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A Nightfall Tale

von

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Erste Nachricht - Rette die Welt!

Nach langer Zeit lade ich wieder etwas hoch. Diese Geschichte ist etwas ganz Besonderes für mich, und ich hoffe, dass sie irgendjemand liest und vielleicht sogar Gefallen daran findet. Es gibt schon mehr als dieses erste Kapitel, aber ich muss ja nicht gleich alles auf einmal hochladen. ^^ Über Kommentare würde ich mich unglaublich freuen. ^_^

Das hier ist für dich, Katerchen, deine ganz persönliche Geschichte. Ich denke, es ist an der Zeit, sie mit dem Rest der Welt zu teilen, aber sie wird trotzdem immer dir gehören.
 

Es war an einem warmen, leicht bewölkten Spätsommernachmittag um genau 17.53 Uhr, als Nejo den Zettel fand. Jemand hatte ihn einfach unter der Tür seines Hotelzimmers hindurchgeschoben, sodass er noch ein winziges Eckchen von außen erkennen konnte. Andere Menschen, die nicht ihr ganzes Leben lang gelernt hatten, auf jedes noch so unscheinbare Detail zu achten, hätten dieses kleine Stück Papier vermutlich einfach übersehen, erst recht nach einem anstrengenden Arbeitstag. Aber Nejo entging nichts, und so hatte er gleich ein seltsames Gefühl, als er mit seiner Key Card die Tür öffnete und den Zettel aufhob.

„Willst du die Welt retten?“, stand darauf in großen, schwungvollen, fast ein wenig kindlich anmutenden Lettern, und darunter in deutlich kleinerer Krakelschrift: „Erschieß ihn!“ Es war offensichtlich, dass die beiden rätselhaften Zeilen von zwei unterschiedlichen Personen geschrieben worden waren, aber daran dachte Nejo im ersten Augenblick noch gar nicht. Ihm ging nur mehrmals durch den Kopf, dass dies mit großem Abstand der merkwürdigste Auftrag war, den er jemals in seinem ganzen Leben bekommen hatte.

Immer noch auf die rätselhafte Notiz starrend, schlenderte Nejo durch das auf stilvolle Weise altmodisch eingerichtete Hotelzimmer, das seinen momentanen Erstwohnsitz darstellte. Er fühlte sich hier ein bisschen so wie in einem auf Komfort gepimpten Museum – da war eine blassgrüne Tapete mit winzigem Blütenmuster, diverse Möbel im englischen Landhausstil, geschmackvolle Malereien, ein Bad aus Gold und Marmor, dazu der obligatorische frische Blumenschmuck. Das Ganze garniert mit dem Neusten aus der Unterhaltungselektronik, et voilà, fertig war eine Übernachtungsmöglichkeit gehobener Klasse, inklusive eines atemberaubenden Blickes über die Mega-Metropole Illythia. Was wollte man mehr?

Antworten, dachte Nejo, während er sich auf das mit feinen Rosenranken verzierte Sofa fallen ließ. Denn je länger er darüber nachdachte, desto mehr Ungereimtheiten fielen ihm in Punkto Zettel auf. Angefangen mit der Frage aller Fragen, wie um alles in der Welt man ihn hier hatte finden können. Er war erst vor wenigen Tagen in diese Suite im Victoria Square Eastside Hotel eingezogen. Sein Koffer war noch nicht ausgepackt, und obwohl er vorhatte, einige Tage, vielleicht sogar Wochen hier zu verbringen, zweifelte er daran, dass er sein durch und durch anonymes Gepäck – größtenteils schwarze Anzüge, von denen einer aussah wie der andere – noch in den Schrank hängen würde. Wozu auch? Er war eigentlich sogar ziemlich stolz darauf, die Lebensweise aus dem Koffer perfektioniert zu haben.

Alles, was er bei sich trug, waren ebendiese Anzüge, ein Geldbeutel mit einigen nicht registrierten Credits, einem gefälschten Personalausweis und Führerschein auf den Namen Fariq Al-Sayad, eine Toilettentasche mit Zahnbürste und –pasta, Deo, ein paar Parfumproben. Außerdem seinen knielangen schwarzen Lieblingsmantel des Herrenmodelabels Asmodeo, und eine Aktentasche. Diese enthielt einen Haufen langweiliger Unterlagen, die ein Börsen-Yuppie eben so bei sich tragen musste, und ein unglaublich geheimes Geheimfach, selbstverständlich doppelt, drei- und dann noch mal zehnfach gesichert, in dem er seine Silenced Blackbird M-44 aufbewahrte. Weitere Waffen hatte er in diversen Schließfächern deponiert. Dies, und natürlich eine Menge Geld auf diversen geheimen Konten, war alles, was er momentan sein Eigen nannte. Er war zu einem Menschen ohne Identität geworden.

Es war schlicht und ergreifend unmöglich, dass ihn jemand so einfach aufspürte.

Mal abgesehen davon, dass es ja auch gar keinen Sinn hatte, ihn auf jemanden anzusetzen, ohne dessen Namen zu nennen – und natürlich den eigenen, zur Klärung der, nun ja, Zahlungsmodalitäten. Überhaupt war es ganz und gar unüblich, sich in beruflichen Angelegenheiten an ihn persönlich zu wenden. Für gewöhnlich lief das alles über Rashid und seine zahlreichen Untergebenen. Er war schließlich nicht irgendein Freiberufler, er war ein Mitglied und Teil der Sadâqa, und nur in deren Namen und in deren Sinne handelte er. Immerhin war er für Rashid so etwas wie ein Sohn, und als solcher hatte er nun mal eine gewisse Vorbildfunktion.

Aber ohne eine Zielperson war sowieso selbst der schönste Auftrag wertlos, und außerdem, was hatte er denn bitteschön mit der Rettung der Welt zu tun? Zugegeben, manche seiner Geschäftspartner hatten einen starken Hang zum Pathetischen, und laut ihnen ging es dann wirklich bei jedem Fingerzucken um Leben und Tod. Dass sie allerdings gleich den Weltuntergang von Nejos Erfolg oder Scheitern (was selbstverständlich niemals vorkam!) abhängig machten, nein, das hatte selbst er noch nicht erlebt. Das klang eher nach irgendeiner Sektengeschichte, aber religiöse Fanatiker gehörten wiederum so gar nicht zu seinem üblichen Klientel. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, es war und blieb alles vollkommen widersinnig.

Eigentlich war die einzig logische Erklärung für die Existenz dieses merkwürdigen Zettels, dass ihm hier irgendjemand, den er kannte, einen Streich spielen wollte. Aber ihm fiel kein Mensch – oder besser gesagt keine Menschen, wie er sich mit einem Blick auf die völlig unterschiedlichen Schriftbilder wieder in Erinnerung rief – ein, dem oder denen er einen solch kryptischen Scherz zutraute. Und warum auch? Was hätte derjenige davon? Falls Nejo jetzt, beim Lesen des Zettels, ein dummes Gesicht machte, konnte das doch sowieso niemand sehen. Außerdem spürte er aus irgendeinem Grund, dass es sich hier nicht nur um einen schlechten Witz handelte. Wer auch immer ihm diese Nachricht hatte zukommen lassen, hatte es auch verdammt noch mal so gemeint!

Diese Erkenntnis erklärte nur leider überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil. Wenn die Nachricht für ihn bestimmt war – und die Möglichkeit, dass irgendjemand etwas vom Erschießen auf ein Papier kritzelte und dann rein zufällig ausgerechnet unter seiner Hotelzimmertür durchschob, zog er gar nicht erst in Erwägung –, dann war er wieder bei dem Punkt angelangt, dass niemand von seinem Aufenthalt hier wissen konnte, und von da an kam er nicht mehr weiter. Er verstand nur, dass er in diesem Fall schleunigst in einer Nacht- und Nebelaktion die Quartiere abbrechen und weiterziehen musste, bevor ihm dieser Unbekannte, der zuviel wusste, noch ernsthaft gefährlich werden konnte.

