und ich haben uns sehr erschrocken, als wir von diesem Vorfall erfahren haben. Eigentlich wollten wir sofort zu euch, um nach dem Rechten zu sehen, aber Vilthon meinte, dein Lehrer bräuchte dringend Ruhe, und du würdest dich lobenswert um ihn kümmern. Hast du dieses seltsame Tier denn auch gesehen? Vilthon meinte, es hätte sich wahrscheinlich vom Kontinent auf die Insel verirrt.“

„Mama, ich kann auch nur das wiedergeben, was Vilthon gesagt hat.“ erklärte ich ausweichend.
 

Auriannah musterte mit ihrem klaren Blick kritisch mein bleiches Gesicht, als könne sie in ihm lesen, wie in einem Buch. „Du siehst krank aus, Kind. Sicher warst du die ganze Nacht wach und hast dich um Myroon gekümmert, richtig?“

„…Richtig!“ würgte ich hervor. Und wie ich mich um ihn gekümmert hatte…

„Ihr habt den gestrigen Gemeinderat versäumt.“ fuhr Auriannah fort. „Es wurde empfohlen, dass in nächster Zeit niemand alleine das Dorf verlassen sollte. Besondere Vorsicht ist an den Waldrändern geboten, wie sich von selbst versteht, und alle Arbeiten, denen außerhalb der Dorfgrenzen nachgegangen werden muss, sollten bevorzugt in kleinen Gruppen erledigt werden. Auch auf die nächtlichen Jagden der Verlieken wird fürs Erste verzichtet. Du kannst dir vorstellen, wie enttäuschend dieser Beschluss für deinen Vater war…“

Wir beiden alwischstämmigen Frauen verkniffen uns nun das gehässige Schmunzeln nicht.

„Schatz, du hast sicher schon bemerkt, dass die Leute jetzt ganz wild nach dem Beruhigungstee geworden sind. Kein Wunder, bei solchen Neuigkeiten. Also gibt es für uns heute einiges zu tun.“

Ich nickte. „Ach, Mama, darf ich mich für heute Nachmittag bei euch zum Essen einladen?“ fragte ich dann.

„Aber sicher! Wunderbar! Wir machen leckere Piragienomelettes für unser Töchterchen!“ freute sich die kleine Alwin.

„Darf ich Vilthon mitbringen?“ wollte ich wissen.

„Was für eine Frage! Gerne doch! Schöne Idee, Tilya, Vilthon kann etwas Gesellschaft gut gebrauchen. Seit ihm Calissa weggelaufen ist, sieht man ihn ja abends kaum noch auf dem Gemeindeplatz. Ständig verkriecht er sich hinter seinen seltsamen Experimenten. Aber wer kümmert sich jetzt eigentlich um Myroon? Oder braucht er keine Fürsorge mehr?“

Auriannah grinste breit, und durchbohrte mich forschend mit ihren Blicken.

„Dem geht es blendend. Er kommt sehr gut ohne meinen Beistand zurecht, Mama.“ gab ich steif zurück. Offensichtlich hatte meine Mutter irgendetwas vollkommen falsch verstanden.

„Na gut, mein Kind, wenn du irgendwann einmal mit mir ein Gespräch unter Frauen führen möchtest, dann sag einfach Bescheid, wenn du soweit bist; ich will dich jetzt weiter drängen…“

Entgeistert folgten meine Augen meiner Mutter, die unbeeindruckt von dem fassungslosen, wütenden Schnaufen ihrer Tochter, milde lächelnd begann, die frischen Rinden zu reinigen und zu schneiden.
 

Ich verzichtete darauf, Auriannah über meine verkrampfte, mittlerweile etwas entgleiste Beziehung zu Myroon, die immer noch keineswegs romantischer Natur war, aufzuklären.

Stattdessen setzte ich aus einem Teil der gereinigten Rindenstücke einige Perkolate an, um aus den gewonnenen Extrakten ergiebige Tinkturen herzustellen.

Bald verströmte der intensive Duft der Rinde jenes vertraute Aroma, das mich auf eine unangenehme Weise an Myroons körperliche Nähe erinnerte; und bald wünschte ich mir nichts sehnlicher, als eine weitere eiskalte, lange Dusche und eine möglichst große Phiole konzentrierten Saponsiskrautsaftes.

Ich begrüßte die gelegentlichen scharfen Kommentare meiner Mutter, die mich stets penibel beim Arbeiten zu kontrollieren pflegte, und die jeden noch so kleinen Fehler mit einem warnenden Zischen quittierte.
 

Früher hatte meine Mutter mich mit ihrer pingeligen, übertrieben genauen Art oft zur Weißglut gebracht, aber inzwischen genoss ich die humorvolle Art, mit der Auriannah mich auf meine Fehler aufmerksam machte und gerade heute kam mir jede Ablenkung gelegen.

Plötzlich wurde die Tür zum Haus der Gesundheit aufgerissen und ein junger Mann kam zu uns herein getaumelt.

Jede Farbe wich aus Auriannahs Gesicht.

Sie konnte kein Blut sehen, und die linke Hand des zu ihr hin wankenden Alwen, triefte fürchterlich aus einer tiefen, hässlichen Wunde, die sich längs über den Daumenballen zog.
 

Geistesgegenwärtig stürmte ich dem Verletzen entgegen und hob seinen blutenden Arm in die Höhe.

„Wie ist das passiert, Xeroon?“ fragte ich den jungen Alwen entsetzt. Grauen erregende Gedanken an meinen Malaren, der sich blutrünstig auf die Dorfbewohner stürzte, schossen mir durch den Kopf.

„Welches Tier hat diese Wunde geschlagen?“

„So ein verdammtes Querkenkneifermännchen hat sich an unser Weibchen rangemacht…“ keuchte Xeroon mit schmerzverzerrtem Gesicht.

„Ich wollte den kleinen Racker wegscheuchen, und schwupp, - hatte ich seine Zangen in der Hand stecken. Verdammter Betoolenkleister!“

Erleichtert atmete ich auf.

