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Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

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Finstere Aussichten

Rumo hatte seine Sachen gepackt – hauptsächlich bestehend aus Löwenzahn beziehungsweise Grinzold, seiner Lederjacke, der Goldrosenessenz und ein paar Lebensmitteln sowie etwas zu trinken – und die Stadtgrenze von Atlantis möglichst schnell hinter sich gelassen. Er war froh endlich wieder einmal etwas Grün zu sehen, in der Millionenstadt gab es nicht einmal Zimmerpflanzen, geschweige denn Bäume und Sträucher. Hier, in den Feldern vor der Stadt, die den Blick auf die Riesenberge und die so genannte kalte Wand ermöglichten, war das ganz anders. Trotz des immer noch präsenten Smogs der nahen Industrie blühten die Wiesen geradezu malerisch und die Bäume zeigen ihre imposanten Kronen der vormittäglichen Sonne.

Der Tag war noch jung, Rumo hatte sich die Freiheit genommen, eine Nacht über das anstehende Vorhaben zu schlafen, obwohl sie diese Zeit eigentlich nicht hatten. Doch er wusste, dass er die Reise wesentlich effizienter gestalten konnte, wenn er ausgeruht war, und mit Smeiks durchdachtem Zeitplan, den Rumo morgens mit einer kurzen Einweisung auf seinem Wohnzimmertisch gefunden hatte, erschien die Unternehmung als durchaus machbar. Vorgesehen waren fünf Tage Hinweg, drei Tage Überzeugungsarbeit und fünf, eventuell sechs Tage Rückweg, damit ihnen genug Zeit blieb, um Vorkehrungen für die Ankunft der Menschen zu treffen.

Rumo blickte gen Himmel, während er über einen breiten, gut begehbaren Feldweg schlenderte. Fünf Tage waren viel Zeit, Zamonien war – gemessen an anderen Kontinenten – ziemlich klein und der Wolpertinger von Natur aus ein guter, ausdauernder Läufer, sodass er keinen Grund sah, schon jetzt zu hetzten. Lieber wollte er zunächst einmal die unberührte Wildnis genießen, endlich wurden die Gerüche um ihn herum klarer und feiner, die Geräusche leiser und die Wolken wieder weiß und flaumig. Rumo ertappte sich dabei, wie er wie ein Welpe einem Schmetterling hinterher jagte, aus der puren Euphorie heraus endlich nicht mehr in ein enges Apartment in einer völlig überfüllten Stadt gesperrt zu sein. Vergessen konnte er den Grund für seinen Ausflug ins Grüne zwar nicht, aber es würde auch nicht schaden aus der Not eine Tugend zu machen.

Gegen Nachmittag erreichte Rumo den Fuß der kalten Wand. Er verfiel in einen leichten Trab, um etwas Zeit für eine oder zwei Stunden Schlaf in der Nacht hereinzuholen, die er sich gönnen wollte, sobald er den Pass in Richtung Vielwasser überquert hatte. Der Weg quer durch die Süße Wüste wäre zwar um einiges kürzer gewesen, aber aufgrund der dort lauernden Gefahren, gegen die selbst ein gut trainierter Wolpertinger wenig ausrichten konnte, hatte Smeik ihm die etwas längere Route durch die Riesenberge empfohlen. Er würde Vielwasser und Quelltal durchwandern – wenn auch nur am Rande – und dann ein kurzes Stück durch den großen Wald laufen, der direkt an die Finsterberge anschloss. Von dort an war er auf sich allein gestellt, niemand, nicht einmal Smeik, wusste, wie genau man die Nachtschule im Herzen der Berge erreichte.

Dass ihm unterwegs nicht langweilig wurde, dafür wussten Löwenzahn und Grinzold zu sorgen. Den ersten Tag verbrachten die seltsamen Freunde damit, neue Strophen für das Blut-Lied zu dichten, wobei Rumos persönlicher Favorit eindeutig „Darm, Darm, Darm muss spritzen meterweit…“ lautete. Erst langsam wurde ihm bewusst, dass Grinzolds fragwürdiger Humor auf ihn abzufärben schien und er schämte sich ein bisschen. Löwenzahn sang zwar aus voller Kehle krächzend mit, hielt sich aber beim Dichten neuer Verse zurück, Innereien und ihr Flugverhalten war nicht unbedingt sein Thema. Rumo fragte nicht weiter nach, der sensible Part seines beseelten Kurzschwertes hatte immer noch leichte Probleme damit bei Bewusstsein zu bleiben, wenn es zum Kampf kam.