Nejo seufzte lautlos, als ihm der Zettel einfach so aus den Fingern glitt. Er wollte ihn aufheben, doch es gelang ihm erst auf den zweiten Versuch. Auch das noch! Es war jetzt schon der dritte oder vierte Abend in den letzten zwei Wochen, an dem sich seine schlechte Seite nach der Arbeit so überaus störend bemerkbar machte, und das gefiel ihm nicht. Während eines Auftrages war es ihm glücklicherweise noch nie passiert, dass ihn sein – wie er es nannte – Handicap ernsthaft behindert hätte, das erlaubte er sich auch gar nicht. Aber er wurde den Verdacht nicht los, dass seine tollen neuen Medikamente nicht mehr ganz so brillant wirkten, wie sie am Anfang getan hatten.

Mit leichtem Widerwillen erhob er sich von dem Sofa, dessen wohlige Weichheit gerade ganz bestimmt nicht das Richtige für seinen Rücken war, und machte sich auf den Weg in Richtung Schlafzimmer. Diese Nacht würde er auf jeden Fall noch hier verbringen. Und wenn ihn jemand besuchen kommen wollte, bitteschön, er rechnete stets mit Überraschungsgästen und würde ihnen mit Sicherheit den besten Empfang ihres ganzen Lebens bescheren – nur eben leider auch den letzten.

Er warf einen kurzen Blick in den goldgerahmten Spiegel, der neben dem großen, ausladenden Kleiderschrank an der Wand hing, und stellte fest, dass er nicht halb so erschöpft aussah, wie er sich fühlte. Das war der Vorteil seiner Hautfarbe, die er für gewöhnlich mit dem Wort „angedunkelt“ beschrieb, weil Ausdrücke wie „milchkaffeefarben“, die er tatsächlich schon von anderen Menschen gehört hatte, nicht einmal in seinem gedanklichen Wortschatz vorkamen. Nejo war eine durchaus interessante Mischung aus den Genen seines syrischen Vaters und seiner nordamerikanischen Mutter, komplett mit schwarzen Mandelaugen und noch viel schwärzeren Haaren, die ihm zu einem losen Pferdeschwanz zusammengebunden auf den Rücken fielen. Er wusste, dass es in seinem Beruf durchaus von Vorteil war, gut auszusehen, und darauf achtete er auch. Dass er mit schwarzem Anzug und schwarzem Mantel und gelegentlich auch noch mit schwarzem Hut schon sehr wie der typische Klischeemafioso daherkam, fand er persönlich ziemlich amüsant.

Dumm nur, dass er sich gerade etwa sechzig Jahre älter fühlte, als ihm sein Spiegelbild weismachen wollte. Es war ja nicht mal das Problem, dass er beim Gehen leicht humpelte – das tat er so gut wie immer, daran hatte er sich gewöhnt, und es war manchmal sogar sehr praktisch, dass man ihn deshalb leicht unterschätzte. Aber irgendetwas… irgendetwas stimmte einfach nicht. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, dass es dabei nicht nur um seinen körperlichen Zustand ging. Seine Instinkte waren quasi seine Lebensversicherung, sein eingebautes Frühwarnsystem, auf das er sich stets verlassen konnte. Und gerade spürte er in jeder Faser seines Körpers, dass etwas passieren würde – nicht unbedingt etwas Schlechtes, aber auf jeden Fall etwas Großes.

Er wollte diesen Gedanken gerade mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchen, als er sah, dass unter seinem Kopfkissen ein zweiter Zettel steckte.
 

„Gute Reise, Vincent!“, waren die letzten Worte, die er hörte, bevor es dunkel wurde. Sie waren auch das einzige, woran er sich erinnerte, als er die Augen wieder aufschlug und von überwältigender Helligkeit geblendet wurde. Er verstand sie nicht, er verstand eigentlich überhaupt nichts mehr. Nicht, wo er war, nicht, wer er war, nicht, warum er all das nicht wusste. Alles, was er hatte, war dieser eine Name – sein Name? Auch da war er sich nicht sicher. Aber er spürte eine leise Vertrautheit, wenn er ihn vor seinem inneren Ohr dahinsagte, also beschloss er, diesen letzten gedanklichen Besitz nicht wieder herzugeben. Er war also Vincent und jemand hatte ihm eine gute Reise gewünscht. Nur wer – und wohin?

Er wollte sich umsehen, aber das Bild vor seinen Augen blieb verschwommen. Warum war es nur so unglaublich hell hier? Er blinzelte etliche Male, und endlich konnte er wieder etwas erkennen, noch ein wenig trüb zwar, aber doch erfreulich detailliert. Im ersten Moment war er überzeugt davon, in einen Spiegel zu blicken, und studierte eingehend sein eigenes Abbild, das ihm vollkommen fremd geworden war. Erst zahlreiche Wimpernschläge später verstand er, dass auch das nur eine Illusion gewesen war.

Das Gesicht ihm gegenüber war nicht sein eigenes. Vincent hatte es nur geglaubt, weil in den Augen des Mannes mit den schulterlangen braunen Haaren und der dunklen Haut dasselbe hilflose Unverständnis geschrieben stand, das er in seinem Inneren fühlte. Aber dann fiel ihm auf, dass sich dieses Gegenüber weitaus mehr bewegte, als er selbst es tat, sich letztlich sogar aufrichtete und panisch um sich blickte, während er immer noch auf dem warmen Steinboden liegen blieb. Ein trockenes Husten kroch ihm die Kehle hinauf und er spürte, wie seine Augen zu tränen begannen. Die Wärme, die ihm nach dem Erwachen noch angenehm erschienen war, brachte seine Haut mehr und mehr zum Schmerzen. Als Vincent endlich die Kraft dazu fand, den Kopf zu heben und sich umzusehen, erkannte er auch schnell, woran das lag.

Die Welt um ihn herum stand in Flammen. Zwar befand er selbst sich auf einem steinernen Platz, der natürlich nicht brennen konnte, der ihm aber auch nur im ersten Augenblick als sicher erschien; im zweiten begriff er, dass es ein Gefängnis war. Ein enger Ring aus Fachwerkhäusern umschloss ihn, und diese Häuser wurden von brüllenden Feuern verschlungen und zerrissen. Überall stürzten brennende Trümmer auf den Kopfstein und explodierten in gleißendem Funkenregen. Die zerfallende Stadt atmete dicken, schweren Qualm aus, der die Nacht schwarz werden ließ und der in den Lungen schmerzte wie Glassplitter. Aber all das war noch nicht einmal annähernd das Schlimmste an der höllischen Szenerie.

Was Vincent trotz der erdrückenden Hitze schaudern ließ, waren die Schreie der Menschen, die in Panik über den Marktplatz rannten. Einige brannten, kreischend, zuckend, wie lebendige Fackeln, andere versuchten, zu fliehen – größtenteils jedoch vergeblich. Große, schwarze Gestalten verfolgten sie, die im hysterischen Flackern der Feuermassen zu formlosen Teerklumpen zerflossen, unmenschlich, dämonisch. Aber woher wollte er auch wissen, dass es nicht wirklich Monster waren, die in dieser brennenden Hölle umhergingen, um alles Lebendige in Stücke zu reißen? Vielleicht konnte er sich ja nur deshalb an nichts mehr erinnern, weil er eigentlich schon gestorben war, und dies war die grauenhafte Unterwelt, in der fortan, bis in alle Ewigkeiten leiden musste.