Ich wies Xeroon an, sich auf einen Hocker zu setzen und verband die klaffende Wunde an seiner Hand notdürftig mit sauberen Leinentüchern, die wir für gewöhnlich zum Abseihen von diversen Lösungen verwendeten.

Dann bat ich meine erblasste Mutter, der immer noch leicht blümerant zu Mute zu sein schien, Gwenya herbei zu holen, die sich nebenan um drei wunderliche Senioren und ein aufgedrehtes vierjähriges Zwillingspaar kümmerte, während deren Familien mit ihren Arbeiten beschäftigt waren.

„Xeroon, unsere Gwenya bringt dich jetzt zum Dorfarzt, diese Wunde muss unbedingt genäht werden. Hier, nimm das Fläschchen mit dem Antiseptikum mit.“

„Danke, Drachenmädchen.“ hauchte der Alwe matt. „Gwenya begleitet mich also, aha. Dann hat mir der olle Querkenkneifer ja doch einen Gefallen getan, mit seinem schmerzhaften Biss. Wisst ihr, ich glaube, es geht mir jetzt schon viel besser!“

Grinsend legte der lange Xeroon seinen unversehrten Arm um die Schultern der kleinen, bildhübschen dunkelhäutigen Verliekin, die Auriannah eben aus dem Aufenthaltsraum ins Labor gerufen hatte.
 

Auriannah und ich sahen mit offenen Mündern dem ungleichen Paar nach, das leicht wankend das Haus der Gesundheit verließ.

Ich schielte zu meiner Mutter hinüber und wusste sehr genau, welcher Gedanke jetzt in ihrem Kopf herum spukte.

Und tatsächlich, schon seufzte Auriannah wehmütig und flüsterte: „Ach Schätzchen, wann werde ich endlich dich einmal Arm in Arm mit einem netten Jungen sehen?“

„In nächster Zeit wohl nicht…“ knurrte ich frostig, den Blick wieder starr zur Tür gerichtet, durch die Gwenya gerade noch mit Xeroon verschwunden war, als durch ihre milchigen Glasscheiben auch schon wieder die Umrisse zweier sich auf uns zu bewegender Gestalten zu erkennen waren.
 

Im ersten Augenblick vermutete ich, meine Kollegin und der bedauernswerte Patient seien zurückgekehrt, weil sie noch etwas im Labor vergessen hatten.

Als sich die Tür jedoch öffnete, erkannte ich Ioxannah, eine kleine, blasse Verliekin mit rotblondem Haar und lustigen Sommersprossen, die von ihrem langjährigen Freund Jarom, einem alwischen Fischer, in das Haus der Gesundheit geführt wurde.

Die junge Frau machte einen verwirrten, recht beunruhigten Eindruck, ihre Blicke irrten unsicher im Raum umher, während Jarom ernst und sehr müde hereinschaute.

„Guten Morgen, ihr beiden. Was können wir für euch tun, ist alles in Ordnung?“ erkundigte sich meine Mutter fürsorglich.

„Guten Morgen, Auriannah,…Tilya…äh, ich fürchte, ich benötige noch einmal eine ordentliche Portion von dem Beruhigungstee, den mir der Arzt gestern gegeben hat…Valdor…Bulbar…irgend so eine Rinde war das…“ stammelte Ioxannah nervös.

„Valdrobularrindentee.“ stellte ich fest.

„Ja, genau den meine ich.“ lächelte Ioxannah dankbar und strich sich fahrig ihre widerspenstigen Locken aus der Stirn. „Den brauche ich ganz dringend, sonst weiß ich nicht, wie ich den Tag überstehen soll.“

„Darf ich fragen, ob es einen Grund gibt, der dich glauben lässt, du würdest es ohne den Tee nicht aushalten?“ fragte ich betont nebensächlich, während ich gemächlich den frischen Tee in einen Papierbeutel abwog.

Ich erinnerte mich daran, was Vilthon mir über Ioxannahs vermeintlichen Anfall berichtet hatte und überwand tapfer meine Scheu vor längeren Unterhaltungen.

Ein seltsames Gefühl trieb mich dazu an, mehr über diese mysteriöse Angelegenheit in Erfahrung zu bringen.
 

Jarom antwortete für seine Freundin. „Sie hatte einen fürchterlichen Alptraum, der sie immer noch belastet. Wahrscheinlich hat sie einfach zu vielen Gerüchten über dieses seltsame fremde Tier Gehör geschenkt.“

„Jarom, bitte, mir ist das peinlich…“ jammerte Ioxannah, die sich sichtlich unwohl fühlte.

„Iox, das braucht es nicht. Nur sprechenden Leuten kann geholfen werden. Alte Menschenweisheit.“ versuchte ich die Verliekin aufzumuntern und nickte Jarom auffordernd zu.

„Ich bin von ihrem Schrei aufgewacht.“ sprach der Alwe plötzlich leise, mehr zu sich selbst. „Und da lag meine Iox neben mir im Bett, stocksteif, mit geballten Fäusten. Ihre Augen zwinkerten unentwegt. So als wären winzige Fremdkörper in sie eingedrungen, die Iox wieder heraus blinzeln wollte. Hinter ihren Pupillen schien es rötlich zu flackern. Vielleicht habe ich mir dies aber auch nur eingebildet, schließlich reflektieren die verliekischen Irisringe das Mondlicht oft in einer verwirrenden Art und Weise. Ich habe Iox gepackt und sie an den Schultern gerüttelt, aber sie hat nicht reagiert. Ich glaube, sie war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht richtig wach.“

Ich drückte Jarom die inzwischen abgefasste Teemischung in die Hand, wandte mich der Verliekin zu, ergriff sanft ihre Hände und sah ihr tief in die Augen.

„Ich weiß, es ist viel verlangt, und vielleicht kommt dir diese Frage sehr unverschämt vor, Ioxannah. Aber meinst du, du könntest mir verraten, wovon du geträumt hast?“ bat ich sie eindringlich.

„Was tut das schon zur Sache?“ verlangte Jarom zu wissen. „Darüber zu sprechen würde Iox doch nur noch mehr aufwühlen. Sie muss sich erholen. Ihr Talent ist in letzter Zeit ohnehin etwas angeschlagen.“

Ioxannah atmete tief durch.

