Denn du...
Denn du…
Still stehe ich da und starre in den Spiegel, der an der weiß verputzten Wand im Flur hängt. Normalerweise ist es der Spiegel, in dem vor allem Rosalie und Alice noch einmal den Sitz ihrer Frisur kontrollieren, bevor sie das Haus verlassen. Aber in den letzten Tagen blockiere ich ihn immer öfter.
Vorsichtig hebe ich die Hand und streiche über meine Haut. Sie fühlt sich nicht so hart an, wie die von Edward, als ich noch jemand anders gewesen war. Es ist fast normal, wie bei einem Menschen. Aber ich weiß, dass nur wir das so empfinden.
Für alles aus Fleisch und Blut bin ich ein kaltes Monstrum geworden, das ihnen ihren Lebenssaft rauben will. Und ich bin es gerne geworden.
Mein Finger wandert an der Nase hinab und bleibt schließlich an meinen leicht blassen, aber perfekten Lippen hängen. Sie sind voll, aber nicht zu voll, wunderschön geschwungen, so dass mich wahrscheinlich eine jede Schauspielerin darum beneiden würde.
Ich bin eine Schönheit, keine Frage. Trotz der hellen Haut und der auffälligen Augenringe, die ich nun mein Eigen nenne, bin ich hübsch.
Hübscher, als ich es mir jemals zu träumen gewagt hätte.
Hübsch genug, um Edward endlich genügen zu können, wenigstens in dieser Hinsicht.
Hübsch genug, damit sich die jungen Männer auf der Straße nach mir umdrehten und mir hinterherpfeifen.
Hübsch genug, als dass ich endlich in den Spiegel schauen und zufrieden sein konnte. Aber aus irgendeinem Grund, bringe ich es nicht über mich.
All diese Dinge sind perfekt.
Die perfekten Lippen, die perfekte Haut, eine perfekte Nase.
Doch immer häufiger beschleicht mich das Gefühl, dass es nicht meins ist.
Nicht meine Lippen, nicht meine Haut, nicht meine Nase.
„Bella?“
Ich drehe mich nicht um. Ich weiß auch so, wer dort steht. Nicht nur dank der Stimme. Meine Fähigkeiten ermöglichen es mir nun, alle in meiner Nähe an ihrem Geruch zu identifizieren.
„Alice“, entgegne ich nur.
„Rosalie und ich wollten in die Stadt fahren und ich habe schon gesehen, dass du mitfahren wirst, also keine Widerrede. Willst du dich noch umziehen, oder können wir sofort los?“
Jetzt drehe ich mich zu ihr um.
Die kleine Frau mit ihren stachlig schwarzen Haaren, die ich seit nun mehr dreißig Jahren meine Schwester nenne, strahlt mich mit ihrem breiten Grinsen an. Ihre Zähne sind weiß, wie Schnee und mir wird bewusst, dass auch ich ein solch perfektes Gebiss offenbare, sobald ich die Lippen zu einem Lächeln verziehe.
„Alice…“, setze ich an, doch sie unterbricht mich sofort.
„Nein, ich hab es gesehen. Und du kannst das Gegenteil nicht beweisen.“
Sie lacht frech und streckt mir die Zunge raus. Ich erwidere das Lächeln schwach und kapituliere. Was würde es schon schaden ein wenig herauszukommen? Zwar hat Edward Zeit für so etwas, wann immer ich es will, doch da ich erst dreißig Jahre eine von ihnen bin, müssen mich in der Stadt sicherheitshalber immer zwei Leute begleiten. Eine Regel von Carlisle, mit der ich keinerlei Probleme habe. Ich reiße mich von meinem Spiegelbild los, lasse mich von Alice an der Hand fassen und zu Rosalies Cabrio ziehen.
Liebes Tagebuch,
ich habe so etwas noch nie gemacht, oder eher gesagt, sehr lange nicht mehr, deshalb weiß ich nicht genau, was ich schreiben soll. Ich war heute mit Alice und Rosalie in der Stadt zum Einkaufen und während die beiden einen Kleiderladen nach dem anderen auseinander genommen haben, habe ich dich entdeckt.