Je weiter der Wolpertinger die kalte Wand hinaufstieg, desto frischer wurde die Luft um ihn herum und er erschauderte. Wo die heiße Wand mit Vulkanen aufwartete, zeigte das Gebirge vor ihm imposante Gletscher und Eisflächen, die Namen kamen also nicht von ungefähr, dennoch war er recht froh, diese Richtung gewählt zu haben. Er holte sich alles in allem doch lieber eine leichte Erkältung, als sich den Schwanz an kochender Lava zu versengen.
 

Es erscheint an dieser Stelle relativ sinnlos seine weitere Reise bis hin zu den Finsterbergen im Detail zu beschreiben, sie war schlicht und ergreifend ereignislos und völlig uninteressant für jeden, der sich nicht über alle Maßen für die geografischen Zusammenhänge zwischen Vielwasser und Quelltal begeistern kann. Zu letzterem nur so viel: Zamonische Geologen gehen seit längerem davon aus, dass es sich bei Quelltal um eine Art Filteranlage für das bekanntermaßen fast schon überirdisch reine Wasser in Vielwasser handelt. Wie genau das vonstatten geht – nun, allein die aktuelle Debatte darüber würde hier den Rahmen sprengen, von den vielen Erklärungen mal ganz abgesehen. Machen wir also an dieser Stelle einen Sprung und richten unseren Blick auf die Ereignisse etwa drei Tage später.
 

Dass es Abend wurde, merkte Rumo an der kühler werdenden Luft. Sehen konnte er den Himmel auch hier, so nahe an den Finsterbergen, nicht, dazu war das Blätterdach der riesenhaften Bäume des großen Waldes noch immer viel zu dicht. Dementsprechend konnte es hier auch nicht viel dunkler werden, es war viel mehr so, dass sich um ihn herum die Lichtverhältnisse anderweitig verändern, wenn es Nacht wurde. Das leicht gelbliche Zwielicht, der Mittagssonne verschmolz in den Abendstunden mit dem bläulichen Dämmern des Mondes, der stetig zunahm und nahezu seine volle Rundung erreicht hatte.

Die kühlere Luft war angenehm, irgendwie beruhigend und erfrischend. Rumo atmete tief ein. Noch immer steckte der Smog der Stadt tief in seiner Luge, das konnte er spüren, doch es wurde mit jedem Atemzug besser. Er war jetzt schon eine ganze Weile durch den Wald gestreift, hatte sich Bäume und Pilze angesehen und dem fernen Gesang der Buntbären gelauscht, aber nicht das Bedürfnis verspürt, Bauming oder eine der anderen Siedlungen zu besuchen. Diese Harmonie, diese Freundlichkeit, dieser penetrante Optimismus – es machte ihn irgendwie krank. Er war einmal dort gewesen – Rala hatte sich einen Ausflug in dieses einzigartige Naturschutzgebiet gewünscht – und sich auf den Rückweg sogleich geschworen, nie wieder auch nur einen Fuß in das Hoheitsgebiet der Bären zu setzten. So oder so führte ihn sein Weg durch eben jenen Teil des Forstes, den die friedfertigen Buntpelze um jeden Preis zu meiden wussten, aus Gründen, die Rumo gut nachvollziehen konnte, nachdem er einem Laubwolf nur knapp und mit einigen Schrammen entronnen war.

Rumo war beinahe froh, als sich der Wald vor ihm zu lichten begann und er sich vor einer hohen, pechschwarzen Felswand wieder fand, die sich vor ihm aufbaute wie ein einziger, aus rußfarbenem Marmor gehauener Block postmoderner zamonischer Kunst. Im fahlen Licht des Mondes konnte der Wolpertinger zwar mit bloßem Auge keine Einzelheiten erkennen, doch als er eine Pranke an den kalten Stein legte, spürte er unter seiner Pfote eine nahezu vollkommen glatte Oberfläche. Hier gab es im Umkreis von mehreren hundert Metern nichts, woran er sich hätte festhalten können, geschweige denn Vorsprünge zum darauf springen und abstützen.