„Ist schon in Ordnung, Liebling. Wir sind hier schließlich im Haus der Gesundheit. Wenn ich mich nicht einmal vor einer Person wie Tilya über meine Alpträume zu reden getraue, vor wem dann? Es würde mich vielleicht sogar erleichtern, wenn ich diese furchtbare Erfahrung mit jemandem teilen könnte.“

Vertrauensvoll wandte sich Ioxannah mir wieder zu.
 

„Es begann also damit, dass ich im Traum von einem Schwarm Riesenmoskitos verfolgt wurde. Ich hatte Angst und lief so schnell mich meine Füße trugen über die Felder. Mit einem Mal wurde es stockfinster und die Welt um mich verzerrte sich. Es war so seltsam…Plötzlich war mir, als läge ich in unserem Schlafraum und wäre gerade im Begriff, aufzuwachen. Kennst du dieses komische Gefühl?“

Ich nickte verständig.

Natürlich kannte ich dieses Gefühl.

Nur spielte mir meistens mein Malar einen bösen Streich damit, indem er mich in der Annahme ließ, mich wieder in der sicheren Realität zu wiegen, nur, um dann ein weiteres Mal unerwartet über mich her fallen zu können.

Ioxannah befeuchtete nervös ihre Lippen mit der Zunge, bevor sie weiter sprach.

„Und dann schob sich blitzschnell eine schreckliche Fratze vor mein Blickfeld.“

Die junge Verliekin verstummte und schloss kurz ihre hellgrünen Augen.

„Bitte, haltet mich nicht für verrückt, aber ich war mir in diesem Moment sicher, einen fremden Malar neben unserem Bett stehen zu sehen. Seine abscheulichen Augen starrten mich an, und da war etwas in seinem Blick, was mir eine unglaubliche Angst eingejagt hat. Ich habe geschrien.“

Ich schlug unwillkürlich die Hände vor den Mund.
 

Was hatte das nur zu bedeuten? „Und was geschah dann?“

Ioxannah zupfte gedankenverloren an ihren rotgoldenen Locken.

„Dann wurde es wieder stockfinster um mich herum und ich fand mich einige Augenblicke später in meinem Traum auf den Feldern wieder. Der Moskitoschwarm löste sich gerade in einer scharlachroten Rauchwolke auf. Als sich die Luft klärte, erkannte ich meinen Malaren, der zusammen mit meinem Totem auf einem hohen Hügel stand. Doch sie kämpften nicht miteinander, nein, sie schauten nur wie gebannt zum Himmel empor. Als ich ihren Blicken folgte, sah auch ich diese fremdartige dunkelrote Wolke, die mit einer irrsinnigen Geschwindigkeit auf die beiden zugewälzt kam. Als sie den Hügel erreichte, schien ein Wirbelwind ihre Rauchpartikel auf die Erde zu ziehen, und aus dem Sog trat ein fremder Malar, und zwar derselbe, den ich kurz zuvor über unserem Bett gesehen hatte.“

„Wie bitte?!“ rief ich ungehalten.

Konnte es denn möglich sein?

Jarom trat hinter seine Freundin und bedachte mich mit einem entrüsteten Blick. Verschämt suchte Ioxannah Halt an seinem starken Arm.

„Nein, nein!“ beeilte ich mich zu erklären, die ich mir jetzt vorstellen konnte, welchen falschen Eindruck meine heftige Reaktion auf Ioxannahs Bericht hinterlassen haben musste. „Ich wollte damit keine Geringschätzung ausdrücken, Iox! Das stünde doch gerade mir am allerwenigsten zu, oder?“

Skeptisch betrachtete Ioxannah mich von oben bis unten und fragte sich wohl gerade, ob sie meinen Worten Glauben schenken sollte oder ob sie in ihrer naiven Offenheit mir gegenüber nicht doch zu viel von sich preisgegeben hatte.

„Mich hat nur die gespenstische Eigenartigkeit deines Traumes schockiert.“ fügte ich ernst hinzu.

Das vergrämte Gesicht der Verliekin entspannte sich.

„Schon gut, Tilya. Aber wenn du mich jetzt tatsächlich noch nicht für übergeschnappt hältst, wirst du es gleich tun, wenn du hörst, wie der Traum endete.“

Ich schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht!“

„Das brauchst du ihr doch nicht zu erzählen, Liebling.“ raunte Jarom seiner Freundin zu, aber mein ehrlicher, aufrichtig interessierter Blick überzeugte Ioxannah anscheinend und leise vertraute sie mir und Auriannah den Rest der Geschichte an.
 

„Der fremde Malar sprach zuerst ganz gesittet mit meinem Malaren, dann aber sprang er ganz plötzlich auf das Totem zu, welches die ganze Zeit über friedfertig neben den beiden Ungeheuern ausgeharrt hatte. Doch mein Malar riss den Fremden von ihm zurück, ungestüm brüllten sie einander an. Dann rief mein Malar dem Totem etwas zu, in einer fremd klingenden Sprache, worauf es den Eindringling endlich mit seinem Talent attackierte. Während die beiden miteinander kämpften, rannte mein Malar den Hügel hinab, durch die Felder, auf mich zu. Ich hatte keine Angst. Er kam immer näher, wurde aber dabei immer langsamer und schwerfälliger. Bei seinen letzten Schritten zu mir hin zitterten seine Beine wie die einer neugeborenen Zaronne und er keuchte ganz schrecklich, als quälten ihn heftige Schmerzen. Ich hatte Mitleid mit ihm. Als er mir gegenüber stand, sah ich hinter seinen Schultern, wie der fremde Malar auf dem Hügel sich unter den Angriffen meines Totems in rotem Rauch auflöste. Mein Malar versicherte mir, ich bräuchte mir keine Sorgen machen, denn er würde sich schon darum kümmern, dass mir und meinem Totem niemals etwas zustieße. Er fasste mich bei den Schultern, sah mir in die Augen und meinte, ich sollte jetzt besser aufwachen, bevor doch noch ein Unglück geschähe. Ich sah noch eine rote Wolke auf uns zurasen, dann wachte ich tatsächlich auf.“

Ich hatte mit angehaltenem Atem zugehört.

Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.

Mein Malar konnte also offensichtlich in fremde Träume einbrechen.

Was hatte er nur für Pläne?

Ich schüttelte mich, schluckte schwer und fragte Ioxannah dann mit belegter Stimme, ob sie irgendetwas von dem Gespräch der beiden Malare verstanden hatte.

Ioxannah verneinte zunächst. „Die zwei standen ziemlich weit entfernt von mir. Erst als die beiden sich lautstark zu streiten anfingen, konnte ich einige Worte aufschnappen. Mein Malar hat den Fremden als entartet und vollkommen wahnsinnig bezeichnet. Er würde gar nicht daran denken, es ihm nachzutun und mein Totem auszulöschen, brüllte er. Kein Malar würde leichtfertig seine Jagdgründe verlassen oder gar sein Revier mit einem Rivalen teilen.“

Ioxannah lächelte mich unsicher an. „Und? Du bist die Expertin für schlimme Träume, heißt es doch. Sind dir schon jemals gleich zwei leibhaftige Malare auf einmal begegnet, Tilya?“

Ich schüttelte grinsend den Kopf. „Das vielleicht nicht, Iox. Aber meine Träume sind dennoch kaum an Obskurität zu überbieten, so dass ich häufig an meinem Verstand zweifeln musste. Ich bin mir sicher, Ioxannah, dass in der letzten Nacht der Kreislauf der Macht wieder geschlossen wurde, und dein Totem schon bald wieder seine volle Kraft ausüben kann. Glaub mir, deine schwache Phase geht jetzt ganz schnell wieder vorüber, wenn du nur optimistisch und beherzt bleibst. “

„Meinst du?“ fragte Ioxannah mich hoffnungsvoll.

„Ja.“ antwortete ich aufrichtig überzeugt.

Zwar hatte mich die Geschichte, die sie uns gerade erzählt hatte, nur noch mehr verwirrt, aber zumindest in dieser Hinsicht war ich mir sicher.

Ich verschwieg Ioxannah aber meine dunkle Ahnung, dass der übliche zyklische Wechsel der Machtverhältnisse zwischen dem Malar und dem Totem dieses Mal nicht natürlichen Ursprungs war, sondern deshalb hervorgerufen wurde, weil Ioxannahs Malar gegen die größenwahnsinnigen Revolutionspläne eines unverhofften Kontrahenten verhindern musste.

Wobei es sich um niemand geringeren als meinen gestörten, gemeingefährlichen Malaren handelte.
 

Bei Ioxannah war er gestern also gescheitert.

Aber würde er es erneut bei ihr versuchen?

Oder hatte er nun vor, in den Träumen anderer Alwen, Alverlieken und Verlieken einzubrechen, bis er irgendwann auf einen Malar der gleichen abnormen Gesinnung stoßen würde?
 

Ich wagte nicht, mir auszumalen, was geschähe, wenn weitere Malare auf freien Fuß kämen, die gemeinsam ein Totem nach dem anderen mordeten, bis jede alwische und verliekische Begabung irgendwann zu einer verstaubten Erinnerung verblassen würden.

Oder schmiedete mein Malar bereits ganz andere Pläne?

Ioxannah umarmte mich herzlich.

„Danke für das Zuhören und den Zuspruch, Tilya.“ flüsterte sie. „Es hat mir gut getan, mir dieses erschreckende Erlebnis von der Seele zu reden. Beinahe hätte ich geglaubt, du würdest mich auslachen.“

„Würde ich niemals tun, Iox.“ erwiderte ich etwas abwesend, mit den Gedanken immer noch bei meinem Malar.

„So, wir machen uns jetzt auf den Weg zur Arbeit.“ verkündete Jarom. „Wir danken euch für den Tee und für die Zeit, die ihr euch für uns genommen habt.“

„Natürlich, Jarom.“ antwortete meine Mutter unsicher. „Aber sollte sich Ioxannah nicht lieber noch etwas schonen?“

„Nicht doch, etwas Ablenkung ist jetzt genau das Richtige für mich.“ antwortete die Alverliekin lächelnd für ihren Freund.

Die beiden verabschiedeten sich freundlich, bevor sie sichtlich erleichtert das Haus der Gesundheit verließen.
 

Als sich die Tür hinter dem jungen Paar schloss, strahlte Auriannah mich voller Stolz an.

„Das hast du schön hingekriegt, Tilya. Du hast anscheinend genau die richtigen Worte gefunden, um die beiden zu beruhigen. Ich weiß wirklich nicht, ob mir das so ohne weiteres gelungen wäre.“

„Meinst du, Mama?“ fragte ich sie zweifelnd.

„Aber sicher, Schätzchen. Abgesehen davon, dass du dir merken solltest, dass der Ton die Musik macht, warst du sehr einfühlsam und hast Ioxannah ganz wunderbar Mut zugesprochen und ihr die Furcht genommen. Genau das ist es, was sie jetzt gebraucht hat. Aber wie geht es dir eigentlich, Tilya? Bereitet dein eigener Malar dir im Moment auch größeren Kummer als sonst?“

Mein Magen krampfte sich unangenehm zusammen.

„Mama, lass uns doch heute Mittag darüber reden.“ bat ich meine Mutter.

„Aber Vilthon kommt doch auch zum Essen, oder nicht?“ fragte Auriannah erstaunt.

„Na und? Ich habe doch keine Geheimnisse vor ihm.“ entgegnete ich grinsend.

Tilyas Mutter stutzte. „Du vertraust Vilthon völlig, habe ich Recht?“

Ich nickte stumm. Ich war so froh, dass ich ihn hatte. Ohne ihn hätte ich schon so manches Mal nicht mehr weiter gewusst.

„Ihr steht euch also sehr nahe. Weiß er besser über deine Sorgen und Ängste Bescheid als wir?“ fragte Auriannah mit einem gekränkten Unterton in ihrer Stimme.