In einem kleinen Buchladen lagst du ganz hinten in einer Ecke, aber ich habe dich sofort gesehen, als ich den Raum betreten habe. Und ich wusste, ich muss dich haben.
Eigentlich habe ich noch nie das Bedürfnis gehabt, so etwas wie ein Tagebuch zu schreiben, aber in diesem Moment, als ich in dem Buchladen stand, hat mich das Verlangen danach nahezu überwältigt.
Ich weiß nicht genau, was ich mir davon erhoffe oder warum ich es tue. Ich weiß nur, dass ich es tue und dass ich mir auch irgendetwas davon verspreche, auch wenn ich nicht benennen kann, was.
Vielleicht ist ein verzweifelter Versuch, etwas wieder zu finden, was ich schon vor Jahren verloren habe. Einen Teil von mir selbst, den ich nie als sonderlich wichtig oder bedeutend empfunden habe. Eher als das Gegenteil.
Als lästig, problematisch und nervig.
Diese Eigenschaften, etwas nicht zu schaffen, etwas nicht zu können und etwas ganz normales zu sein. Wie sehr habe ich es gehasst, als Mensch neben Edward zu stehen. Als Sterbliche, Vergängliche, während er für alle Ewigkeit in seiner Schönheit eingemeißelt war.
Aber so ist das halt.
Manchmal muss man Dinge verlieren, bevor man bemerkt, wie wichtig sie einem sind. Aber wenn man das dann realisiert, ist es meistens schon zu spät. In mancher Hinsicht kann ich noch genau sagen, was ich mir damals davon erhofft habe, endlich an Edwards Seite als Ebenbürtige zu stehen.
Liebe bis in die Ewigkeit.
Vertrautheit.
Zufriedenheit.
Glück.
Und mir ist nicht klar gewesen, dass ich das alles schon hatte. Und rückblickend würde ich sagen, dass ich zu diesem Zeitpunkt einen typischen, menschlichen Fehler gemacht habe.
Ich hatte Edward.
Ich habe ihn geliebt.
Er hat mich geliebt.
Ich war glücklich und wollte mehr.
Aber wer glücklich ist, der sollte nicht noch glücklicher werden wollen.
Man ist in diesem Moment nicht in der Lage einzuschätzen, welche Konsequenzen große Entscheidungen mit sich bringen. Ich liebe Edward. Ich liebe ihn Übermaßen, aber auch wenn ich nicht sagen kann wieso, bin ich nicht mehr in der Lage, glücklich mit ihm zu sein. Und das tut weh.
Das ist sie.
Die Wahrheit, über die Wahrheit.
Sie tut weh, deswegen lügen wir.
Deswegen bin ich bis jetzt nicht bereit, das aufzugeben, was ich habe.
Ich kann es nicht.
Allein der Gedanke daran, sprengt mich von innen heraus. Der Schmerz, der mich dabei durchfährt, ist so unglaublich, dass es niemand nachvollziehen kann. Ich habe ihm mein Versprechen gegeben. Ein Versprechen für die Unendlichkeit, eines, das nicht gebrochen werden sollte. Und genau deshalb sitze ich jetzt hier und schreibe mit dieser perfekten Handschrift, die eigentlich nicht die meine ist, auf diese blanken Seiten.
Ich werde nicht so weiter machen, wie bisher, denn ich bestehe darauf, dass man – auch wenn man einen Fehler begangen und übereilt gehandelt hat – ein Recht darauf besitzt, eine zweite Chance zu bekommen.
Eine zweite Möglichkeit, so glücklich zu werden, wie man es schon einmal gewesen ist, ohne es wirklich wahrhaben zu können. Ich werde herausfinden, woran es liegt, dass nichts so geworden ist, wie ich es mir ausgemalt habe, warum nichts so geworden ist, wie ich es mir erhofft habe. Warum meine ganze, neue Existenz als Vampir an Edwards Seite diesen dauerhaften, faden und negativen Beigeschmack hat.