„Verdammt“, murmelte Rumo. „Was zum Teufel ist das?“

„Finsterberggestein der allerfeinsten Sorte, würde ich sagen“, bemerkte Grinzold beinahe schon anerkennend. „Es ist das härteste und zugleich ebenste Gestein direkt nach den Felsen der Dämonenklamm. Da kommst du nicht hoch.“

„Na vielen Dank fürs Mutmachen.“

Rumo war sich ziemlich sicher, dass Grinzold mit den Schultern gezuckt hätte, hätte er welche gehabt. „Das war kein Mutmachen, sondern lediglich eine objektive Betrachtung der Sachlage.“

„Das war es“, pflichtete ihm Löwenzahn bei, wohl eher aus Angst vor seinem unfreiwilligen Lebenspartner als aus wirklich Überzeugung heraus, aber das war dem Dämonenkrieger offenbar egal. Sowieso beschlich Rumo das unbestimmte Gefühl, dass Grinzold sich nicht wirklich viel aus der amüsant-nervigen Frohnatur machte, was im Grunde Schade war, denn Löwenzahn war, wenn man sich erst mal an ihn gewöhnt hatte, ein unersetzlicher Freund und Weggefährte.

Der Wolpertinger ließ sich auf den Boden fallen und strich sich erschöpft über die Hörnchen auf seiner Stirn. „Und was mache ich jetzt? Irgendeine intelligente Idee?“

„Nö.“

„Nein.“

„Na klasse.“, knurrte Rumo und sprang wieder auf die Beine. Einfach nur herum zu sitzen würde seine Situation auch nicht besser machen. Er blickt nach links und rechts, doch soweit er bei diesem Licht blicken konnte machten die Felsen keine Anstalten ihre Oberflächenstruktur zu verändern. Trotzdem beschloss er – nur um sicher zu gehen – einige Meter die Felswand entlang zu laufen und nach eventuellen Unebenheiten, Höhlen und Vorsprüngen zu suchen.

Eine halbe Stunde verbrachte er damit, im Eilschritt am Gebirgssaum entlang zu hetzten, den Blick stets nach oben gerichtet, auf der Suche nach jeder noch so kleinen Unebenheit. Dann und wann hielt er an, um mit der Pfote über das Gestein zu fahren, jedoch ohne Erfolg. Der Fels war spiegelglatt, völlig uneinnehmbar.

Ratlos und frustriert trat Rumo gegen einen herumliegenden Stein, sodass dieser aufflog und gegen die pechschwarze Wand vor ihm prallte. Er hinterließ nicht einmal einen Kratzer.

Blinde Wut überkam den Wolpertinger, er packte sein Schwert, riss es unsanft aus der Scheide und rammte es mit voller Wucht ähnlich einem Kletterhaken in den Fels.

Das zumindest war sein Plan, doch die Klinge rutschte mit einem grauenvoll schrillen Geräusch von der glatten Oberfläche ab. Ein kleines Stück Metall splitterte ab, blinkte kurz im Mondlicht auf und verschwand dann im hohen Gras.

„Au!“, quietschte Löwenzahn. „Spinnst du?“

Rumo hörte nicht auf ihn. Wie ein Berserker hieb er auf das Finsterberggestein ein, mal mit den Klauen, mal mit dem Schwert, das unter der ungewohnten Resistenz des Gegners Fels bedrohlich knackte. All die aufgestauten Aggressionen der vergangenen Tage brachen nun aus ihm heraus, ihm wurde bewusst, wie verdammt viel von dem Gelingen seiner Mission abhing und wie kurz er schon jetzt davor war zu scheitern. Angst überfiel ihn und packte ihn wie ein Greifvogel im Nacken, er zog die Lefzen hoch und steigerte noch einmal die Intensität seiner Schläge.

Löwenzahn schrie entsetzt auf. „Hör auf, du dummes Tier! Du machst uns noch kaputt mit deinem Herumgewüte!“ Grinzold lachte nur dümmlich. Sinnlose Gewalt, das war genau sein Ding. Und wenn dabei etwas in die Brüche ging – nun, um so besser.

Gerade als Löwenzahn wie am Spieß zu kreischen begann, hielt Rumo urplötzlich inne, ganz so als sein in seinem Inneren ein Uhrwerk zum stehen gekommen. Sekundenlang rührte er sich nicht, hielt die Arme in genau der Schlagposition, in der er jäh verharrt war, blinzelte nicht, atmete nicht einmal, sondern lauschte lediglich in die Stille des Waldes hinein.

Da war etwas. Etwas, das eindeutig beweglicher war als die Bäume und Pilze um ihn herum.

Rumo spürte, wie die Luft in seinen Lungen rebellierte und er ausatmen musste. Er öffnete den Mund, um den Molekülen so wenig Widerstand wie nur irgend möglich zu bieten, dennoch war das gedämpfte „haahh“, das seiner Kehle entwich, nicht ganz so leise, wie er es sich gewünscht hatte.