„Mama, die Bande unter Familienmitgliedern sind eben etwas anders gestrickt als liebevolle Beziehungen zwischen Personen, die nicht dasselbe Blut verbindet.“ versuchte ich meiner Mutter zu erklären. „Vilthon kann ich alles erzählen, ohne Angst haben zu müssen, seinen Erwartungen nicht gerecht zu werden oder ihn zu enttäuschen. Und er setzt ganz andere Prioritäten als ihr, wenn er mir Ratschläge gibt. Verstehst du, was ich meine?“
 

Auriannah seufzte. „Ja, Liebes, ungefähr. Damals ging es mir ja ähnlich mit meinen Eltern und deinem Vater. Beide Seiten wollten immer nur das Beste für mich, und doch waren ihre Meinungen, was dies betraf, vollkommen unterschiedlich. Meine Eltern rieten mir anfänglich davon ab, einen Verlieken zu heiraten, weil sie wussten, dass unsere Kinder viele Probleme mit in die Wiege gelegt bekommen würden, und vor allem niemals selbst das Glück erfahren dürften, eigene Kinder zu bekommen.“

Ich lächelte bitter.

Mit diesem Schicksal mussten sich alle Alverlieken wohl oder übel abfinden.

„Aber dein Vater, Liebes, kämpfte um mich und gegen die Bedenken meiner Eltern. Er wollte unbedingt mit mir zusammen sein und eine Familie mit mir gründen, obwohl er wusste, welche Schwierigkeiten alverliekische Paare oft mit ihren Kindern durchzustehen hatten. Außerdem entwickeln sich häufig Spannungen in gemischten Ehen, jeder kennt schließlich die vielen feinen Eigenarten der beiden Völker, die unser Zusammenleben so abwechslungsreich gestalten. Chareleo aber war fest davon überzeugt, dass wir gemeinsam alles schaffen könnten. Und nun kann jeder das Ergebnis unserer Liebe und unseren Mutes bestaunen, denn wir haben zusammen ein wunderbares, außergewöhnliches Kind großgezogen, auf das wir sehr stolz sein können.“

„Warum solltet ihr denn stolz auf mich sein?“ fragte ich, ernsthaft an einer Antwort interessiert.

„Schatz, ich weiß, dein Vater macht oft ungeschickte, taktlose Bemerkungen über deine fehlende Begabung. Aber du ahnst nicht, wie oft er mir gesagt hat, wie sehr ihn deine Zielstrebigkeit beeindruckt, mit der du deinen Zukunftsplänen nachgehst, und wie sehr er deinen Fleiß bewundert, den du damals bei der Lehre unter Vilthon unter Beweis gestellt hast.“

„Stimmt das wirklich, Mama?“ fragte ich ungläubig.

„Glaube mir, Tilya. Nicht nur deine Familie, auch die Dorfgemeinschaft schätzt dich für deine Hilfsbereitschaft und deine Hartnäckigkeit, verlorenes Talent hin oder her. Dein Wesen ist es doch, was letzten Endes wirklich zählt, und ich finde, dass deine Eltern mit deiner Erziehung doch ganze Arbeit geleistet haben.“
 

Mir traten Tränen der Rührung in die Augen, und ich nahm meine Mutter in den Arm und drückte sie fest.

„Tut gut, zu wissen, dass ihr beide hinter mir steht.“ flüsterte ich meiner Mutter ins spitze Alwenohr.
 


 

Es duftete nach deftigen Piragienomelettes, als Chareleo gut gelaunt nach Hause kam und erst von seiner Frau und dann von seiner Tochter begrüßt wurde.

Ich fiel meinem Vater überschwänglich um den Hals, und die herzliche Umarmung tat uns beiden wohl.

„Hallo, mein Schätzchen! Schön, dass du mal wieder hier bei uns bist, wir hatten Sehnsucht nach dir. Wie geht es dir, was macht die Ausbildung?“

Bevor ich mich um eine Antwort drücken konnte, fiel meinem Vater der dicke Schal auf, den ich trug, und gab ihm Gelegenheit, sich wieder einmal über meinen unangemessenen Kleidungsstil auszulassen.

Ich grinste innerlich, während ich die Vorhaltungen meines Vaters über mich ergehen lies.

Auriannah rügte ihren Mann. „Schatz, jetzt ist unsere Tochter endlich mal wieder hier, und du hast nichts Besseres zu tun, als über ihre Kleidung zu schimpfen?“

„Aber das sieht doch entsetzlich aus, das Kind zieht sich ja an wie deine Mutter!“ brüskierte sich mein Vater.

„Chareleo!“ rief Auriannah empört, und der Verliek blinzelte mich amüsiert aus den Augenwinkeln an.
 

„Ich habe Myroon in der Zwirnstube gesehen, Tilya.“ lenkte er geschickt das Thema in eine andere Richtung.

„Er macht ja schon wieder einen kerngesunden Eindruck, so wie er da mit den Mädchen herum gescherzt hat. So schlimm scheint es ihn also nicht getroffen zu haben. Glück hat er gehabt, nicht wahr? Aber ich würde zu gerne Jagd auf dieses seltsame Tier machen, von dem er gebissen wurde. Schließlich könnte es kleinen Kindern irgendwann gefährlich werden. Man munkelt, die Menschen hätten dieses Vieh heimlich auf die Insel gebracht.“

Ich verschluckte mich an meinem Honigfruchtnektar und hustete furchtbar.

Gab es an diesem Tag für die Leute denn keine anderen Gesprächsthemen als Myroon und dieses Tier, welches eigentlich mein Malar war?

Mein Vater klopfte mir besorgt auf den Rücken. „Alles in Ordnung, Töchterchen? Mir fällt gerade auf, wie blass du heute wieder bist.“

„Ja, Papa, das wurde mir jetzt schon öfter gesagt!“ krächzte ich röchelnd.

„Du solltest wirklich noch einmal versuchen, gelegentlich etwas Fleisch zu verzehren, Kind.“ schlug Chareleo vor.