Vincent hatte diesen Gedanken kaum zuende gedacht, als sich eine leise, aber energische Stimme in seinem Kopf zu Wort meldete. Nein, entgegnete diese Stimme mit Nachdruck, eine Hölle gibt es nicht. Du glaubst nicht an so einen Unsinn, und nur, weil du gerade irgendwo zwischen brennenden Häusern und sterbenden Menschen liegst und nicht weißt, wie um alles in der Welt du hier hergekommen bist, wirst du gefälligst nicht deinen logischen Verstand gleich mit abfackeln! Und, so seltsam es war, diese Stimme beruhigte ihn. In all seiner Unwissenheit, seiner inneren Verlorenheit, war sie etwas Vertrautes, etwas ihm Ureigenes, etwas, das weder Tod noch Teufel noch sämtliche Feuer der Hölle verstummen lassen konnten. Sie war ein winziger, tröstlicher Funken Erinnerung an das, was er einmal gewesen war.

Dieser Trost hielt genau so lange an, bis Vincent zum ersten Mal den Dämon sah.

Er ritt auf einem pechschwarzen Pferd, das sich wiehernd und schnaubend gegen den Nachthimmel aufbäumte. Seine Hufe wurden eins mit den bleiernen Wolken, nur um danach mit einer solchen Gewalt auf dem rot befleckten Stein des Platzes aufzuschlagen, dass dieser erzitterte. Der Dämon selbst war in eine dunkle Rüstung gehüllt, und die Feuerhitze verwandelte seinen Umhang und sein langes schwarzes Haar in lebendige Schatten. Sein schneeweißes Gesicht war befleckt vom Blut der zahllosen Menschen, die durch seine Klinge ein gnadenloses Ende gefunden hatten. Mit eiskalten, tödlichen Augen starrte er auf die hilflose Kreatur hinab, die weit unter ihm auf dem Boden lag.

Genau in dieser Sekunde, als der Blick des Dämons Vincents Gesicht traf, begriff dieser, dass der schwarze Reiter ihn umbringen würde. Er war aus dem Inferno gekommen, um alles und jeden zu vernichten, und jetzt war er direkt über ihm, die wirbelnden Hufe seines monströsen Pferdes, der blutige Stahl seines Schwertes, seine furchtbaren, dunklen Augen, in denen kein Hauch von Menschlichkeit zu erkennen war. Wieder hoben sich die Vorderbeine des teuflischen Schlachtrosses, und dieser Moment war sicherlich der letzte, in dem Vincent noch hätte fliehen können. Können? Das war zuviel gesagt. Er war wie gelähmt, seine schmerzende Haut längst geschmolzen und mit dem glühenden Stein des Platzes zu einer stinkenden Masse verklebt, die ihn erbarmungslos am Boden festhielt. Dies war sein Ende, das er niemals verstehen würde. Nur ein sinnloser, grausamer Tod von vielen in dieser brennenden Nacht.

Dann packte ihn plötzlich eine Hand am Arm und riss ihn zur Seite. Die Hufe des schwarzen Pferdes schlugen nur wenige Zentimeter neben seinem Körper auf dem Kopfsteinpflaster auf, genau dort, wo vor wenigen Sekunden noch sein Kopf gelegen hatte. Bei dieser Vorstellung wurde ihm übel, doch noch bevor ihm wieder schwarz vor Augen werden konnte, wurde er brutal auf die Beine gerissen und weggezogen. Von wem? Er konnte es nicht erkennen, weil seine Augen immer noch tränten; vermutlich von dem Qualm der in Flammen stehenden Häuser. Ein scharfes Geräusch zerschnitt die drückende Luft und das Brüllen der Feuermassen. Die Klinge des Dämons? Er dachte keine Sekunde lang ernsthaft darüber nach, sich umzudrehen und es herauszufinden. Dass sein linker Oberarm von einem schneidenden Schmerz durchzuckte wurde, bemerkte er nur am Rande.

In diesen wenigen Sekundenbruchteilen, die für Vincent zu einer Ewigkeit zerflossen, waren nur noch zwei Dinge real: Die Tatsache, dass er noch am Leben war. Und die Erkenntnis, dass sein unbekannter Retter ihn geradewegs in Richtung der Flammenwand zerrte. Diese zweite Wahrheit ließ seinen Verstand in einem Sumpf aus Panik versinken. Seine Instinkte schrien danach, sich loszureißen, doch ihm fehlte die Kraft dazu. Sein Körper war wie tot, während sein Geist hellwach war und er seine Umgebung in absurdem Detailreichtum wahrnahm. Er sah jetzt, dass nicht nur die Häuser und einige herabgefallene Trümmer brannten, sondern dass der Marktplatz tatsächlich in eine perfide Falle verwandelt worden war.

In jeder einzelnen Gasse, die als Fluchtweg hätte dienen können, waren Holzstapel aufgetürmt und angezündet worden. Die schwarzen Todbringer hatten die gesamte Stadtbevölkerung zusammengetrieben, um ein Schlachtfest zu zelebrieren, aus dem es kein Entrinnen gab. Wer doch zu fliehen versuchte, endete selbst als Feuerball oder in der Klinge eines Kriegers, die sich zu beiden Seiten der Scheiterhaufen postiert hatten. Die einzig denkbare Rettung war ein Sprung in die Freiheit, weit und schnell genug und exakt im richtigen Augenblick, wenn sämtliche dämonischen Wächter mit dem Töten anderer Opfer beschäftigt waren. Aber wie sollte er einen solchen Satz zustande bringen, wenn ihn seine Beine jetzt schon kaum mehr trugen? Wie sollte er den präzisen Hieben der schwarzen Schlächter ausweichen, wo seine Kraft doch gerade dazu ausreichte, vorwärts zu taumeln?

Durch Vincents Kopf hallte ein schmerzhaftes Bohren und Pochen. Seine Lungen brannten ebenso lichterloh wie die Häuser vor ihm. Seine Füße schienen von rostigen Nägeln durchbohrt zu sein, aber sein Retter zog ihn weiter, weiter, immer weiter ins Verderben. Ein gellender Schrei rammte Messer in seine Gehörgänge, und eine Hitzewell riss ihn beinahe zu Boden, als eine brennende Gestalt um ein Haar mit ihm zusammenstieß. Gerade noch wurde er zur Seite gezogen, taumelte, keuchte, verlor jede Orientierung. Die flirrende, blendende Helligkeit der Flammen ließ alles vor seinen Augen verschwimmen. Er sah nur noch, wie sich mehrere dunkle Krieger von beiden Seiten näherten, die Waffen gezückt, zielstrebig, tödlich. Es gab kein Entkommen aus dieser Hölle. Der Tod, der ihn in Gestalt des schwarzen Reiters schon vor etlichen Momenten hätte holen sollen, forderte nun doch noch ein, was ihm so knapp entronnen war.

Und dann geschah plötzlich etwas Unbegreifliches. Die Angreifer, die ihn und seinen Retter bereits eingekreist hatten, hielten inne. Statt die sicheren Opfer mit einer einzigen mühelosen Handbewegung zu erledigen, blieben sie stehen und… er konnte es nicht erkennen. Es blieb auch keine Zeit mehr dazu. Er fühlte einen schmerzhaften Ruck an seinem Handgelenk, und vermutlich schrie er, aber selbst das bemerkte er gar nicht mehr. In einem letzten Aufbäumen seines Überlebenswillens, der keine schmerzenden Lungen und Köpfe und Füße kannte, stieß er sich vom Boden ab und sprang geradewegs in die Flammenwand hinein.

