„Verloren ist das Leben von dem wir träumen und doch versuchen wir alles in uns aufzunehmen. Das Gefäß der Seele ist einmalig, ja vielleicht sonderbar, doch wenn es zerschellt, hinterlässt es nichts als Trauer. Der Mensch ist sterblich, geboren, um verloren zu sein und doch so glücklich, dass es einem das Herz bricht.
Die Geschichte, die ich erzähle, die ich tief in mir trage, ist nichts weiter als eine Scherbe, die wertloser wurde je mehr man über sie trat. Und doch ist sie einzigartig. Einmal gebrochen und vollendet. Ein kleiner Teil eines Ganzen, der seine eigene Erinnerung in sich trägt. Und doch ist sie machtlos, denn ganz allein wurde sie wertlos.
Wertlos wie die Worte, die ich sprach, weil sich keiner daran erinnerte.“
„Tut es weh?“, die Stimme der Frau klang fürsorglich, doch sie war es nicht. Nichts erwiderte ihren Klang, so dass sie erneut eine Frage aufwarf. „Sag schon, tut es dir weh? Hast du die Schmerzen, die du dir schon immer gewünscht hast?“
Der Junge wich dem Blick der Frau aus, als sie versuchte in seine Augen zu schauen. Plötzlich verwandelte sich ihr geheucheltes Getue in ein teuflisches Gelächter.
„Du machst mir Spaß!“, sie konnte das Lachen kaum unterdrücken, „…kommst hier her und weißt doch nicht, was du willst.“
Er biss sich auf die Unterlippe. Zunächst zögerte er, doch dann hörte er seine klägliche Stimme antworten. „Nein… nichts. Dort ist nichts…“, sein Blick wurde noch gläserner. „Ich spüre rein gar nichts.“
„Was?“, die Frau blickte entgeistert. Dann schaute sie auf das Messer, mit dem sie die ganze Zeit über auf seiner Haut getanzt hatte. Sein Blut klebte bereits daran und sie sah auch die verursachten Wunden auf seinem Unterarm, doch sie konnte nicht glauben, dass er einfach so sagte, dass er keine Schmerzen empfand.
Empört legte sie das Messer zur Seite. „Du glaubst doch nicht etwa wirklich, dass ich dir das abkaufe?“
Der Junge schwieg erneut. Er wusste einfach nicht, was er sagen konnte.
„Es macht dir also nichts aus?“
Er nickte mit dem Kopf. „Ich spüre keinen Schmerz. Keine Klinge auf der Welt kann mich verletzen. Kein Dolch kann meinen Geist mit Schmerz betäuben…“
Es schien fast so, als ob er noch etwas sagen wollte, doch die Frau, die eben noch so böswillig gewirkt hatte, legte einen Finger auf seinen Mund.
„Kein Wort mehr will ich von dir hören. Du bist zweifelsohne einmalig in dieser Welt.“
Es war das erste Mal in seinem Leben, dass sie ihn mit so lieben Augen ansah. Es war das erste Mal, dass er bemerkte, wie hübsch sie aussehen konnte. Er hätte es nie für möglich gehalten, als er sie das erste Mal getroffen hatte, um bei ihr Trost zu suchen, doch diese Frau, die vor ihm stand, war das einzige Geschöpf, dem er vertrauen konnte. Ebenso galt dasselbe für die Frau. Er war ihr ein und alles – ohne ihn war sie machtlos.
Doch wie es so oft der Fall ist, gab es für Beziehungen, wie jene, die der Junge und die Frau hatten, kein Verständnis in der Gesellschaft. Aus diesem Grund trafen sie sich immer nur heimlich und wenn es niemand mitbekam. Sie liebten sich unerbittlich und doch schien es so etwas wie eine Barriere zwischen ihnen zu geben. War es Hass? Oder gar Neid? Keiner von beiden wusste es so recht, aber eines war gewiss: Ohne den anderen bei sich zu haben, würden sie kläglich untergehen.