„Vertrage ich nicht, und damit basta!“ motzte ich genervt.

Der Verzehr von Fleisch empfahl sich bei den meisten Alverlieken nicht besonders, genauso wie bei ihrem jeweiligen alwischen Elternteil.

„Wo bleibt Vilthon eigentlich?“ ärgerte sich Auriannah. „Die Omeletten sind schon fertig.“
 

Ich nahm mir dies zum Anlass, mich vom gedeckten Tisch zu erheben und aus dem Fenster zu spähen.

Und tatsächlich, da kam er endlich zügigen Schrittes über die Hauptstraße geschlendert.

Erleichtert eilte ich zur Haustür, um meinem Freund zu öffnen.

„Na, Kleines, schon da?“ begrüßte Vilthon mich fröhlich und tippte mir auf die Nasenspitze.

„Schon da ist gut, wir warten nur auf dich! Mama schwingt schon den Kochlöffel, denn die Omelette werden kalt.“

Grinsend schob sich Vilthon an mir vorbei durch den Flur, um erst Auriannah, dann Chareleo herzlich zu begrüßen.

Dann ließen wir vier uns die leckeren Piragieneierkuchen schmecken und plauderten zunächst über belanglose Dinge, bis Vilthon mich ernst über den Tisch hinweg anblickte und mich fragte, ob ich meinen Eltern nicht endlich den wahren Grund unseres Besuches mitteilen wollte.
 

Ich spürte die überraschten Blicke meiner Eltern auf mir.

„Ihr wollt doch nicht etwa heiraten?“ brummte mein Vater unwirsch in die Stille.

Ich sank in mir zusammen und vergrub mein Gesicht in den Armen. „Wie, zum Donnerwetter kommt ihr denn wieder auf so einen…“ begann ich zu fluchen, gab es dann aber auf, meinem Unmut Luft machen zu wollen.

Ich rieb mir die Augen, biss die Zähne zusammen, und versuchte Vilthons hochroten Kopf zu ignorieren, als ich um meine Fassung rang.

„Nein, es handelt sich um etwas weitaus unangenehmeres als um eine Hochzeit. Es geht um meinen Malar.“

Ich sah zu Vilthon hinüber, der mir aufmunternd, aber immer noch in einer ungesunden Farbe glühend, zulächelte.

„Ich will es kurz machen. Mein Malar hat sich aus meinen Träumen befreit. Er existiert jetzt körperlich in dieser Welt. Und bei dem berüchtigten fremden Tier, das vorletzte Nacht in Myroons Baumhaus gewütet hat, handelt es sich wahrhaftig um niemand geringeren als um ihn. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er auch Ioxannah begegnet, insofern er denn nun tatsächlich in fremde Träume einbrechen kann. Nun ist er mit Sicherheit auf der Suche nach neuen Opfern.“
 

Ein unangenehmes Schweigen drückte die Stimmung um den Tisch.

„Das ist jetzt doch ein schlechter Witz.“ versuchte Chareleo die Stille zu unterbrechen. „Nun sagt schon endlich, wann geheiratet werden soll.“

„Gar nicht, mein Freund.“ antwortete ihm Vilthon matt. „Eure Tochter scherzt nicht. Ich habe die Geschichte über das fremde Tier in Umlauf gebracht, um die Bevölkerung vor eventuellen Risiken zu warnen, ohne dabei Tilya den Vorwürfen und dem Misstrauen der Leute auszusetzen. Außerdem fördert die Panik, die die Verbreitung der Wahrheit auslösen würde, die Situation gewiss nicht. Ganz im Gegenteil. Der einzige, der außer uns die wahren Umstände kennt, ist Myroon. Er hat den Malaren gesehen, als er Tilya gebissen hat, ich habe eben noch mit ihm unter vier Augen über die ganze Angelegenheit gesprochen.“ wandte sich der Alwe in seinen letzten Worten mir zu.

Ich benetzte nervös meine Zähne mit der Zunge.

Hoffentlich hatten die beiden Männer keine private Information zu viel ausgetauscht.

Unruhig rutschte ich auf meinem Stuhl hin und her.

Mein Vater blickte starr vor sich auf den Tisch.

„Wie? Du wurdest auch gebissen, Tilya?“ rief meine Mutter erschrocken. „Wo? Wie schlimm ist es? Warum hast du uns das nicht sofort erzählt?“

Ich schwieg.

Dann zog ich wortlos meinen Schal beiseite.

Meine Eltern keuchten entsetzt, als sie die tiefen Narben sahen, die der gewaltige Kiefer auf meiner Haut hinterlassen hatte.

„Das darf nicht wahr sein.“ entfuhr es dem bestürzten Chareleo.

Nur Vilthon gab sich hoch erfreut, als er feststellen konnte, wie fantastisch die Wunde doch verheilt war, bevor meine Eltern ihn mit ihren fassungslosen Blicken aufspießten.

Dann musste der Alwe meinen Eltern schonend beibringen, dass Myroon niemals den Fängen des Malars zum Opfer gefallen war, und aus welchen Gründen ihnen zunächst die wahren Begebenheiten jener Nacht vorenthalten worden waren.
 

„Aber wie konnte das alles nur passieren?“ flüsterte Auriannah bestürzt.

Chareleo vergrub seine Stirn in seinen Händen.

Was sollte ich ihr jetzt antworten?

Ich wusste es doch selbst nicht! Bevor ich meiner Mutter antworten musste, forderte Vilthon mich auf, ihm rasch noch zu erzählen, was es mit Ioxannahs Geschichte auf sich hätte.
 

Ich berichtete dem Alwen ausführlich von dem Traum der Verliekin, in den mein Malar offensichtlich eingedrungen war und erläuterte anschließend meinen Verdacht, dass er versucht haben musste, Ioxannahs Totem in gemeinsamer Arbeit mit ihrem eigenen Malaren zu überwältigen.

„Glücklicherweise scheinen nicht alle Malare so gemeingefährlich zu sein wie meiner, sonst hätte Iox gestern dasselbe durchmachen müssen, wie ich vor zwanzig Jahren.“
 

Auriannah musterte mich, während ich erzählte, mit wachsender Beunruhigung.