„Was ist denn, was ist denn?“, flüsterte Löwenzahn, der offenbar vergessen hatte, dass ihn eh niemand außer seinem Besitzer hören konnte, aufgeregt.

‚Ruhe’, herrschte Rumo ihn in Gedanken an und drehte sich langsam zum Wald um. ‚Hier ist etwas.’ Dann schloss er die Augen, die bei der Dunkelheit um sie herum eh so gut wie nutzlos waren, und witterte. Seine komplette Umgebung erschien ihm wie ein exotisches Traumland in den unterschiedlichsten Farben, jeder Geruch hatte seine ganz eigene Nuance, seinen eigenen Ton von hellem Gelb bis hin zu dunklem Blau. Die Bäume zum Beispiel, sie waren nicht grün oder braun, sondern hell orange, der Boden weinrot und der Himmel zitronenfarben. Das erscheint im ersten Moment etwas verwirrend, für Rumo jedoch war es besser als alles, was er mit seinem Sehsinn hätte erreichen können. Die Farben waren wesentlich kontrastreicher und die Formen klarer, mal ganz abgesehen davon, dass es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab.

Zunächst brachte ihn diese tierische Fähigkeit jedoch nicht wirklich weiter, der Forst lag ruhig, ja geradezu unberührt vor ihm und schien ihn beinahe fragend anzublicken. Hatte er sich verhört? Möglich war es, es stand zugegebenermaßen etwas unter Spannung.

Doch da war es wieder, dieses leise Rascheln, das ihn aus seiner Raserei geweckt hatte. Offenbar hatte sein Wüten nicht nur Staub und Erde, sondern auch einige Bewohner des Waldes aufgewirbelt, die es nicht einsahen, dass ein wild gewordener Wolpertinger ihnen den Schlaf rauben wollte. Aber wie konnte es sein, dass er nichts sah? Nichts roch? Nach wie vor erstreckte sich vor ihm das bunte Farbenmeer der endlosen Baumreihen, ohne die kleinste Abweichung in der Coloration. Alles schien völlig normal und unschuldig, trotz des inzwischen deutlich hörbaren Blättergeraschels.

In der Sekunde, in der Rumo begriff, womit er es hier zu tun hatte, griff ihn ein Stück des Waldes an.
 

Der Laubwolf hatte seinen Gegner frontal angesprungen und zu Boden gesteckt, bevor dieser überhaupt eine Chance hatte, seine Arme zur Abwehr zu heben. Es war das gleiche Exemplar, das ihm auch schon am frühen Nachmittag desselben Tages das Leben schwer gemacht hatte, das erkannte er an den drei symmetrisch angeordneten roten Ahornblättern in seiner imposant abstehenden Halskrause. Es war ein großes, kräftiges Männchen in seinen besten Jahren, gebaut wie Rumo selbst und sicher um nichts schwächer. Dazu kam, dass er das Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, denn anders als am Tage, wo der Wolpertinger ihn schon von weitem hatte sehen können, war er bei Nacht für ein Wesen, das sich über den Geruchssinn orientierte, beinahe unsichtbar. Er war aus den Materialien des Waldes selbst geschaffen, sein Skelett war aus Holz, sein Fell aus Blättern und seine Zähne und Klauen aus Rinde, hart wie Stein. Rumo fiel auf, dass er den Kampf von vorher tatsächlich mit keinem bestimmten Geruch verband.

Das war im Moment aber bei weitem sein geringstes Problem. Harz tropfte ihm in langen, klebrigen Fäden aus den Lefzen des Wolfes auf Schultern und Gesicht und in seine Oberarme hatten sich spitze Krallen geschlagen. Das Tier hielt ihn mit seinem gesamten Körpergewicht auf den Waldboden gedrückt und schickte sich an, ein großen Stück aus seinem rechten Ohr zu beißen, so zumindest erschien es Rumo, der sich unter ihm wand wie eine übergroße Schlange.