Eines Abends ging der Junge mutterseelenallein durch die Straßen der Stadt, in der er aufgewachsen war. Und er war verblüfft, weil sich seitdem nichts verändert hatte. Es gab noch immer die alten Bauten, in denen niemand mehr wohnen wollte. Und es gab auch noch immer den alten Mister Blacksmith, der ihn anspuckte, wenn er an seinem Haus vorbei kam. Das kümmerte den Jungen nicht, denn er hatte ja ‚sie’. Und Mister Blacksmith war nicht anders als die anderen, die ihn von je her zu hassen schienen. Na ja, vielleicht war es nicht wirklich Hass, den sie empfanden. Der Junge glaubte stets an das Gute in ihnen und war der festen Überzeugung, dass sie einfach nicht fähig waren, ihre Gefühle anderweitig zu zeigen. Er fand diese Tatsache sogar sehr traurig, auch wenn er dafür zu büßen hatte.
Es war im Allgemeinen die Norm, dass die heranwachsenden Kinder, die den Jungen als ‚Außenseiter’ ansahen, ihn mindestens einmal am Tag eine Beleidigung an den Kopf warfen oder – wenn es richtig gut für sie lief – auf ihn einschlugen bis sie keine Lust mehr hatten. Egal, wo er sich auch verstecken mochte – sie fanden ihn immer und immer wieder. Es war ja schließlich nicht so, dass sie es aus reiner Langeweile taten – vielmehr sahen sie ihre Taten als eine Art Pflicht an, die es zu erfüllen galt. Und dennoch gab es Tage, an denen es nicht so schlimm war, wie an manch anderen. Die Tage, welche die schlimmsten waren, verbrachte er dann immer bei seiner heimlichen Liebe. Sie war die einzige, die Verständnis für ihn zeigte und ihn aufnahm, wenn es ihm am schlechtesten ging. Dann fühlte er sich auf einmal wie das glücklichste Wesen, dass auf dieser Erde weilte, weil es wusste, dass dort jemand war, bei dem es immer willkommen sein konnte.
Ein Leben ohne die Frau konnte sich der Junge gar nicht mehr vorstellen. Und auch das galt wieder für die Frau, die glaubte, in dem Jungen ihre lang gesuchte Heimat gefunden zu haben.
Eines Nachts fiel der Junge, wie an fast jedem anderen Tag auch, erschöpft ins Bett.
Er hatte es nicht bemerkt, aber auch die Frau war in seinen Raum getreten. Sie setzte ein besorgtes Gesicht auf und wollte wissen, wie es ihm ging.
„Sag, wie geht es Dir? Es liegt doch nicht an mir, dass Du dich so schlecht fühlst, oder?“
„Nein… nein, an dir liegt es nicht. Es ist nur…“, der Junge stockte, ehe er weiter sprach. „Ich bin nur so müde. So unendlich müde, dass es mir in der Seele schmerzt.“
Die Frau setzte sich zu ihm auf das Bett und tätschelte seinen Kopf.
„Ich weiß...“, sagte sie mit sanfter Stimme, „…ich weiß das.“
Danach setzte sich auch der Junge auf. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und nun sah man ganz deutlich, wie kindlich er aussehen konnte.
„Ich bin froh, dass es dich gibt.“, kam es fast wie von selbst aus seinem Mund.
„Und ich wüsste nicht, wer ich hätte sein können, wenn du nicht wärst.“, entgegnete ihm die Frau.
Beide lächelten sich an, doch die Stimmung, die in dem kleinen Zimmer herrschte wirkte bedrückt. Sie wussten nur zu gut, dass es nicht ewig so sein konnte. Irgendwann würde die Zeit des Abschieds kommen, doch beide hofften, dass dieser Tag noch in weiter Ferne ruhen möge.
„Was willst du nun tun?“, fragte ihn die Frau. „Willst du…?“
„Ja, ein wenig… Doch nur ganz zart, damit es noch schwächer ist, als es so schon ist.“
Die Frau wartete keine Sekunde, da holte sie ein kleines Messer hervor. Sie küsste ihn, während sie seine Haut mit der Klinge kitzelte. Es gab ein merkwürdiges Bild ab, aber man konnte sehen, wie sehr es den beiden gefiel.