Als ich mit meiner Erzählung endete, lehnte sich Vilthon kopfschüttelnd in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände auf der Tischkante.

„Nicht zu fassen. Der Arzt, dem ich die Valdrobularrinde für Ioxannah mitgegeben habe, berichtete mir später, weder irgendwelche Verletzungen noch Symptome einer Krankheit bei dem Mädchen festgestellt zu haben. Wir beide waren überzeugt davon, dass sie einfach von einem besonders bösen Alptraum gepeinigt worden war. Zu diesem Zeitpunkt dachte ich mir noch gar nichts dabei, niemals hätte ich es in Betracht gezogen, dass dein Malar irgendetwas damit zu tun haben könnte, Tilya.“

„Das wächst mir langsam alles über den Kopf.“ stöhnte Chareleo überfordert. „Unglaublich. Unfassbar. Ein Alptraum. Wäre es doch nur einer. Warum habt ihr euch nicht dazu entschlossen, uns zusammen mit all den anderen Insulanern einfach in dem Glauben zu lassen, ein fremdartiges Tier hätte die Insel heimgesucht?“ fragte er mit rauer Stimme.

„Weil ich denke, dass eure Tochter ihren Eltern die Wahrheit erzählen sollte, warum sie nun das Dorf für einige Zeit mit mir verlassen wird.“ antwortete Vilthon sanft und erntete meinen überraschten, aber dankbaren Blick, als ich begriff, was mein bester Freund mit mir vorhatte.
 

„Du willst weg? Wohin denn? Und warum?“ fragte mich Auriannah aufgeregt.

„Wir werden einen Spezialisten aufsuchen, der sich sehr gut mit Malaren auskennen soll und mich beraten könnte. Er ist ein alter Mitlehrling von Vilthon und wohnt im Gebirge am großen Nadelwald. Ihr versteht doch sicher, dass ich nicht einfach untätig hier herum hocken kann, um abzuwarten, was der Malar wohl als Nächstes anrichtet. Ich muss herausfinden, welche Möglichkeiten ich habe, um die Leute vor ihm zu schützen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, es ist meine Pflicht den Insulanern gegenüber. Ich darf den ihn nicht aus den Augen verlieren, und muss versuchen, seine Spuren zu verfolgen und ihm irgendwie auf den Fersen zu bleiben. Deshalb bitte ich euch, mich zu unterstützen und mir während meiner Abwesenheit alle relevanten Informationen über außergewöhnliche Vorkommnisse über die Briefraben zukommen lasst. Tut ihr das für mich?“

Chareleo schüttelte unwillig den Kopf. „Kind, was verlangst du von uns? Unseren Zuspruch und unsere Befürwortung für dieses halsbrecherische Unterfangen? Wir werden dich zwar nicht hier anketten können, aber erwartest du allen Ernstes von uns, dass wir es gutheißen, wenn unser einziges Kind sich ohne Sinn und Verstand einem solchen Risiko aussetzt? Malare stecken voller dunkler Geheimnisse, und wer kann dir mit Sicherheit sagen, was in einer Situation wie dieser zu tun ist? Niemand kann wissen, was dieses Ungeheuer vorhat, was es will, wozu es imstande ist. Und du willst dich einfach planlos über die ganze Insel schlagen, ohne zu wissen, wie du dich gegen dieses Monster verteidigen könntest, wenn es dich erneut angreift? Vilthon, hast du ihr etwa diese Flausen in den Kopf gesetzt?“

„Hat er nicht, Papa.“ verteidigte ich trotzig meinen alwischen Freund. „Ich habe außerdem überhaupt nicht vor, kopflos nach dem Malar zu suchen und mit ihm zu kämpfen, so wie du es gerade darstellst. Zunächst wollen wir einfach nur Greyans Rat einholen. Dieser Mann ist momentan meine einzige Chance, alles über Malare zu erfahren, was es bisher zu wissen gibt. Vielleicht willigt er sogar ein, uns später auf unserer Suche zu begleiten. Außerdem, Papa, glaube ich gar nicht, dass der Malar mir noch weiter schaden will. Er hat mich verlassen, weil ich ihm nicht mehr geben konnte, was er braucht. Ja, dabei hat er mich sehr heftig verletzt, aber hätte er mich wirklich töten wollen, hätte er vorletzte Nacht die Gelegenheit dazu gehabt. Und nicht zuletzt ist zu erwähnen, dass sich Malare von der Angst ernähren, und nicht von Fleisch.“
 

Meine Eltern sahen einander zweifelnd an.

„Vilthon.“ wandte sich Chareleo nun mit gequältem Blick an seinen Freund. „Du hast keine Kinder. Du kannst nicht verstehen, was es für uns bedeutet, unser eigen Fleisch und Blut gehen zu lassen, und nicht zu wissen, ob wir sie wieder sehen werden.“

„Nein, Chareleo, ich kann die wahren Ausmaße der Schwermut, die Tilya mit ihrem Aufbruch bei euch hinterlassen wird, tatsächlich nur erahnen. Aber ich liebe eure Tochter, als wäre sie Teil meiner eigenen Familie, und ich würde sie ebenfalls mit allen Mitteln dazu bewegen wollen, im Hügeldorf zu bleiben, wenn ich nicht genau wüsste, mit welchen Konsequenzen Tilya fertig werden müsste. Ihr kennt eure Tochter. Die Gedanken an den Malaren würden sie niemals loslassen. Jeder Genuss, jede Freude, jeder Spaß, den sie haben könnte, würde ihr von ihrem schlechten Gewissen verdorben werden. Ständig würden sie die grausamen Fragen quälen, wem ihr Malar wohl bisher geschadet hat, und was für Untaten er bloß als nächstes begehen wird. Ich kann eure Besorgnis sehr gut nachvollziehen, meine Freunde. Aber ich bitte euch, entlastet Tilya, wenn sie sich mit mir aufmacht, zumindest von eurem Groll und gebt ihr ein gutes Gefühl mit auf ihre Reise.“
 

Mein Vater schloss die Augen und um seine Mundwinkel zuckte es verräterisch. „Soll ich jetzt bedauern, eine so mutige Tochter zu haben, deren Verantwortungsgefühl größer ist, als ihre Furcht?“ fragte er laut in die Stille hinein und versuchte, tapfer zu lächeln.