In diesen Sekunden blieb die Welt stehen. Er spürte nichts mehr, er dachte nichts mehr, er sah nur noch ein blendend weißes Licht, das ihn ganz und gar gefangen nahm. Er hatte keine Angst, weil sich all seine Gefühle in pure Helligkeit aufgelöst hatten. Doch schnell verschwand auch diese Helligkeit, oder verwandelte sich vielmehr in Wärme. Dann in Hitze. Schließlich in Glut. Die wenigen, seltsam tröstlichen Augenblicke des Fluges endeten abrupt, als ein grauenhafter Schmerz durch seine Fußsohlen zuckte. Er taumelte, wollte keuchen, atmen, schreien, aber in seinen Lungen war nur Feuer und Qualm. In seine Brust bohrte sich ein glühendes Schwert, und er begriff, dass er es nicht geschafft hatte.

Er war in die Flammen gesprungen und in den Flammen gelandet. Dies war sein letzter Gedanke, bevor sein ganzer Körper zu explodieren schien. Es war, als ob die Feuerhitze sich geradewegs in seine Haut fressen und ihn verschlingen würde, und dann fuhr in seine Schulter erneut ein heftiger Schmerz, nicht schlimmer, aber vehementer als zuvor. Ganz so, als ob jemand auf ihn einschlagen würde. Nach wenigen Sekunden begriff er, dass dies tatsächlich der Fall war. Was er zuvor gespürt hatte, war der Aufprall auf den harten Pflasterscheinen einer kleinen, schmalen Gasse. Die Schläge kamen von den Händen seines Retters, und sie waren offensichtlich dazu gedacht, die zahlreichen kleineren Brandherde auf seiner Kleidung zu löschen.

Hinter ihm ragte der riesige Scheiterhaufen wie ein drohender Wächter in den schwarzen Nachthimmel, und auch die Häuser zu seinen beiden Seiten brannten lichterloh. Das Sträßchen war nur ein schwarzer Riss in den Feuermassen, die Hitze in dessen Tiefe überwältigend, erdrückend. Von Ruß und Flammen zerfressene Balken ragten über seinen Kopf, bildeten einen grauenhaften Baldachin vor den bleiernen Wolken. Er verstand, dass sie jederzeit auf ihn herabstürzen und ihn doch noch in einem Glutregen begraben konnten, dass er von einer Gefahr in die nächste gestürzt war. Außerdem schmerzte sein ganzer Körper fürchterlich, seine linke Schulter, sein Oberarm, seine Füße, jeder einzelne Atemzug und jeder Zentimeter seiner Haut. Eigentlich hätte er schreien können, aber auf eine ganz absurde Art und Weise fühlte er sich so frei und erleichtert, dass sich seine Lippen zu einem breiten Grinsen verzogen.

Wer auch immer er war, wie auch immer es ihn an diesen alptraumhaften Ort verschlagen hatte, er hatte gerade etwas geschafft, das er um nichts in der Welt für machbar gehalten hätte. Ein Ding der Unmöglichkeit, für ihn selbst und vor allem für den Menschen, der er gewesen war, bevor er sich selbst verloren hatte. Er war dem Tod von der Schippe und durch eine Wand aus Flammen gesprungen. Vermutlich würde in wenigen Minuten sein Adrenalinvollrausch nachlassen und ihn wiederum in Schmerzen, Angst und Verlorenheit zurücklassen, aber momentan ging es ihm erschreckend gut.

„Komm, oder willst du unbedingt sterben?!“, bohrte sich da auch schon eine Stimme in seine Gedanken, scharf und schneidend wie eine Messerklinge. Die Stimme seines Retters. Als Vincent etwas mühsam den Kopf wandte und in das Gesicht des Unbekannten blickte, stellte er fest, dass dieser gar nicht so unbekannt war wie zunächst angenommen. Die dunklen Augen, die dunkle Haut, die dunklen Haare, die dem jungen Mann nun in wirren Strähnen ins Gesicht fielen, waren schließlich das erste, was Vincent nach seinem Erwachen in der unbekannten Hölle gesehen hatte. Und jetzt hatte ihm dieser Fremde mit dem bösen Blick also das Leben gerettet. Aber wieso?

„Wer…?“, wollte er gerade anfangen, zu fragen, doch der Dunkelhaarige schnitt ihm mit einer herrischen Handbewegung das Wort ab.

„Komm endlich!“, befahl er und zog ihn erbarmungslos wieder auf die Beine.

Jetzt konnte Vincent sich nicht mehr davon abhalten, aufzuschreien. Seine Fußsohlen, seine Lungen, und vor allem dieser verdammte linke Arm, all das stand immer noch in Flammen. Er war nur vermeintlich dem Feuer entkommen; in seinem Körper brannte es weiter.

„…und halt den Mund!“, fügte der Fremde wenig mitfühlend hinzu, packte ihn erneut am Handgelenk und zog ihn hinter sich her. Auf seinem Gesicht war keine Spur von Erleichterung über die erfolgreiche Flucht zu erkennen. Weil er wusste, dass hier in den Gassen weitere Fallen, weitere schwarze Krieger, noch mehr Tod und brennende Vernichtung auf sie warten würden? Dabei sah Vincent am Ende der Gasse tatsächlich Dunkelheit, frei von jeglichem Feuerschein... verschwommen zwar, aber unzweifelhaft dunkel. Welch beruhigender Anblick! Es war schon merkwürdig, wie schnell sich die menschliche Wahrnehmung verändern konnte, dass die Helligkeit zur Bedrohung und die Finsternis zum Segen wurde.

Doch dann zerriss ein gellender Schrei den kurzen Moment der Ruhe. Ein grauenhaft schriller Laut, der sich in Vincents Trommelfelle bohrte wie hundert vibrierende Nadelspitzen. Sein Körper wurde von einem heftigen Zittern geschüttelt, gefolgt von einem Gefühl, als ob lange Fingernägel aus dem Inneren seines Körpers heraus an seiner Haut kratzen würden. Und dann ballten sich die zugehörigen Hände alle gleichzeitig zu Fäusten und rammten sich ihm geradewegs in den Magen, als er in einem Anfall von Leicht- und Wahnsinn über die Schulter zurückblickte.

Vincent sah nicht das, was er erwartet hatte, zu sehen – keinen grässlich zugerichteten Menschen, der kreischend vor Schmerz und Todesangst durch die Flammen taumelte. Was er sah, war noch ungleich schlimmer, verstörender. Ein längst vergessener Alptraum, der nun gekommen war, um ihn zu holen. Es war so grausam, dass er beinahe hysterisch aufgelacht hätte – die erste Erinnerung, die ihn aus seinem verlorenen Leben wieder einholte, waren verstörende Traumbilder, an die er vermutlich seit seiner Kindheit keinen Gedanken mehr verschwendet hatte.

Es waren Bilder von einem schwarzen Reiter auf einem schwarzen Pferd, einer monströsen Kreatur mit rot glühenden Augen, mit Hufen wie Messerklingen und mit nadelspitzen, blutig verkrusteten Zähnen. Vincent musste in zahllosen Nächten vor diesem dunklen Todbringer geflohen sein, unfähig, um Hilfe zu schreien, mit bleischweren Klumpen statt Füßen, die ihm das Rennen unmöglich und ihn zu hilfloser Beute machten. Dieser Alptraum, der ihn in Kindertagen zitternd hatte wachliegen lassen, panisch vor Angst, die Augen zu schließen und wieder den verstörenden Bildern ausgeliefert zu sein, war ihm nun in die Realität gefolgt. Das Kreischen kam aus der Kehle des blutrünstigen Schlachtrosses, als sein dämonischer Reiter es geradewegs durch die Flammenwand trieb.