Die Klinge trat viel stärker in sein Fleisch ein, als es ursprünglich vorgesehen war, aber das machte dem Jungen nichts aus, weil er wusste, dass sie bei ihm war. Er weinte nicht um all das Blut, das ihn in dieser Nacht verließ, denn er wusste, dass sie es für ihn vergoss. Das ganze Bett war mit Blut besudelt, als er erleichtert einschlief. Er war immer beruhigt, wenn ihr Duft in seiner Nähe war. Auf irgendeine Weise erinnerte es ihn an das Leben.
Der nächste Morgen war furchtbar. Er schreckte auf und blickte sich in seinem Zimmer um. Von der Frau, die bis eben noch neben ihm gelegen haben musste, war nun nichts mehr zu sehen. Er wusste, dass sie unmöglich noch immer hier sein konnte, doch er rief verzweifelt ihren Namen. Die Sehnsucht war so groß und zu wehmütig schlug sein Herz für die Erinnerung der vergangenen Nacht. Sie war immer da, wenn er sie brauchte, doch nun war sie fort, das wusste er.
Schweißperlen bildeten sich auf seiner Haut und ihm kamen fast die Tränen, als ein alter Mann den Raum betrat. Er ging ganz langsam zu dem Jungen, packte ihn an den Schultern und sah ihn durchdringend an.
„Du bist krank, mein Junge!“, der Mann sprach in einem rauen Ton und seine Stimme klang nach einer, wie nur Tote sie haben konnten.
„Nein…“, der Junge stockte, dann schrie er. „NEIN!“
Der Mann jedoch wirkte sehr kühl und fast schon weise. „Du bist ein armer, erbärmlicher, kranker Junge.“ Fast war so etwas wie Mitleid in seinem Unterton zu hören.
War dies etwa nicht mehr sein Zuhause gewesen? Sein Zimmer, in dem er schon so viele schöne Stunden mit ‚ihr’ verbracht hatte?
Die Gedanken des Jungen drehten sich im Kreis und obwohl ihn der Mann mit beiden Händen festhielt, war ihm so, als würde er umkippen. War es das etwa?
Während er sich fragte, wo sich seine heimliche Liebe aufhielt, verließ ihn die Kraft.
Es dauerte lange Zeit bis er wieder zu sich kam.
Der Traum des Jungen war klein. Er sah nur sich und die Finsternis. Er war ganz allein, doch als er den Traum des Todes träumte, wurde ihm ganz warm ums Herz. Fühlte sich so etwa Glückseligkeit an?
Der Junge konnte es gar nicht recht fassen. Wie konnte er nur so lange gelebt haben, ohne dass er jemals so ein Gefühl in sich trug? Es war so herzlich. Es fühlte sich so an, als ob er von ganzem Herzen wünschte zu weinen. Doch er hatte immer standgehalten. Als würde er nur unentwegt lächeln, obgleich man ihn tadelte. So ein liebes Kind war er.
Und dennoch war es ihm von Anfang an bewusst gewesen, dass es nichts als ein Traum war, in dem er sich gerade befand.
Der Junge öffnete prompt seine Augen, als er diesen Gedanken vollends verinnerlicht hatte. Es dauerte eine Weile bis er sich wieder fand und dann war dort nur ein Name, der in seinem Kopf umherspukte: ‚Ihr’ Name.
Wo hatte sie sich nur vor ihm versteckt? Sie würde ihn nicht vergessen und sie würde ihn auch nicht im Stich lassen. Niemals.
Als er noch mit seinen verwirrten Gedanken kämpfte, kam auf einmal derselbe Mann ins Zimmer, der ihm auch vor seinem Traum in Finsternis begegnet war. Aufbrausende Angst der Ungewissheit ließ das wehleidige Gemüt des Jungen zu Stein erstarren und erst jetzt bemerkte er, dass er sich nicht rühren konnte und sich in einem für ihn unbekannten Raum befand. Er war gefesselt und machte wohl einen sehr armseligen Eindruck auf alle, die ihn sehen könnten.
„Bitte…“, seine Stimme klang erbärmlich und der Junge fing an zu wimmern. „Bitte, lassen Sie mich frei… Was wollen Sie? Was haben Sie vor?“
Der Mann, der in den Raum getreten war, schwieg für einen Moment, doch dann antwortete er dem Gefesselten, wenn auch auf seine eigene Art.
