Zum Inhalt der Seite

Rumo und die Wahrheit der Alchimisten

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Interdimensionale Angelegenheiten

Rumo brauchte eine Weile um zu begreifen, dass er tatsächlich gezogen wurde.

Jemand hatte ihn von hinten gepackt und zerrte ihn nun mit sanfter Gewalt… ja, wohin eigentlich?

Um den Wolpertinger herum war alles stockfinster, nicht einmal die eigene Pfote vor den Augen konnte er erkennen, geschweige denn wohin seine unfreiwillige Reise ging.

Alles, worauf er sich in diesem Augenblick konzentrieren konnte, waren die betäubenden Schmerzen, die von seiner Schulter hinab in seinen gesamten Körper strahlten. Und auch irgendwo knapp unterhalb seiner Lunge schien etwas ganz und gar nicht in Ordnung zu sein - eine warme Flüssigkeit bahnte sich den Weg durch sein Fell seinen Oberschenkel entlang, von der er den unguten Verdacht hatte, dass sie sein eigens Blut war.

"Press deine Pfote auf die Wunde", befahl da plötzlich eine Stimme ganz nah an seinem Ohr und Rumo zuckte unwillkürlich zusammen. Er kannte diese Stimme, wenngleich er im Augenblick nicht wusste, woher genau. "Wenn du zu viel Blut verlierst, wirst du bewusstlos und ich habe beim besten Willen keine Lust dich zu tragen."

Da er grundsätzlich fand, dass das nach einer guten Idee klang, kam Rumo der Aufforderung ohne Widerworte nach. Er tastete mit vorsichtigen Bewegungen nach der schmerzenden Stelle, fühlte die kleine, kreisrunde Wunde und begann langsam die Innenfläche seiner Pfote darauf zu drücken. Es tat höllisch weh und Rumo musste den heftigen Wunsch unterdrücken, laut aufzuheulen.

"Wo bringst du mich hin?", fragte er, als die weißen Sterne aufhörten vor seinen Augen zu tanzen. "Ich war noch nicht fertig mit diesen Typen! Ich muss sie aufhalten!"

Die Stimme an seinem Ohr lachte kurz und freudlos. "Glaub mir, du warst fertig. Mehr als fertig. Und jetzt schließ die Augen, wenn dir dein Verstand lieb ist."

"Wieso das? Hier ist es doch sowieso…"

"Mach einfach, was man dir sagt!"

"Ist ja gut…" Rumo fühlte sich ein wenig eingeschüchtert von dem plötzlich deutlich aggressiveren Unterton der gesichtslosen Stimme, also kniff er schnell die Augenlieder zusammen. Es war seltsam, wie wenig das an den Sichtverhältnissen änderte. Normalerweise hätte in einem solchen Fall seine Nase die Sicht übernehmen sollen, doch dieses Mal blieb das ungewöhnliche Farbenspiel seiner Geruchswelt aus. "Sagst du mir jetzt bitte, wo du mich hinbringst? Wer bist du überhaupt? Kennen wir uns?"

„Hör zu“, seufzte die Stimme hörbar genervt von der Fragerei. „Ich muss mich konzentrieren, sonst kann ich uns überhaupt nirgendwo hinbringen. Ich verspreche, ich beantworte dir all deine Fragen, sobald wir angekommen sind, aber bis dahin bitte ich dich: Halte endlich deinen Mund! Und bei allem was dir heilig ist - zappele nicht so herum!“

„Ich hoffe für dich, dass deine Erklärung eine gute ist“, grummelte Rumo mehr zu sich selbst als zu der Gestalt auf seinem Rücken, ließ dann resignierend und auch irgendwie erschöpft Arme und Beine schlaff herab hängen.

Plötzlich fiel ihm etwas auf.

„Uah!“, machte er und verstieß dabei gewaltig gegen die Anweisung nicht zu zappeln. „Wir schweben!“ Mit einem Mal von einer Woge der Panik überwältig, begann Rumo wie wild mit den Armen zu wedeln und mit den Beinen unter sich ins Nichts zu treten. „Wir schweben!“, wiederholte er dabei. „Wieso schweben wir!? Lass mich nicht fallen! Ich will nicht fallen!“

Wolpertinger waren für festen Boden gemacht. Vielleicht auch für Wasser. Aber ganz sicher nicht für die Luft. Hätte die Natur gewollte, dass sie flögen, hätten sie doch wohl Flügel!