Und sobald ich den Grund gefunden habe, werde ich ihn aus dem Weg räumen.
Ich blicke auf und betrachte die Handschrift, mit der ich mir gerade in der alten Kladde den Kummer von der Seele schreibe. Sie ist so wunderschön und ordentlich. Ich lehne mich zurück und denke über das nach, was ich dem Papier aufgedrängt habe.
Wenn ich jetzt so lese, was ich mir vorgenommen habe, dann klingt das so unglaublich einfach. Nach einer Sache, die schnell erledigt ist.
Aber ich scheitere seit dreißig Jahren daran. Wie komme ich jetzt in einem Anfall von Euphorie darauf, dass es mir vergönnt sein soll, innerhalb von Stunden oder Tagen alles zu meinen Gunsten zu verändern?
Es ist kalt draußen.
Ich weiß es, denn ich habe vor ein paar Stunden auf das Thermometer gesehen. Minus vier Grad. Ich bemerke davon gar nichts. Wenn Edward mich nicht daran erinnern würde, dass wir uns manchmal unter Menschen bewegen und nicht auffallen dürfen, wäre ich wahrscheinlich im T-Shirt mit ihm zum Flughafen gefahren, als wir gestern Abend Esme und Carlisle abgeholt haben, die aus ihrem Urlaub zurückkamen. Nur deswegen sind wir in Forks. Wir wollten uns hier treffen. Bald geht es wieder weiter.
Ich mag es nicht, wie sie mich ansehen.
Ich kann es verstehen, aber ich mag es dennoch nicht.
Die immer auf mir liegenden Blicke.
Die fragenden Blicke.
Die fordernden Blicke.
Die ‚hab-ich-nicht-recht-gehabt’ Blicke von Rosalie.
Die verzweifelten Blicke.
Die bittenden Blicke.
Sie sind immer da.
Alle.
Ich weiß, dass ich sie nicht für dumm verkaufen kann, Edward am wenigstens. Er weiß, dass etwas nicht stimmt. Er weiß es schon lange, auch wenn er mich noch darauf anspricht. Manchmal erwische ich ihn dabei, wie er mich anstarrt.
Voller Liebe und Hoffnung.
Voller Hilfsbereitschaft.
Aber wissend, dass ich keine Hilfe annehmen kann. Weder von ihm, noch von anderen. Aus dem ganz einfach Grund, dass ich nicht weiß, was mir fehlt. Mir ist bis jetzt nicht ganz klar, ob ich wirklich irgendetwas verloren habe, was ich vermisse, oder ob einfach nur alles anders geworden ist, als ich erwartet habe und ich mich noch in einer normalen Phase der Enttäuschung befinde.
Aber warum sollte das so sein?
Ich kann es mir nicht erklären, die Antwort, will einfach nicht in meinen Kopf. Ich habe alles bekommen, was ich haben wollte, alles, was ich mir gewünscht habe. Ich habe vor dreißig Jahren meinen Schulabschluss gemacht, ganz, wie man es von mir erwartet hat. Ich habe Edward geheiratet, weil ich wusste, dass es nichts gibt, was ihm mehr Freude bereiten würde. Ich hatte ihn mit allen Mitteln glücklich gemacht.
Und dann hatte er mich glücklich gemacht, in dem er mir das schenkte, was ich mir am meisten gewünscht hatte. Er hat es traurig und widerwillig getan, aber gleichzeitig auch voller Zuneigung. Er hat mich verwandelt.
Er selbst hat es getan. Ganz allein waren wir in einem Raum gewesen, hatten auf unsere Zukunft gehofft. Darauf, bis in die Ewigkeit zusammen sein zu können.
Ich konnte mich nicht beschweren.
Ich hatte weder Grund, noch Recht dazu.