Ich sprang vom Stuhl auf und nahm meinen Papa in den Arm.

„Wir können stolz auf dich sein, Kleines.“ flüsterte Chareleo mir zu.

Meine Mama lächelte mit Tränen in den Augen und erhob sich ebenfalls, um uns innig an ihr Herz zu drücken.

„Es wird uns zwar sehr schwer fallen, mein Schatz, aber wir werden dich nicht aufhalten. Wir wollen nicht, dass du irgendwann einmal an deinen Schuldgefühlen zerbrichst. Ich muss gestehen, es ist nicht leicht, zu akzeptieren, dass die einzige Tochter nun ihre eigenen Wege geht. Vor allem, wenn diese Wege unvorhersehbare Gefahren bergen. Denn obwohl du jetzt eine junge Frau bist, die selbstständig ihre Entscheidungen treffen kann, wirst du für immer unser kleines Mädchen bleiben. Wir wollen nur, dass du glücklich wirst, Tilya“

„Mir wäre es wahrscheinlich trotzdem lieber gewesen, wenn ihr uns erklärt hättet, dass ihr heiraten wollt.“ versuchte Chareleo diesen ergreifenden Moment mit seinem verliekischen Humor zu entschärfen, wobei er Vilthon mit einem neckischen Blick bedachte. „Ich bin froh, dass du sie begleitest, alter Freund. Wir wünschen euch viel Glück auf eurer Reise. Pass gut auf unsere Tochter auf.“ Vilthon versprach es fest.
 

Ich löste mich aus den Armen meiner Eltern. Mir war ein Stein vom Herzen gefallen.

„Macht euch keine Sorgen. Es ist ja nicht so, als wollte ich einem Kronennebeldrachen seine Brut stehlen. Ich wollte schon immer mal mit Vilthon über die Insel wandern. Und mit euch bleiben wir im engen Briefkontakt, das verspreche ich. Informiert uns bitte über alle Auffälligkeiten, die euch zu Augen oder zu Ohren kommen. Jeder Tipp kann uns später weiterhelfen. Es wäre mir lieb, wenn ihr solange Myroon im Auge behalten könntet. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass er im Suff über meinen Malaren plaudern würde, aber bei ihm kann man kann sich ja nie wirklich sicher sein. Wann brechen wir auf, Vilthon?“

Mich packte das Reisefieber.

In meinen Gliedern begann es zu kribbeln.

Am liebsten wäre ich sofort los gezogen.

Übermütig nestelte ich an Vilthons Kleidung herum.

„Am besten gleich morgen früh, Mädchen. Je eher wir bei Greyan sind, desto früher können wir uns auf die eigentliche Suche nach dem Malaren machen. Wenn wir Glück haben, stoßen wir auf dem Weg zu ihm auf weitere Spuren oder Hinweise, die uns nützen.“

„Gib gut auf unser Schätzchen Acht, Vilthon!“ bat Auriannah ihn noch, bevor Vilthon und ich uns mit einer letzten, innigen Umarmung, vielen Küsschen und lieben Worten von meinen Eltern verabschiedeten.

Auf dem Weg zu Vilthons Heim ließ ich vorerst ein letztes Mal den Anblick der Wege und der Felder, der Häuser und der vertrauten Gesichter des Hügeldorfes auf mich wirken.

Trotz meines Fernwehs verspürte ich nun jetzt schon ein gewisses Heimweh. Und die furchtbare Ungewissheit machte mir zu schaffen. Was würde nun werden?

Vilthon, der ahnte, was in mir vorging, legte fest seinen Arm um meine Schultern.

„Wir schaffen das, Liebes!“ versprach er mir. „Wir lassen nichts unversucht, egal, wie aussichtslos es scheint. Einverstanden?“

„Einverstanden.“ bestätigte ich dankbar, und schätzte mich sehr glücklich, mit diesem wunderbaren Mann befreundet sein zu dürfen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2009-07-20T09:40:22+00:00 20.07.2009 11:40
ich fand die gespräche und tilyas zerissenheit wundervoll dargestellt!
du lässt den leser einfach richtig nah ans geschenhen dran!
weiter so!

Von: abgemeldet
2009-07-20T09:18:29+00:00 20.07.2009 11:18
das hat super spass zu lesen gemacht.
^^
man bekommt richtig bauchweh und leidet mit tilya mit.
ist ja auch ein dilemma...
schade, dass tilya den schnabelgecko zuhause lässt.
deine viecher sind echt der hammer, die würde ich allesamt gerne mal sehen *kann man flugtickets zur alverliekischen insel buchen? ich bin dabei!*
Von: abgemeldet
2009-07-20T08:56:44+00:00 20.07.2009 10:56
owei, die arme tilya!!!
hab mir passend zum kapitel dein bild mit tilya und myroon als dektophintergrundbild genommen ;)
was für eine beschi..ene situation ... also, das mit dem malar jetzt auch. kann tilya gut verstehen.
sage mal, hast du dir alle tiere der insel selbst einfallen lassen? oder gibts es davon wirklich welche? gibt es auch "normale" tiere dort? und bei den menschen?
über ne ENS würde ich mich freuen!
LG
timi
Von: abgemeldet
2009-07-17T20:46:29+00:00 17.07.2009 22:46
*_*

Oh wie schön! So schön laaaaaang! Und so wahnsinnig toll geschrieben! Ganz besonders im ersten Teil hab ich mit großen Augen vor meinem Laptop gesessen und bin aus dem Staunen nicht mehr rausgekommen.
HAMMER!

Tilyas Konflikt hast du einfach wunderbar dargestellt! Die Ärmste...

Ich finde Coatl total süß ^^ (der Name ist wohl an Quetzacoatl angelehnt?) und ich glaube ich bekomme langsam eine Ahnung wer Thyllos ist...


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