„Es ist Zeit für deine Medizin, Junge. Du musst sie nehmen, dann wirst du irgendwann wieder gesund.“
Seine Worte klangen wie eine einfache Aufgabe, für die es kein Wenn und Aber gab.
„W… was für Medikamente?“
„Du bist ein jämmerliches Wesen… fast ist es traurig dich anzusehen.“
Der Junge glaubte nicht recht zu hören, aber das was der Mann von sich gab, war nichts als Verachtung. Was hatte er nur getan?
Bevor der Junge dem Mann antworten konnte, ergänzte er seine Feststellung. „Ist dir eigentlich bewusst, wie sehr ich mich schämen muss?“
Der Junge schwieg. Er wusste nicht, was der Mann ihm damit sagen wollte und dennoch ließ er sich zu einem Gespräch hinreißen.
„Wo ist ‚sie’…?“
Der Mann, der sich schon fast völlig abgewandt hatte, drehte sich zögerlich zu dem Jungen zurück. „Wen meinst du?“
„Wo ist das, was mir genommen wurde? Wo ist all das, was ich liebe…?“
Der Junge wusste nicht recht sich auszudrücken. Es war immerhin sein Geheimnis gewesen und doch war seine Sehnsucht nach ihr so stark, dass er ihre heimlichen Treffen hätte ins Licht rücken wollen. Ob sie ihn auf dieselbe Weise vermisste? Es hätte ihn glücklich gemacht.
„Ich verstehe nicht, wovon du sprichst, Junge.“
„…“
„Ich werde dir jetzt deine Medikamente verabreichen.“
Als der Junge diesen Satz hörte, wurde ihm übel. Medikamente… Er konnte sich nicht vorstellen, warum er so etwas brauchen sollte. Der Mann jedoch zögerte keinen Augenblick lang. Er nahm zwei Tabletten aus einer Schatulle, öffnete den Mund des gefesselten Jungen, damit er die Tabletten in seinen Rachen werfen konnte. Danach kippte er ihm unsorgsam ein Glas Wasser über das Gesicht, als würde es ihm das Hinunterschlucken erleichtern. Der Junge hingegen bekam kaum noch Luft. Fast glaubte er daran zu ersticken bis sich seine Atemwege durch ein gequältes Husten wieder öffneten. Er konnte es einfach nicht glauben, aber der Mann wirkte nicht nur so, als ob er ihn verachtete, er schien ihn wirklich zu hassen. Auf seltsame Weise kam es dem Jungen so vor, als ob der Mann viel netter gewirkt hatte, als er ihn vor der ‚Behandlung’ getroffen hatte. Aber vielleicht wurde diese Vorstellung ja durch seine schwach werdende Erinnerung verfremdet?
Es vergingen einige Monate, die der Junge in jener Gefangenschaft verbringen musste. Es war einfach nur schrecklich, doch er musste die bitteren Pillen immer wieder aufs Neue widerwillig hinunter würgen. Es war gruselig mit anzusehen, wie der Junge mit Abscheu behandelt wurde, aber so, wie der Mann es ausdrückte, geschah alles nur zu seinem Besten. Davon merkte der Junge aber reichlich wenig. Zu groß war noch die Sehnsucht nach seiner Liebe. Er hatte sie in jeder Sekunde, in der er dort gefesselt lag, vermisst, doch er war unfähig gewesen, irgendetwas an seiner Situation zu ändern.
Bis zu jenem Tag. Der Tag, an dem er endlich wieder frei gelassen wurde.
„Ich …darf einfach gehen?“, der Junge sprach mit einem ungläubigen Unterton.
Der Mann, der ihn die ganze Zeit über behandelt hatte und ihm nun seine Fesseln löste, machte zunächst keine Anstalten zu antworten. Aber dann sagte er doch etwas.
„Ja, ab heute bist du frei. Geheilt. Leg es aus, wie du willst.“
Der Junge fragte sich, was das wohl für eine Krankheit gewesen sein musste, von der er hier befreit worden war. Er wusste es nicht und das sah man auch dem Ausdruck in seinem Gesicht an.