Mit seltsam tödlicher Eleganz flog der schwarze Ritter über den Scheiterhaufen hinweg. Und genau in diesem Augenblick zerbrach in Vincent die Hoffnung, seiner Rettung, der Flucht, ein großes Stück näher gekommen zu sein, in tausend Scherben. Er verstand jetzt, weshalb die Soldaten ihn nicht getötet hatten, ihr Innehalten, ihr Zögern. Natürlich waren sie nicht vor ihm und seinem Retter zurückgewichen, und natürlich war es weder Können noch Glück oder Zufall gewesen, dass sie den rettenden Sprung über den Scheiterhaufen geschafft hatten, während all die anderen Menschen in der Feuerfalle zugrunde gegangen waren.

Die dunklen Krieger hatten sie nur aus einem einzigen Grund am Leben gelassen: Dass der Dämon höchstpersönlich sie mit eigenen Händen und mit eigener Klinge töten konnte. Und als Vincent das begriff, da brach eine Panik über seinen Körper herein, die ihn diesmal jedoch nicht lähmte. In ihm erwachte etwas, das stärker war als er selbst, stärker als seine Angst, und dieses etwas ließ ihn laufen. Es fragte nicht lange nach, warum ausgerechnet er so wichtig war, dass der Anführer der schwarzen Krieger – was der Dämon ohne jeden Zweifel sein musste – ihm nach dem Leben trachtete. Die Antwort auf diese Frage war genauso bedeutungslos wie alles andere, das nicht Überleben bedeutete.

Er stürzte die schmale Gasse hinab, der Finsternis entgegen. Vincents zerschundene Fußsohlen flogen über den rauen Kopfstein, und er merkte gar nicht, mit welch rücksichtsloser Gewalt sein Retter ihn am Handgelenk hinter sich herzog. In seiner Wahrnehmung gab es nur noch die Geschwindigkeit und ihn. Wieder hörte er das Wiehern des Höllenrosses hinter sich. Der Dämon jagte sein Pferd mit eiskalter Rücksichtslosigkeit durch die schmale Schlucht zwischen den brennenden Häusern, und der Rhythmus der wirbelnden Hufe schrie in die Nacht hinaus, dass es kein Entkommen, keine Rettung geben konnte.

Ich werde dich kriegen, trommelte es wieder und wieder, lauf nur, ich werde dich kriegen. Aber Vincent hörte gar nicht mehr hin.

Er hatte beschlossen, zu kämpfen.
 

Dass dieser Kampf genau genommen eine Flucht war, interessierte den Adrenalinschub, der wie eine Sturmflut durch seine Adern peitschte, wenig. Vincent stürzte weiter und weiter, über den warmen Boden hinweg, auf dessen Oberfläche sich das hysterische Flackern der Flammen langsam in Finsternis wandelte. Die Helligkeit kehrte zurück, als der Dämon sein Schwert hochriss und ein Funkenregen in den Nachthimmel stob. Diesmal konnte Vincent die Bewegung der Klinge nicht nur anhand ihres schneidenden Gesanges erahnen, er sah sie auch. Ein weißes Blitzen vor dem Schwarz der Wolken, direkt über seinem Kopf.

Der Anblick offenbarte Vincent ein bitteres, tödliches Stück Wahrheit. Seine schmerzenden zwei Beine waren chancenlos gegen die raumgreifenden Sätze des Schlachtrosses. Natürlich, früher oder später hatte der Dämon ihn einholen müssen. Er hätte nur nicht damit gerechnet, dass es so schnell geschehen würde. Dass das blutige Schwert seiner Flucht ein Ende machen würde, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. In einer Sekunde blanken Entsetzens fühlte er den heißen Atem des Höllenpferdes in seinem Nacken, und dann sauste auch schon die grauenvolle Klinge wie ein Fallbeil auf ihn herab.

Genau in diesem Moment riss sein Retter ihn ein weiteres Mal zur Seite, in eine noch ungleich schmalere Gasse hinein. Vincent war sich nicht sicher, ob dieser kleine Spalt überhaupt als Durchgang gedacht worden war. Es gelang ihm auch nicht, wirkliche Erleichterung über seine erneute Rettung zu empfinden, denn das Haus zu seiner Rechten stand in Flammen. Das Gässchen war so eng, dass er sich an die Mauer in seinem Rücken pressen musste, um nicht selbst vom Feuer erfasst zu werden. Einen Moment lang drohte ihn erneut eisige Panik zu überwältigen, als ein klaustrophobischer Teil seiner verschütteten Persönlichkeit ohrenbetäubend zu kreischen begann. Seine Beine versagten ihm den Dienst, aber er stürzte nicht, weil eine Hand seinen Arm packte und ihn aufrecht hielt.

Leider war es nicht die Hand seines Retters, die das tat.

Es war die Hand des Dämons. Seine schwarzen Finger hatten sich unbarmherzig fest um Vincents Fleisch geschlossen, um ihn zurück auf den Weg zum Marktplatz und in die bleichen Arme des Todes zu ziehen. Vincent schrie auf, wollte weiterrennen, wegstürzen, doch er konnte sich keinen Zentimeter mehr vorwärts bewegen. Die Angst vor dem Dämon und die Angst vor dem feurigen Höllenpfad, der vor ihm lag, schienen ihn innerlich zu zerreißen. Und dann zerrte auch noch sein Retter an ihm, ausgerechnet an seinem ohnehin schon grässlich schmerzenden linken Arm. Es war ein Gefühl, als ob sich sein Muskelfleisch in einer Kreissäge verfangen hätte. Weiße Lichtpunkte tanzten vor und hinter seinen Iriden auf und ab. Aber er wusste selbst, dass sein Retter gar nicht mehr tun konnte, als an ihm zu ziehen, mit aller Kraft. Die Gasse war zu schmal, als dass er sich an Vincent hätte vorbeidrängen können. Es war ihm unmöglich, die Hand oder den Arm des Dämons auch nur zu berühren. Gewissermaßen hatten sie sich diesmal selbst in die Falle gelockt.

Und diese Erkenntnis machte ihn wütend. Es war eine gedankenlose, instinktive Art von Wut, die seinem neu entdeckten Kampfgeist ins Gesicht schlug und ihn anbrüllte, dass er verdammt noch mal endlich seinen Job erledigen sollte, und zwar richtig! Gut, schrie der Kampfgeist zurück, du hast es so gewollt, und noch im selben Atemzug winkelte Vincent den festgehaltenen Arm an und rammte seine Fingernägel in den Handrücken des Dämons.

Der zuckte nicht einmal zusammen. Vincent spürte, dass er von der ledrigen Haut des Ungetüms einfach abglitt, ein widerliches Gefühl, das ihn bis in die Zehenspitzen erschaudern ließ. Die Stimme der Vernunft in seinem Kopf stöhnte und ächzte vor Entsetzen, als sie verstand, dass die Beschaffenheit dieser Haut ebenso wenig Menschliches an sich hatte wie der Ausdruck in den Augen des Dämons. Er war ein Monster, ein wirkliches, wahrhaftiges Monster, ein Es, etwas, das es nicht geben konnte und nicht geben durfte, das aber ohne jeden Zweifel da war. Wieder begann Vincent, zu schreien, doch der Dämon verstärkte seinen Griff nur noch mehr und riss ihn ein gutes Stück in seine Richtung. Dabei verrutschte der Handschuh, den er trug, um wenige Millimeter.

Die Erkenntnis traf Vincent wie ein Blitz und verwandelte seine Schreie übergangslos in hysterisches Gelächter. Dämonenhaut? Von wegen! Was er zu fassen, beziehungsweise nicht zu fassen bekommen hatte, war nichts anderes als ein Handschuh gewesen, ein verfluchtes Stück Leder über ganz gewöhnlicher Haut. Wer sagt dir, dass darunter nur gewöhnliche Haut ist?, fragte die zweite Stimme in seinem Kopf – die Stimme seiner Panik, deren verstörende Boshaftigkeit eigentlich nur aus ihrer eigenen Furcht erwuchs. Bevor er eine Antwort darauf finden konnte, wurde erneut ein Pflock in seinen linken Arm gerammt, der von den Fingerspitzen bis zur Schulter hinauf an seinem Knochen entlangschrammte. In Vincents Ohren entstand dabei ein Geräusch wie von Fingernägeln auf Glas. Aber er bemerkte gleichzeitig auch noch etwas anderes, und das war schlimmer als jeder Schmerz.