Seine Arme waren gerade so weit von seinem Körper abgespreizt, dass er keine Möglichkeit hatte, sein Schwert zu greifen und aus seinem Gürtel zu ziehen, frustrierenderweise konnte er spüren, wie seine Klauen über das glatte Leder am Griff kratzten, es aber nicht zu fassen bekamen. Grinzolds Stimme hallte in seinem Kopf in abertausenden Echos wieder. „Stich ihn ab, stich in schon ab“, brüllte er verzückt, beinahe schon ekstatisch. „Blut! Wir wollen endlich wieder Blut sehen!“

„Wollen wir nicht!“, quiekte Löwenzahn ängstlich. „Himmel, diese Bestie wird uns zerquetschen wie eine Tomate!“

Rumo mobilisierte seine gesamten Kräfte, stemmte Vorder- und Hinterpfoten in den Boden und drückte den Oberkörper samt Laubwolf nach oben, bis er einen Winkel von etwa fünfundvierzig Grad erreicht hatte. Das wütende Tier schnappte nach ihm, biss jedoch zweimal ins Leere, nah genug allerdings, um Rumo das Sirren der Luft neben seinem Kopf hören zu lassen.

Die aufrechte Haltung war zwar eine Veränderung, jedoch keinesfalls eine Verbesserung seiner Lage. Seine Arme waren nach wie vor wie am Boden festgenagelt, jetzt allerdings an den Unterarmen und Handgelenken, was im Endeffekt noch wesentlich schmerzhafter war, als seine Ausgangsposition. Dazu kam, dass er dem triefenden Gebiss des Wolfes jetzt noch um einiges näher zu sein schien, ihm war, als könne er die Mordlust in den tiefbraunen Augen, die vor seinem Gesicht tanzten, geradezu sehen.

Rumo spürte, wie seine Instinkte in seinem Bewusstsein die Oberhand gewannen. Seine Augen verengten sich zu gefährlichen Schlitzen, er zog die Mundwinkel zurück und entblößte sein Hundegebiss, das dem der Bestie vor ihm in nichts nachstand. Dann warf er sich nach vorne und schlug seine Reißzähne so kraftvoll wie er konnte in die laubüberzogene Schulter seines Gegners. Der Wolf jaulte schrill auf und taumelte zurück, wobei ihm ein guter Fetzen Gewebe aus der Stelle etwas unterhalb seines Halses gerissen wurde. Rumo schmeckte Harz, Holz und etwas, das an Salat denken ließ, wohl aber eher Laub war.

Von viel größerer Wichtigkeit war allerdings die Tatsache, dass seine Pranken nun wieder frei einsetzbar waren

„Jetzt bekommst du dein Blut, Grinzold“, knurrte der Wolpertinger, zog blitzschnell seine Klinge aus dem Gürtel, überhörte Löwenzahns „Ach du meine Güte“ und rammte sie dem verwundeten Laubwolf tief in die Rippen. Sofort quollen zähes Harz und ein undefinierbarer grüner Schleim aus der Wunde und benetzten den Waldboden.

„Tut mir Leid, Kumpel“, murmelte Rumo, „aber ich habe einen Auftrag und du warst ihm irgendwie im Weg.“

„Na ja, Blut ist das nicht gerade…“, beschwerte sich Grinzold.

Sein Besitzer verdrehte die Augen und wischte sein Schwert notdürftig am hohen Gras ab. „Ach halt die Klappe, Dämon. Ich möchte darauf Wetten, dass ich diesem armen Geschöpf nur aufgrund deines schlechten Einflusses ein Loch in den Körper gestanzt habe.“

„Hör doch auf“, winkte Grinzold ab. „Du hast schon früher am laufenden Band gemordet, niemand anderes als Smeik hat es dir beigebracht. Wie alt warst du noch mal, als du die Teufelsfelszyklopen auseinander genommen hast?“

Rumo zog es vor zu schweigen.

Stattdessen wandte er sich wieder seinem eigentlichen Problem, der unüberwindbaren Mauer aus Finsterberggestein, zu. Leider hatte die sich nicht urplötzlich auf wundersame Weise aus dem Staub gemacht, wie Rumo im Stillen gehofft hatte, sondern ragte dort wenige Meter vor ihm standhaft und uneinnehmbar wie eh und je aus dem Boden.

„Gut, wo waren wir…?“, begann der Wolpertinger, verstummte jedoch von der einen auf die andere Sekunde und riss Augen und Maul auf. Ein höllischer Schmerz durchfuhr ihn von den Pfoten bis in die Ohrenspitzen und zwang ihn unwillkürlich in die Knie.