„Freust du dich nicht?“, fragte der Mann in einem ärgerlichen Tonfall.
„Nein, nicht wirklich. Ich weiß nicht einmal, weswegen ich hier gewesen bin. Mir wurde nichts erklärt. Alles erscheint mir wie in einem Fiebertraum. …vielleicht wie in einem Alptraum.“
Der Junge kratzte sich an den Armen, wo die Fesseln gelegen hatten.
„Ein Alptraum? Wohl kaum. Du hättest dich mal vor ein paar Wochen sehen sollen! Ich bin dein Lebensretter, denn ohne mich wärst du verblutet.“
Das Herz des Jungen machte einen Aussetzer, als er durch diese Worte an den Abend erinnert wurde, an dem er ‚sie’ das letzte Mal gesehen hatte. Wie war es ‚ihr’ wohl ergangen? Hatte ‚sie’ ihn vermisst? Oder hatte ‚sie’ nach ihm gesucht?
Auf einmal huschte ein Lächeln über die Lippen des Jungen. Vielleicht freute er sich doch endlich wieder frei zu sein.
Ohne, dass er oder der Mann noch ein weiteres Wort miteinander wechselten, verließ der Junge das für ihn immer noch düster wirkende Gebäude, in dem er mit den merkwürdigen Medikamenten behandelt wurde. Erst als er wieder in die Außenwelt getreten war, bemerkte er, dass es sich dabei um eine Arztpraxis gehandelt hatte. Wen hätte es auch schon gewundert? Schließlich gab es keinen anderen Ort, an dem jemandem Tabletten verabreicht wurden.
Der Junge wusste nicht wieso, aber irgendwie stimmte es ihn traurig die Straße nach Hause zu gehen. Was erwartete ihn denn schon bis auf ein leeres Haus?
Und es war genau so, wie er es befürchtet hatte. Nein, es war noch schlimmer. Eine Bande heranwachsender Jugendlicher stand vor dem Vordereingang des Hauses und alle schienen gerade so auf ihn gewartet zu haben.
„Hey, wen haben wir denn da? Endlich wieder unten angekommen?“
Der Junge ignorierte die Worte des Burschen, der ihn angepöbelt hatte und wollte an ihm vorbei gehen.
„HEY, ich hab dich was gefragt!!!“, der Bursche wurde regelrecht aggressiv.
Als er noch immer keine Antwort gab, spürte der Junge, wie er mit einem Stock auf den Hinterkopf geschlagen wurde.
„Wir haben uns doch schon so lange nicht mehr gesehen. Wie wäre es mit einem kleinen Willkommensgeschenk?“
Die ganzen anderen, die hinter dem Burschen standen, fingen an zu kichern und auch der geschlagene Junge lachte innerlich. Es war immer wieder dasselbe. Sie waren nur in der Gruppe stark. Alle von ihnen waren einfach nur armselig. Das wusste der Junge und deswegen gab er sich nicht mit ihnen ab, ließ sich hier und da verprügeln, aber das war immer noch besser, als wenn er in direktem Kontakt mit ihnen gestanden hätte. Und auch an diesem Tag hielt er den Schmerzen stand. Er spürte rein gar nichts. Nichts was schlimmer gewesen wäre, als das, was seine Seele fühlte.
Als sie fertig mit ihm waren, ließen sie ihn einfach liegen. Allem Anschein nach hatten sie sich riesig darüber gefreut, den Jungen endlich wieder zu sehen – andernfalls hätten sie sich niemals so an ihm abreagiert. Aber der Junge hatte längst gelernt all dem Standzuhalten. Schon ganz alleine, weil er wusste, dass ‚sie’ allein ihm jedes Mal danach Seelenheil verschaffte. Innerlich glühte er vor Lust. Er freute sich richtig darüber, dass die Jugendlichen ihm hier aufgelauert hatten, denn nun hatte er auch einen Grund, um sich von ‚ihr’ trösten zu lassen.
Er schlich auf sein Zimmer, legte sich auf sein Bett und wartete. Er wartete stundenlang, aber niemand kam.