Der Griff seines Retters lockerte sich. Durch seine Finger lief ein immer stärker werdendes Zittern, und als Vincent einen Blick in seine Richtung warf, sah er, dass über das starre Gesicht des Mannes feine Schweißtropfen rannen. Natürlich. Er war gefangen in dieser schmalen Schlucht zwischen Flammen und Qualm, er konnte sich nicht einmal richtig bewegen, wie hätte er da gegen die beängstigenden Kräfte des Dämons ankommen sollen? Millimeterweise entglitt ihm Vincents Arm. Dann verlor seine Hand ganz den Halt, als der Dämon seine Beute mit einem Ruck der Gasse entgegenzog.

Und in dieser Sekunde, als Vincent wieder einmal dem sicheren Tod ins Gesicht blickte, begann sein Überlebenswillen endlich genau das zu tun, was ihm schon vor einigen grauenvollen Minuten – oder waren es nur endlos lange Sekunden gewesen? – aufgetragen worden war. Getrieben von einem fatalistischen Kampfgeist stemmte Vincent seine Beine gegen den Boden, um dem unbarmherzigen Schraubstockgriff des schwarzen Reiters nur noch einen einzigen Augenblick lang widerstehen zu können, dann rammte er seinen Arm samt Dämonenhand gegen die brennende Mauer des Hauses.

Jede Sorge, dass auch dieser Angriff ohne Wirkung bleiben könnte, löste sich im wahrsten Sinne des Wortes sehr schnell in Rauch auf. Der Dämon gab tatsächlich so etwas ähnliches wie einen Schrei von sich – kein wirkliches Brüllen und auch kein unmenschliches Kreischen, wie seine innere Panikstimme mit leiser Enttäuschung feststellte, aber immerhin einen unüberhörbaren Schmerzenslaut. Dass Vincent selbst aufschrie, als die Flammen seine Schulter erfassten und die Hitze sich mit grausamer Brutalität in seine Haut fraß, konnte seinen Triumph nicht schmälern. Mit einem erstickten Keuchen taumelte er zurück, und eine ungekannte Woge von Glücksgefühlen brach über seinen Körper herein, als er begriff, dass er sich wirklich und wahrhaftig losgerissen hatte.

Dieser kurze Höhenflug endete rasch und abrupt, als die Hand des Dämons ohne langes Zögern erneut nach seiner Schulter griff, zielstrebiger, vehementer noch als zuvor. Der Preis für die wenigstens vorübergehende Freiheit war zweifellos, dass er nun endgültig den Zorn des schwarzen Reiters auf sich gezogen hatte. Aber, und das war eine Erkenntnis, die ihn sogar dafür entschädigte, die Alptraumgestalt folgte ihnen nicht in die feurige Schlucht hinein. Sie tastete lediglich nach Vincent, mit suchenden Fingern, deren ledrige Schutzhülle im Feuer verbrannt... oder auch angeschmolzen war. Ob darunter normale Menschenhaut lag, konnte Vincent nicht erkennen, weil die freigelegten Partien wund und geschwärzt waren. Er registrierte allerdings, dass die Oberfläche nicht glatt aussah, sondern von tiefen Narben zerklüftet zu sein schien. Waren es wirklich Narben? Vincent schüttelte heftig den Kopf und weigerte sich, darüber nachzudenken, ob das dunkle Leder nicht doch nur als Sichtschutz vor etwas wirklich Erschreckendem diente.

Stattdessen lief er endlich weiter. Er presste sich mit dem Rücken so fest an die Wand, dass deren raue Oberfläche ihm über die Haut kratzte wie zahllose verdickte Fingernägel. Aber das war immer noch besser, als dem Feuer ein weiteres Mal zu nahe zu kommen. Vincent wusste nicht, ob sein Oberteil tatsächlich gebrannt hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, irgendwelche Flammen ausgeschlagen zu haben, allerdings war auch einiges im größten Adrenalinrausch untergegangen. So oder so, der Schaden, der zurückgeblieben war, schmerzte höllisch. Seine Schulter pochte und brannte und stach und zerriss sich selbst mit solch unerträglicher Gewalt, dass ihm der Schmerz in seinem anderen Oberarm wie ein schlechter Witz vorkam. Vincent merkte, wie ihm allein aufgrund dieser körperlichen Qualen Tränen in die Augen stiegen. Er gab sich keine Mühe, sie wegzuwischen. Er bewegte sich nur immer weiter vorwärts, so schnell er eben konnte, ohne dabei eine weitere Brandwunde zu riskieren.

Als er schließlich ins Freie taumelte, gaben ihm sofort die Knie nach und er sank einfach in sich zusammen. Die Dunkelheit, die ihn empfing, war wie ein Segen, eine Erlösung, die ihn so sehr überwältigte, dass er nur mit Mühe ein lautes Schluchzen unterdrücken konnte. Am liebsten hätte er sich auf den Kopfsteinboden fallen lassen und sich dort zusammengerollt, um all die Eindrücke der bösen Welt da draußen zu vergessen – das Lodern der brennenden Häuser, der widerwärtige Gestank von Ruß und verkohltem Fleisch, das Tosen der Flammen, Hufgetrappel in der Ferne, das panische, schmerzerfüllte Kreischen und...

Hufgetrappel. Vincent begriff nicht sofort, was dieser Klang bedeutete, der inmitten der höllischen Sinfonie von Todesschreien und Feuerbrüllen fast schon harmlos anmutete. Aber als er es begriff, wurde sein Körper erneut von Entsetzen geschüttelt. Natürlich war es möglich, dass mehrere Krieger zu Pferde durch die Stadt ritten, aber aus irgendeinem Grund wusste Vincent mit niederschmetternder Gewissheit, dass es der Dämon war, der sich ihm aus der Finsternis näherte. Er hatte die Feuergasse zwar nicht durchqueren können – vermutlich aufgrund des Umfangs seiner Rüstung – aber natürlich war es ihm ein Leichtes, einen anderen Weg zu seinen Opfern zu finden. Als ob er ihre Angst wittern könnte.

Diesmal benötigte Vincent keinen Anstoß seines Retters, um wieder aufzuspringen und loszurennen. Er stürzte sogar noch vor ihm in die nächste Seitenstraße, die er entdeckte, und dann lief er, so schnell seine Beine ihn trugen. Sein merkwürdiger Schutzengel stieß ihn schon bald zur Seite, um sich, begleitet von einem: „Du folgst mir!“ an ihm vorbeizudrängen, aber auch das verlangsamte Vincents Schritte nicht. In seinen Ohren pochte immer noch das dumpfe Trommeln der Hufe, und gerade, als er diesen stetigen, beängstigenden Begleiter in den Bereich der paranoiden Fantasie abschieben wollte, da hörte er auch noch ein seltsames Scharren oder Kratzen aus derselben Richtung. Mit eisigem Grauen erkannte Vincent, dass es sich dabei um das Geräusch der Rüstung des schwarzen Ritters handeln musste, die an den Hauswänden der allzu engen Gassen entlangschrammte.