Er wusste, was passiert war, als ihm der stinkende Atem eines ausgehungerten Tieres um die Nase schlug. Der Laubwolf hatte ihn mit der letzten Kraft eines Sterbenden im Nacken gepackt und zerrte mit schwächer werdendem Körper an allem, was er zwischen den Zähnen hatte. Zu Rumos großem Unglück handelte es sich dabei nicht nur um Fell und Muskelgewebe, sondern auch um Atlas und Axis sowie einige der oberen Halswirbel. Er klappte zusammen wie ein Kartenhaus als sich die rasiermesserscharfen Holzzähne in die Nervenstränge seiner Wirbelsäule bohrten wie tausend glühende Nadeln. Verbindungen zwischen Körper und Hirn wurden gekappt, unzählige Synapsen zerbarsten eine nach der anderen in einem schmerzvollen Feuerwerk aus Neurotransmittern und Natriumionen, Axone wurden aus Neuronen gerissen und Myelinscheiden bröckelten wie poröses Gestein.

Vor seinen Augen explodierten die Farben zu bunten Regenbögen und liefen an seinem Sichtfeld hinab, bis sie sich zu einem schmutzigen Grau gemischt hatten, ähnlich dem, das er in Atlantis gesehen hatte. Von Fern klang Löwenzahns fipsige Stimme zu ihm durch, begleitet von grellen Gelbtönen. „Rumo! Rumo! Was ist los? Was passiert hier?“

Dann schlug er mit dem Kopf auf dem trotz des Grases erstaunlich harten Boden auf und ihm wurde schwarz vor den Augen.

Hinter ihm starb zuckend der Laubwolf ohne seinen Biss auch nur im Geringsten zu lockern.
 

Es überraschte Rumo ein wenig, dass er überhaupt wieder zu sich kam. Eigentlich hatte er damit gerechnet, an Ort und Stelle zu Grunde zu gehen, heldenhaft verendet auf der einsamen Mission seinen einzigen Freund zu retten.

Aber so wurde wohl vorerst nichts aus seinem geplanten Heldentod, vielmehr fühlte er sich in dieser Sekunde sofort wieder ehlend, weil er in Gedanken Smeik als seinen einzigen Freund betitelt hatte. Das war schlicht und ergreifend nicht wahr, er erfreute sich einer ganzen Handvoll guter Freunde, die er jedoch soeben degradiert hatte.

Dies schien jedoch nicht gerade der richtige Augenblick, um sich über so etwas Gedanken zu machen. Sein Nacken schmerzte bestialisch und stank nach geronnenem Blut, das wohl sein eigenes war. Außerdem war ihm kalt und auch sonst nicht sehr behaglich zumute. Zeit, die bleischweren Lieder aufzuschlagen und herauszufinden, wo er war.

Rumo sah sich um soweit er es von seiner liegenden Position aus konnte, ohne den Hals zu drehen. Er lag in einem kleinen, fensterlosen Raum, der wohl irgendwann einmal notdürftig aus dem Fels gehauen worden war. Eine einsame Kerze erleuchtete die Umgebung und ließ ihn vermuten, dass er sich auf einer Art Pritsche befand, die, neben einem schmucklosen Tisch, das einzige Möbelstück in der höhlenhaften Kammer darstellte.

Plötzlich schoss ihm ein seltsam erfreulicher Gedanke durch den pochenden Kopf. ‚Ich bin drin. Ich bin in den Finsterbergen. Keine Ahnung, wer mich hier her gebracht hat, aber ich bin in den Finsterbergen.’

Seine Umgebung schwieg ihn an, nicht einmal das kleinste Lüftchen regte sich, es scharrten keine Insekten, noch nicht einmal die Kerzenflamme knisterte. Es war ganz so als wüssten die Materialien um ihn herum, dass er sich fühlte wie nach einer durchzechten Nacht, oder, besser gesagt, wie nach mindestens drei durchzechten Nächten mit einer ordentlichen Prügelei als besonderen Bonus.

Rumo krümmte probeweise zwei Finger seiner rechten und linken Pranke. Es funktionierte überraschend flüssig und auch seine Zehen folgten wie eh und je ihren Befehlen vom Zentralnervensystem. Ob auch seine Reflexbögen weiterhin ihren Dienst taten, konnte er im Moment noch nicht sagen, doch angesichts der positiven Ergebnisse von vorher war er da recht optimistisch.

Noch während der Wolpertinger überlegte, ob er es riskieren sollte, den Obenkörper anzuheben und seinen Nacken abzutasten, vernahm er von fern ein schwaches Geräusch. Es waren Schritte, die sich langsam aber sicher der kleinen Holztür gegenüber seiner Pritsche näherten, direkt davor verstummten und dem Quietschen des Türknaufes wichen, der sich kratzend in seiner Aufhängung drehte.