Alles, was ich jetzt habe, habe ich mir gewünscht.
Über die Maßen gewünscht.
Ich war damals nicht zufrieden, habe meinen Willen bekommen und bin noch immer nicht zufrieden. Bin ich denn derart unbeständig? So launenhaft und gierig? Ist es das, was alles kaputt macht?
Ich starre hinaus.
Vier Seiten habe ich in dem kleinen Buch schon geschrieben. Ordentlich und lesbar. Ich habe beinahe vier Stunden dafür gebraucht. Länger, als ich gedacht hatte. Länger, als es mir vorgekommen war.
Es gibt diese Momente, in denen will ich alles kaputt machen. Ich will irgendetwas ausreißen, mit diesen bärenartigen Kräften, die nun zu mir gehören.
Wofür sollen sie sonst gut sein?
Ich will die Möbel aus dem Fenster schmeißen, hinterher springen und auf dem Holz herumspringen und es zerkratzen, bis nur noch Späne davon übrig. Ich will diese Wut, darüber, dass ich meinen Traum einfach nicht so träumen kann, wie ich es will und es vorhatte, an allem auslassen. An allem, was mir über den Weg läuft.
Aber ich tue es nicht.
Mit all meinen Kräften halte ich mich zurück, denn ich weiß, dass Edward sich nicht nur noch mehr Sorgen machen würde. Es würde ihm Angst machen.
Und das will ich nicht. ich will ihn nicht verletzten.
Ich will ihm zeigen, wie sehr ich ihn liebe. Denn auch wenn es nicht den Anschein hat, so weiß ich sicher, dass sie noch da ist. Diese Zuneigung, diese Verrücktheit nach ihm. Diese Liebe, die mich überschäumt, wann immer ich ihn sehe oder an ihn denke.
Sie ist da.
Aber da ist noch ein Gefühl, ein Gefühl, dass immer stärker wird.
Das Gefühl des Verzweifelns.
Dieses Einsamsein in einer Welt, in der ich mich noch nicht zu Recht finde, auch wenn ich das Beste an meiner Seite habe, was je meinen Weg gekreuzt habe.
Das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein.
Das Gefühl, nicht mehr Bella zu sein.
Ich glaube das ist, was mich niederdrückt.
Ich habe nicht irgendetwas verloren.
Nicht meine Liebe zu Edward.
Nicht meine Zuneigung zu der Familie in der ich jetzt lebe, nein. Sie sind mir genauso wichtig, wie am ersten Tag meines neuen Lebens.
Wieder halte ich inne.
Ich hätte nie gedacht, dass ein Tagebuch helfen kann. Es hilft mir nicht, das Problem zu lösen, aber es hilft mir, zu erfahren, was überhaupt mein Problem ist.
Ich schaue auf die Uhr.
Sechs Stunden sitze ich nun schon hier und beschäftige mich mit meinen Gedanken. Ich habe nicht die ganze Zeit geschrieben, ich habe lange einfach nur dagesessen und noch intensiver über mich nachgedacht, als sonst.
In diesem Moment drängt sich eine Erkenntnis in meinen Kopf. Ich weiß jetzt, warum viele Menschen das Tagebuchschreiben loben. Sie beschäftigen sich mehr mit sich selbst, als alle anderen. Sie kennen sich besser als alle anderen, den sie haben in einem Buch den besten Freund gefunden, den man haben kann.
Denn es hetzt einen nicht, es lässt einem Zeit.
Es wartet, bis man seine Gedanken geordnet hat.
Papier ist geduldig.
Ich setzte, die Feder wieder auf.
Ich weiß jetzt, was mein Problem ist.
Ich habe nicht irgendeine Kleinigkeit verloren. Nicht irgendetwas unrelevantes, irgendetwas Unbedeutendes. So wie andere ihr Handy verlieren, habe ich mich selbst verloren, ohne es zu merken.
Als wäre ich mir einfach aus der Handtasche gefallen.