Er war ihnen immer noch dicht auf den Fersen. Der Dämon hatte Blut geleckt, und nun war er nicht mehr gewillt, seine Beute entkommen zu lassen. Die Panik, die Vincent bei diesem Gedanken ergriff, war genau dieselbe, die er einst in seinen dunkelsten Träumen gefühlt hatte – eine grauenhafte Hilflosigkeit, die einen sonst eben nur in Alpträumen heimsuchte. Jetzt war sie für ihn zur Realität geworden. Obwohl ihm mittlerweile mehrere Messer in der Seite steckten, beschleunigte er seine Schritte sogar noch ein bisschen mehr. Seine Augen fixierten starr den Rücken seines Retters, sodass der Rest der Umgebung zu einem Strom aus Dunkelheit und Feuerschein verschwamm.

Das Hufgetrappel näherte sich mehr und mehr. Vincent hörte, wie sein Retter einen leisen Fluch ausstieß, bevor er einen Haken in die Gasse zu seiner Linken schlug, dann gleich noch einen und noch einen, bis Vincent selbst Probleme hatte, ihm zu folgen. Er geriet beinahe aus dem Gleichgewicht, als er in vollem Lauf haarscharf um eine Hausecke bog, schürfte sich ein Stückchen Haut an der rauen Mauer ab, rannte aber dennoch unbeirrt weiter, weiter, nur immer weiter. Ein halsbrecherisches Abbiegemanöver jagte das nächste, bis Vincent um die etwa dreißigste Kurve schlitterte – und ins Taumeln geriet, weil er seinen unbekannten Schutzengel nirgendwo mehr entdecken konnte.

Vincent stand – wie hätte es auch anders sein können? – in einer der schmalen, verwinkelten Gassen zwischen den Fachwerkhäusern, von denen für ihn eine wie die nächste aussah. Seine Flucht hatte ihn geradewegs in ein Labyrinth geführt, und der eigentlich auch nur vermutete Orientierungssinn seines Retters war das einzige gewesen, an das er sich hatte klammern können. Er schloss seine Augen und lauschte in die Nacht hinein, ob er nicht doch noch irgendwo dessen Schritte hörte. Aber da war nur Feuergetöse und das rasende Geräusch von Hufen auf Stein, das unaufhaltsam näher kam. Durch Vincents Adern lief kein Blut mehr, sondern blankes Entsetzen. Wieder ertönte das kreischende Geräusch der Kollision von Metall und Stein, so nah diesmal, dass er es fast schon spüren konnte. Er wusste, dass der Dämon jeden Augenblick um die Ecke biegen würde.

Diese Erkenntnis überzeugte Vincent eindrucksvoll davon, dass jedes weitere Nachdenken über das Verbleiben seines Retters ein großer Schritt in das sichere Verderben war. Einmal mehr war die Zeit gekommen, den Kopf auszuschalten und den Beinen die ganze Arbeit zu überlassen. Selbst in dieser Situation fiel ihm das schwer – wenn Vincent nach der kurzen, aber dafür umso ereignisreicheren Zeit, die er bislang mit sich selbst verbracht hatte, eine Aussage über sich treffen konnte, dann, dass er ein Kopfmensch durch und durch war. Eine Eigenschaft, die ihm jetzt, in diesem wahr gewordenen Alptraum mit dem Tod auf den Fersen, leider überhaupt nicht weiterhalf, also riss er sich zusammen und rannte los.

Er bog in die nächstbeste Gasse ein, und dann um noch eine Ecke, um eine möglichst große Distanz zwischen sich und seinen blutrünstigen Verfolger zu bringen. Wieder lief er so schnell, dass ihm das Bremsen schwer fiel, und so konnte er nicht verhindern, dass er in eine große, dunkle Gestalt hineinlief, die ganz plötzlich vor ihm auftauchte. Der Dämon? Im ersten Moment war er sich sicher, seinem grausamen Untergang geradewegs in die Arme gelaufen zu sein. Er wollte herumfahren, davonstürzen, solange er es noch konnte, doch da wurde er bereits gepackt und zurückgerissen. Der Schrei, der ihm den Hals hochkroch, wurde von einer Hand erstickt, die sich ihm auf den Mund presste, und gerade, als Vincent die Schwelle zur endgültigen Panik schon mit einem Bein überschritten hatte, blickte er endlich auf und geradewegs in das Gesichts seines Retters.

Die Erleichterung, die Vincent in diesem Moment empfand, wurde noch im Keim erstickt, als er den Ausdruck in den dunklen Augen des Mannes bemerkte. Mehrere Sekunden lang weigerte er sich, zu akzeptieren, dass das, was er dort las, schlicht und ergreifend Furcht war. Sein Retter war gut darin, diese unliebsame Emotion zu überspielen, aber etwas davon drang doch an die Oberfläche und brachte Vincents Körper zum Zittern.

„Was...“, begann er, in die Finger des Fremden hineinzunuscheln, aber der drückte sofort noch fester zu und schüttelte energisch seinen Kopf.

„Ruhe!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, gerade laut genug, dass Vincent es hören konnte, aber trotzdem mit einer solchen Entschlossenheit, dass es eindringlicher nicht hätte sein können. Dann warf er einen raschen, unangenehm gehetzt wirkenden Blick über Vincents Schulter hinweg. Er machte keine Anstalten, wieder die Flucht zu ergreifen, und als Vincent endlich die Kraft dazu fand, sich umzusehen, bemerkte er auch rasch, woran das lag.

Sie waren in einer Sackgasse gelandet. Statt in ein weiteres schmales Gässchen hatte ihr Weg sie diesmal auf einen kleinen Platz zwischen vier Fachwerkhäusern geführt, die ihn kreisförmig umschlossen. Drei der Häuser brannten. Der einzige Ausweg aus diesem Gefängnis war der schmale Durchgang, auf dem Vincent es auch betreten hatte. Er versuchte, sich umdrehen, um wieder zurücklaufen und diesmal eine glücklichere Abzweigung zu wählen, aber sein Retter hielt ihn weiterhin unerbittlich fest. Und da erkannte Vincent eine einfache, aber deshalb umso schrecklichere Wahrheit: Die Gelegenheit zur Flucht war gekommen und verstrichen. Jetzt war es zu spät, um noch davonzulaufen.

Das Höllenross war ihnen mittlerweile so nahe, dass Vincent schon glaubte, es schnauben zu hören. Der Dämon musste sie jeden Moment eingeholt haben. Wenn sie jetzt den Platz verließen und wieder auf die angrenzende Gasse hinaustraten, war die Wahrscheinlichkeit, von ihrem Verfolger entdeckt zu werden, vielmehr eine Gewissheit. Aber was konnten sie dann noch tun? Der Platz war winzig und er bot keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken. Wenn der schwarze Ritter jedoch einfach an ihnen vorbeireiten würde, ohne den Kopf zu wenden, ohne ihrem tückischen Zufluchtsort Beachtung zu schenken, dann…

Ja, dann hatten sie vielleicht eine Chance, zu überleben. Nur leider wusste Vincent, dass das eine lächerliche Hoffnung war, die sich eigentlich gar nicht erfüllen konnte. Die Flammen, die das Holz der Fachwerkhäuser zu Asche zerfraßen, loderten so hell, dass sie wie auf einem Präsentierteller im gleißenden Scheinwerferlicht standen. Es gab kein Entkommen mehr. Alles, was sie noch tun konnten, war Hoffen und Beten, und beides erschien Vincent nicht sonderlich Erfolg versprechend. Ein Anfall von Hilflosigkeit packte ihn und schüttelte ihn heftig, legte beide Hände um seinen Hals und drückte ihm die Luft ab.