Das und das Klicken des Schlosses bohrten sich in Rumos angeschlagenes Hirn wie ein Presslufthammer und streckten ihn einmal mehr zu Boden, raubten ihm beinahe wieder die Sinne. Er hörte, wie die das alte Holz über den Steinfußboden schabte und die Schritte auf ihn zu trippelten – es musste sich bei seinem Gast über eine sehr leichte, vielleicht kleine Daseinsform handeln, soviel konnte er ausmachen.

An Wand und Decke begann ein unförmiger Schatten zu tänzeln und Rumo ließ seine Augenlieder wieder zufallen. Die Geräusche, die Bewegung, der aufkommende Luftzug, das alles war noch zu viel für ihn.

Etwas – oder jemand – stand nun neben ihm, nicht unweit seines Kopfes, das konnte er spüren. Kalte Finger umfassten sein Handgelenk und fühlten seinen Puls.

„Regelmäßig. Gut…“, murmelte die Kreatur mit dünner Stimme und Rumo hörte eine Feder über Pergament kratzen. „Weißt du, du hast da unten mächtig Glück gehabt.“

„Wo…“, brachte er mühsam über die trockenen Lippen. Mehr war im Augenblick nicht drin, also musste das als Frage genügen.

Die Antwort kam prompt, wenn auch leicht abwesend. „In den Finsterbergen, wo sonst. Genau genommen in einem der Studentenzimmer. Mit persönlich ist es hier zu hell, aber das spielt wohl keine Rolle. Du kannst wirklich von Glück reden, dass ich noch ein paar Nervendrähte herumfliegen hatte, sonst hättest du deinen letzten Atemzug bereits getan, Junge.“

Rumos Gehirn verstaute diese Information sorgsam, konnte aber in seinem jetzigen Zustand nicht viel damit anfangen.

Er öffnete die Augen wieder. Über ihn gebeugt stand ein gebrechliches Männlein mit großen, leuchtenden Glubschaugen, einem ausgefransten Oberlippenbart und vier seltsamen Auswüchsen an dem dürren, kahlen Schädel. Auf jedem der Gewächse ruhte ein Doktorenhut, deren herabhängende Quasten bei jeder Bewegung vor seinem Gesicht umher baumelten. In der einen Hand hielt er ein Klemmbrett mit eingearbeitetem Tintenfass, in der anderen eine zerfledderte Feder, die Barthaare um seinen schmalen Lippen zitterten leicht, als er leise mit sich selber sprach und sich dann und wann die eine oder andere Notiz machte, während er Rumo von oben bis unten begutachtete.

„Du solltest dich bei Hektor bedanken“, säuselte die hagere Gestalt unbeirrt weiter. „Er hat dich unten aufgelesen und nach hier oben geschleppt, was bei deinem Gewicht wohl nicht allzu leicht gewesen sein dürfte.“

‚Hektor danken’ programmierte sich automatisch in Rumos Großhirnrinde und er fing an, sich etwas besser zu fühlen. Nach und nach begannen sich die Informationselemente in seinem Kopf zu einem großen Ganzen zusammen zu setzten und zu einem Gesamtbild zusammen zu wachsen, das für den Wolpertinger nur einen Schluss zuließ.

„Sie sind Nachtigaller“, keuchte er und sah den alten Kauz mit zusammengekniffenen Augen an. „Nach Ihnen habe ich gesucht.“

Nachtigaller hielt für einen Moment in seiner Untersuchung inne und sah seinen Patienten fragend an. „So? Hast du das?“ Dann schüttelte er kurz aber heftig den Kopf, was die viereckigen Hüte bedrohlich ins Schwanken brachte. „Natürlich hast du das. Sonst wärst du jetzt wohl kaum hier. Weißt du, so was wie den Zufall gibt es nämlich eigentlich gar nicht. Alles um uns herum hat einen tieferen Sinn, es ist eine Kausalfolge nach der anderen, der ewig währende Schmetterlingseffekt, wenn du so willst. Natürlich kannst du nicht ohne Grund hier sein, niemand findet ohne Grund den Weg in meine Nachtschule. Wenn wir also davon ausgehen, dass deine Ankunft hier einen universalen Zusammenhang mit den Ereignissen der vorangehenden Tage darstellt, dann…“

Rumo hob schwerfällig eine Pfote. „Bitte“, röchelte er, „mein Kopf…“

Nachtigaller wirkte einige Sekunden lang verwirrt, dann hellte sich seine Miene auf. „Oh, ach ja, natürlich, dein Gehirn ist noch ein weinig überfordert. Keine Angst, mein Junge, das gibt sich. In ein paar Tagen bist du wieder fit.“