„Einundfünfzig, zweiundfünfzig… dreiundfünfzig…“, der Junge fuhr auf den Narben seiner Haut entlang und zählte sie wie die Sekunden, in denen er von ‚ihr’ getrennt war. Waren es wirklich nur so wenige? Es kam ihm so nichtig vor und dennoch stimmte ihn der Anblick traurig. Vielleicht waren viele der Narben ja auch schon verblichen? Er versuchte sich gequält an seine allererste ‚ihrer’ Narben zu erinnern, doch vergebens. Er wusste es einfach nicht mehr. Und noch weniger wusste er, weswegen sie nicht zu ihm kam. So wie er sich fühlte, hätte sie sich längst bei ihm blicken lassen müssen.
Der Junge seufzte traurig. Dann erschien ihm die Warterei langweilig. Er ging in die Küche und holte sich ein Messer.
Erneut im Bettzimmer angelangt, wäre ihm fast das Herz in die Hose gerutscht. Er dachte für einen Moment, dass seine Liebe einfach dort auf seinem Bett sitzen würde, aber als er genauer hinsah, erkannte er, dass es sich bei der vermeintlich vertrauten Silhouette nur um einen Schatten gehandelt hatte. Die Trauer dieser Erkenntnis überwältigte ihn. Er schmiss sich auf das Bett, das Messer hielt er immer noch in seiner zittrigen Hand.
Nachdem er einige Tränen vergossen hatte, setzte er sich auf. Er betrachtete sein Spiegelbild in der Klinge und fragte sich, wie es sich wohl anfühlte, wenn man jemandem Schmerzen zufügte. Fast wäre er in seinen Gedanken ertrunken, da erklang hinter ihm eine wohl vertraute Stimme.
„Warum nur… warum nur musste ich ausgerechnet dir vertrauen?“
Es war die Frau, die dort sprach und ihre Stimme klang weinerlich. Der Junge drehte sich zu ihr herum und alles was er daraufhin sagen wollte, verstummte mit einem Mal.
Es war zwar die Stimme seiner Geliebten, die dort sprach, aber es war nicht ‚sie’ – zumindest sah die Gestalt ihr nicht wirklich ähnlich, was den ersten Blick anging.
„Du hast mich weggeworfen, wertlos gemacht. Wie konnte ich nur so dumm sein und dir vertrauen?“
Der Atem des Jungen stockte, als er der verzweifelten Worte Bitterkeit vernahm.
„Aber… ich habe dich nicht weg geworfen! Wie könnte ich, wo ich dich doch mit jeder Faser meiner Seele liebe…?“
„Liebe? Wohl kaum. Du warst zu schwach und ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte ahnen müssen, dass es so weit kommt.“
Die Frau trat an das Bett, ihr Körper war in ein weißes Gewand gehüllt. Der Junge war unfähig ihr schönes Gesicht zu sehen, er würde sie nie wieder sehen.
„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich weiß nur, wie sehr ich dich liebe! Jede Sekunde hab’ ich an dich denken müssen. Jede Sekunde lang habe ich mich nach dem lieblichen Klang deines Seufzens gesehnt!!!“
„Es reicht!“, die Frau klang verstört, „Mach es mir nicht noch schwerer, als es so schon ist.“
„Ich verstehe nicht ganz…“
„Du verstehst es nicht? Du verstehst es nicht?!“
Der Junge erschreckte sich bei ihrem Tonfall. So verärgert hatte er sie noch nie erlebt. Er wusste nichts als ein Schweigen, das er darauf erwidern konnte.
„Ich werde gehen, für immer.“ Der Frau entkam eine Träne, als sie das letzte Wort aushauchte. „Mir bleibt nicht viel Zeit, aber ich muss mich verabschieden.“
„Warum?“, der Junge wollte weinen, doch er brachte es nicht übers Herz. Er durfte in ihrer Gegenwart keine Trauer zeigen, sondern musste stark bleiben. „Willst du nicht noch einmal…? Wenigstens ein letztes Mal, bevor du gehst…?“
„Nein, es geht nicht mehr. Ich kann es nicht, weil…“
„Weil?“
„…weil ich nichts als eine Krankheit für dich war. Eine Last, von der du dich befreien musstest. Eine Abart, die du nicht länger ertragen wolltest.“
Und nun verstand der Junge, was geschehen war. Er konnte sich nicht helfen, aber die Tränen liefen schonungslos über sein Gesicht.