Seine Umgebung löste sich in einem hysterischen Flimmern auf. Vincent taumelte, blinzelte, um wieder mehr erkennen zu können – und sah dann etwas, das er im ersten Moment als eine Wahnvorstellung auf der Schwelle zur Bewusstlosigkeit abtat. Es war ein Anblick, der gleichsam unmöglich wie surreal schön war. Eine Hand mit langen, schlanken Fingern, so weiß, dass sie von innen heraus zu leuchten schien, ragte aus der Feuerwand hervor und winkte ihn zu sich. Eine elegante, fließende, unmissverständlich lockende Bewegung. Komm her, Vincent, sprachen die leuchtenden Finger ganz ohne Worte, komm zu mir, und alles wird gut.

Vincent rieb sich die Augen, doch seine vermeintliche Halluzination verschwand nicht. Also näherte er sich tatsächlich, geführt von diesem befremdlichen Lockruf und seiner eigenen Neugierde, um die schneefarbene Hand inmitten der schmutzig rotgelben Flammen genauer zu betrachten. Aber kaum war er bis auf einen Meter an sie herangetreten, zog sie sich zurück und war wieder verschwunden. Noch in derselben Sekunde war sich Vincent sicher, dass es sie niemals wirklich gegeben haben konnte, diesen Wink eines Engels inmitten der Hölle. Vermutlich war es nur sein eigener Wunsch nach ein klein wenig Ruhe und Schönheit in all dem abscheulichen Grauen und Verderben gewesen, den ihm seine Sinne grausamerweise gewährt hatten.

Doch dann sah Vincent anstelle der Hand etwas vollkommen anderes, und wieder lief es ihm kalt den Rücken hinab. Allerdings nicht vor Entsetzen. Denn bei genauerer Betrachtung des Feuerwalles erkannte er, dass dieser keineswegs so riesig und bedrohlich war, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Das Dach eines Fachwerkhauses war eingestürzt und zahlreiche Balken versperrten den Weg, aber dahinter tat sich eine Gasse auf, die von der so massiv wirkenden Mauer aus Flammen vollkommen versteckt worden war. Natürlich, die brennenden Trümmer stellten ein nicht zu unterschätzendes Hindernis dar, aber wenn Vincent den Sprung über den Scheiterhaufen am Marktplatz geschafft hatte, war auch diese Distanz zu bewältigen.

Vincent dachte nur eine einzige Sekunde lang darüber nach, dass er diesen Weg nicht zufällig gefunden hatte. Den Gedanken, dass es möglicherweise keine Rettung war, die dort hinter dem Feuer auf ihn warten würde, schob er gleich beiseite, weil er sinnlos war. Alles war besser, als dem Dämon in die blutigen Hände zu fallen. Zumindest weigerte er sich, zu akzeptieren, dass es anders sein könnte. Diesmal war er derjenige, der den Retter am Arm packte und mit sich zerrte. Er nahm nur einen einzigen Schritt Anlauf – zu mehr hätte der Platz nicht ausgereicht.

Dann sprang er ein weiteres Mal in die brennende Ungewissheit hinein.
 

Der Zettel war deutlich größer als der erste, den er an der Hotelzimmertür gefunden hatte. Es war auch mehr darauf geschrieben, in kleinerer, aber bestechend gut lesbarer und ordentlicher Schrift. Nejo hätte nicht sagen können, ob diese einem der Schriftbilder von Nachricht Nummer Eins entsprach, aber wenn, dann tendierte er eher zu dem des Satzes über die Rettung der Welt. Er setzt sich langsam, fast ein bisschen feierlich auf das Bett und las den Text mehrmals von oben bis unten durch.

Spielregeln, stand ganz oben auf dem Zettel, in Großbuchstaben geschrieben, und darunter ging es dann richtig los:
 

Erste und wichtigste Regel: Die Regeln sind unbedingt einzuhalten.
 

Zweite Regel: Ich bin auf deiner Seite. Egal, was ich dir schreibe und von dir verlange, du musst mir vertrauen und meinen Worten Folge leisten.
 

Dritte Regel: Du darfst niemandem etwas von dem erzählen, was hier passiert. Nicht deinen Freunden, und schon gar nicht deiner Familie. Ansonsten wird das alles nicht mehr funktionieren.
 

Vierte Regel: Beobachte die Stadt.
 

Die Entschädigung für das Erhalten und Befolgenmüssen dieser Regeln ist das gute Gefühl, auserwählt zu sein. Nur du kannst diese Aufgabe bewältigen. Und denk daran: Alles Gute kommt von oben! Dort findest du Trost im Alltäglichen, denn manchmal birgt es das Besondere. Also trockne deine Tränen, du wirst deine Augen nämlich brauchen können. Nutze sie weise!
 

Viel Erfolg und viel Spaß bei der Suche!
 

Fassungslos starrte Nejo auf das Stück Papier in seinen Händen, als ob er es dadurch zwingen könnte, seinen geheimnisvollen Sinn ganz von alleine zu enthüllen. Dann schüttelte er den Kopf über seine eigene Dummheit und knüllte den Zettel zusammen. Wie tief war er eigentlich gesunken, dass er sich über solch einen geballten Unsinn auch nur eine Sekunde lang ernsthaft den Kopf zerbrach? Nein, mit so etwas wollte er gar nicht erst anfangen. Das Einzige, was es herauszufinden galt, war, wie um alles in der Welt irgendein bemitleidenswerter Psychopath es geschafft hatte, ihn nicht nur zu finden, sondern auch noch in seine privaten Gemächer einzudringen. Das war ein Regelverstoß, ein unverzeihlicher noch dazu, und es war beinahe schade, dass der Verantwortliche, wenn er Nejo erst einmal in die Hände fiel, ganz entschieden zu wenig Zeit haben würde, diesen Fehler noch bereuen zu können.

Nejo nahm die nunmehr zu einem handlichen Ball geformte Nachricht in seine rechte Hand, kniff ein Auge zusammen und zielte mit der treffsicheren Gelassenheit des wohl besten Schützen dieser ganzen verkommenen Mega-Metropole, die an Schützen nicht gerade arm war, auf den Mülleimer. Er maß die Distanz ab, holte entsprechend Schwung – und dann, vollkommen grundlos und für sich selbst unbegreiflich, zögerte er. Betrachtete die weiße Kugel, die zwischen seinen behandschuhten Fingern hervorblitzte. Holte erneut aus.

Dann ließ er die Hand sinken, faltete den Zettel wieder auseinander und legte ihn vorsichtig auf seinen eichenhölzernen Nachttisch. Möglicherweise, dachte er dabei, waren ja Fingerabdrücke oder DNA-Spuren darauf zu finden. Irgendetwas, das ihn zu dem Eindringling führen würde. Wenn sie sich erst einmal Auge in Auge gegenübersaßen, konnte er ihm ja auch seine makabre Art von Humor erklären... und wie um alles in der Welt er auf die Idee kam, ausgerechnet Nejo damit zu belästigen. Eine höchst selbstzerstörerische Ader vielleicht? Wie auch immer, gleich morgen würde Nejo mit Beweisstück A und B zu Rashid gehen und die weitere Vorgehensweise besprechen. Für alles weitere war er jetzt entschieden zu müde. Er hatte eine ziemlich lange Nacht hinter sich.

Nejo quälte sich ins Bad, wo er auch den schwarzen Anzug gegen das kimonoartige Schlaf-Etwas tauschte, das er vom Hotel zur Verfügung gestellt bekommen hatte, und dann quälte er sich ins Bett zurück. Er war froh, dass dieser kurze Ausflug ihn nicht wieder aufgeweckt hatte, und als er sich endlich unter seiner kuschlig warmen Bettdecke verkriechen konnte, mit der beruhigenden Gewissheit, dass seine Waffe genau neben dem Kopfkissen ruhte, war die Welt beinahe schon wieder in Ordnung.

Aber warum um alles in der Welt soll ich die Stadt beobachten?, war sein letzter Gedanke, bevor er einschlief.
 

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