Das war der Moment, in dem sich die Wolken in Rumos Kopf lichteten und er wieder etwas klarer denken und sehen konnte. Seine Augen fokussierten sich automatisch auf den klapprigen Eydeeten und fixierten seine Bewegungen, als dieser in seinem Hemd nach etwas wühlte und dann ein kleines Fläschchen mit einer grünlich schimmernden Flüssigkeit zutage beförderte. „Die Zeit habe ich nicht, ich…“ Er sah auf seine Brunst hinunter und erschrak. „Wo sind meine Sachen?“

„Hm?“, machte Nachtigaller und zog die Flüssigkeit auf eine für Rumos Geschmack etwas zu große Spritze. „Ach du meinst deine Jacke und deinen Dolch?“

„Schwert“, entfuhr es dem Wolpertinger automatisch, dann wurde ihm bewusst, warum es in den letzten Minuten so ungewohnt still in seinem Kopf gewesen war. Löwenzahns und Grinzolds Stimme waren verschwunden. „Ja, genau diese Sachen. Wo sind sie?“

Nachtigaller überlegte einige Sekunden, wobei er sich mit der Spritze der Feder am Kinn kratzte. „Also deine Jacke liegt im Pausenraum, denke ich. Deinen Dolch hat Hektor zum Einschmelzen gegeben, der war nun wirklich nicht mehr schön.“

Rumo fuhr hoch. Ein glühender Schmerz jagte durch seinen ganzen Körper und ließ ihn Sterne sehen, doch das war ihm egal. „Was?“, bellte er. „Dieser Kerl hat WAS mit meinem Schwert gemacht?“

„Beruhige dich, Aufregung schadet deinen neuen Nervenbahnen. Man wird dir ein neues, schöneres Schwert schmieden, einer meiner Schüler ist ein ganz hervorragender Künstler mit Hammer und Amboss, sehr versiert, sehr geschickt.“

Vor Rumos Augen begann sich die Welt erneut zu drehen. „Nein, nein, darum geht es nicht! Ich brauche genau dieses Schwert, verstehen Sie? Genau dieses!“

Er schickte sich an aufzustehen, doch Nachtigaller hielt ihn mit aller Macht zurück. „Himmel, Junge, was liegt dir an diesem alten Eisen? Ein Kämpfer sollte sich nicht nostalgisch an eine Waffe klammern wie an einen Freund. Er muss mit der Zeit gehen. Und dieses rostige Dinge war, mit Verlaub, wirklich aus der Mode.“

Rumo heulte auf wie ein verwundetes Tier – was er ja genau genommen auch war. „Sie begreifen das nicht! Dieses Schwert IST mein Freund.“

Nachtigaller bedachte ihn mit einem Blick, den man einem armen Irren schenkt, wenn man ihn um sein Schicksal bemitleidet. Dann rammte er ihm ohne Vorwarnung die Spritze in den Oberarm.

Rumo widerstand dem Impuls, dem hageren Männlein einen Schlag mit seiner Pranke zu versetzten und konzentrierte sich satt dessen auf einen pochenden Punkt zwischen seinen Augen.

„Schon gut, mein Lieber, schon gut“, sagte Nachtigaller in einem Tonfall, der wohl aufmunternd gemeint war, aber genau das Gegenteil bewirkte. „Du bist noch ein wenig benommen. Sobald diese Medizin wirkt – übrigens ein Heilserum aus gralsunder Knotenknöterich und Midgardlilie, hilft auch gegen den einen oder anderen Furunkel an den Füßen – wirst du dich sofort besser fühlen. Dann kannst du gleich anfangen, mit deinem neuen, verbesserten Freund zu trainieren.“ Rumo ließ sich zurück auf die Pritsche fallen. Wie viel schlimmer konnte seine Situation jetzt noch werden? Einer seiner Freunde verlor gerade seine Existenz, zwei andere ihr Leben – oder das, was davon noch übrig war.

Er fühlte sich müde und kraftlos, ausgezehrt und verbraucht. In Hel war es etwas anderes gewesen, da hatte er eingreifen können, hatte kämpfen können. Jetzt lag er hier und konnte noch nicht einmal gerade stehen, während um ihn herum seine Welt in die Brüche ging. Was würde passieren, wenn es ihm nicht gelang, die Frist einzuhalten? Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit.

Dann begann das ekelig-grüne Mittel in seiner Blutbahn zu wirken und er verfiel in einen unruhigen Schlaf.



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