Dass, was man ihm als ‚Krankheit’ geschildert hatte, war ‚sie’. Doch nicht allein ‚sie’ war schuld daran, sondern seine verstörte Verhaltensweise, die ‚sie’ einst hervorgerufen hatte. Die Verhaltensweise hatte selbst seine letzten Vertrauten aus seinem Umfeld vergrault.
Er selbst hatte es nie gespürt oder mitbekommen, denn für ihn gab es nur ‚sie’, seine Liebe. Er konnte nicht glauben, dass es nun an der Zeit war, dass sie ihn verlassen sollte. Er brauchte sie doch noch. Er brauchte sie wirklich, denn alleine würde er den folgenden Qualen nie und nimmer standhalten können.
„Verzeih mir...“, bat der Junge, doch er hatte ‚sie’ für immer verloren.
Aber bevor ‚sie’ endgültig verschwand, nahm sie ihn noch ein letztes Mal in den Arm. Es war eine innige Umarmung, die schönste von allen, die er jemals erfahren hatte. Und der Junge bemerkte nicht einmal, wie sie verschwand, weil sie irgendwann einfach weg war.
„Ich liebte dich… wirklich.“
Noch in derselben Nacht rannte er auf die Straßen und hielt ein Messer in der Hand. Alle sollten es wissen. Alle sollten es hören. Alle sollten nun verstehen, dass ‚sie’ das einzige war, das ihm etwas bedeutet hatte. Wenn man ihm schon sein Recht zu leben nahm, dann durfte man ihm doch nicht noch den letzten Hoffnungsschimmer rauben.
Während er durch die ganzen Gassen und Straßen der Stadt rannte, schrie er einfach alles aus sich heraus. Er wollte, dass alle davon wach wurden und Teil seiner Tragödie sein würden. Er wollte, dass sie sich schuldig für all das fühlten, was sie ihm angetan hatten. Dabei schlitze er sich wie wild mit dem Messer durch sein Fleisch. Jede jämmerliche Sehne wollte er frei legen, jeden lächerlichen Tropfen Blut verbrauchen. Er hinterließ einen ganzen Pfad aus Blut, doch es kümmerte ihn nicht.
Langsam aber sicher versammelten sich einige wohl bekannte Gesichter um ihn, als er vor Blutverlust zusammenbrach. Darunter auch alle jene, die ihn jahrelang gequält hatten. Sie starrten ihn entnervt an und alle ihre Augenpaare fragten: Hättest du uns denn nicht einfach schlafen lassen können?
‚Ich spüre keine Schmerzen!!!’ – das war es, was er eigentlich herausbrüllen wollte, doch die Worte, die ihn verließen, hatten eine andere Bedeutung. Er sagte mit dem letzten Hauch Atem, der ihm noch blieb: „Mag ich auch nichts fühlen, vor dem Tod schützt es mich nicht.“
Stille kehrte ein. Unsagbares Schweigen, das seinen Worten Ausdruck verlieh. Es war wie ein Kampf. Ein Kampf, den er im Eifer des Gefechts verloren hatte. Und kümmerte es ihn?
Mitnichten.
Das, wofür er lebte, gab es nicht. Das war alles, was er nun wusste und auch wissen musste.
Sein Leben hatte er umsonst gelebt. Der Zauber des Daseins war verwirkt, ohne dass er Gebrauch von ihm nahm. Jahre lang lebte er in seiner kleinen Welt, die er sich aus lindernden Schmerzen aufgebaut hatte. Und nun war es vorbei. Endlich war es endgültig vorbei.
Er schloss ein allerletztes Mal erschöpft die Augen, dann war seine Seele frei. Ungebunden an Gesetze und ungebunden an jegliches Leid.
Vielleicht war er wirklich glücklich.
Die Welt, auf der wir leben, ist sonderbar.
Wirklich sonderbar…