„Hör verdammt noch mal auf damit, du dummer Hund!“, brüllte die Stimme so laut, dass es unangenehm in Rumos empfindlichen Ohren stach. „Wenn du nicht sofort still hältst, strecken wir beide bald knietief in Schwierigkeiten! Ja, du schwebst! Nein, du kannst nicht runter fallen! Alles ist gut, solange du mich jetzt endlich meine Arbeit machen lässt!“

Rumos Herz pochte wie ein Vorschlaghammer gegen seine Rippen und trieb das Blut damit immer gewaltsamer aus seinen Wunden, von denen er die unter seinen Rippen nun wieder hektisch mit der Pfote bedeckte. ‚Beruhige dich!‘, ermahnte er sich selber und zwang sich tief durchzuatmen, um seinen Puls zu verlangsamen. ‚Die Stimme hat Recht, ohnmächtig zu werden hilft mir jetzt auch nicht weiter!‘

„Ich fühle mich komisch“, jammerte Löwenzahn. „Alles ist so dumpf und irgendwie schwummerig. Ich glaube, mir wird schlecht!“

„Dann danke ich den Göttern dafür, dass wir keinen Magen haben!“, kommentierte Grinzold ohne die geringste Spur von Mitleid und erlaubte sich sogar einen kurzen Lacher. „Aber Spaß beiseite, der Weichkeks hat Recht, irgendwie werd ich so‘n flaues Gefühl auch nicht los. Und wer weiß, wo wir landen! Vielleicht werden wir hier gerade entführt! Hey Boss! Mach mal was!“

Rumo lauschte seinen Freunden aufmerksam, froh darüber, dass sie offenbar noch bei ihm waren, auch wenn er sich nicht erinnerte, sein Schwert zurück in die Scheide geschoben zu haben. ‚Ich glaube, wir sollten für den Moment einfach tun, was man uns sagt‘, sandte er ihnen schließlich gedanklich zu. ‚Ich weiß nicht woher, aber diese Stimme kommt mir bekannt vor. Ich werde ihr für den Moment einfach vertrauen.‘

„Na gut, du bist der Chef.“

Eine ganze Weile passierte aus Sicht des Wolpertingers gar nichts. Er hing irgendwo wie schwerelos im Raum, die Augen geschlossen und eine Pfote auf seine blutende Wunde gedrückt, von der er nicht wusste, was sie verursacht haben könnte. Eine unbekannte Gestalt hatte ihn von hinten gepackt und zog ihn rückwärts einem unbekannten Ziel entgegen, um sie herum herrschte Totenstille und eine seltsame, beinahe drückende Stimmung hatte von Rumo Besitz ergriffen, die etwas undefinierbar Bedrohliches hatte, wie nächtliche Schatten auf kahlen Wänden.

Hoffentlich waren sie bald da - wo auch immer „da“ war.

„Zweiundvierzig“, sagte die Stimme.

„Was?“, machte Rumo, aufgeschreckt von dem plötzlichen Laut inmitten des Nichts.

„Pscht! Zweiundvierzig, siebzehn, drehundertdreiundfünfzig, eins, acht, siebentausend....“

Was sollte das denn werden? Rumo lauschte, wie die Stimme nacheinander eine endlose Zahlenreihe aufsagte, die keinem bestimmten System zu folgen schien. Mal waren es sehr große, dann wieder sehr kleine Zahlen, mal gerade, mal ungerade, mal Primzahlen und ab und an sogar Brüche. Er versuchte sich einen Reim darauf zu machen, doch wann immer er glaubte einen roten Faden erkennen zu können, folgte die nächste Zahl und machte seine Überlegungen wieder zunichte.

„Null!“, rief die Stimme schließlich, als Rumo schon lange aufgegeben hatte, nach dem Sinn zu suchen. „Wir sind da! Beinmuskulatur anspannen, Knie leicht anwinkeln, wir landen!“

Es gab ein deutlich vernehmbares „fump“, ein Geräusch, als würde etwas mir Gewalt durch eine enge Öffnung geschossen, und dann spürte der Wolpertinger, wie die Schwerkraft mit aller Macht an ihm riss. Sie erfasste seine Glieder mit eisernem Griff und zog ihn unkontrolliert zu Boden, sodass er zwar zunächst auf seinen Hinterpfoten aufkam, dann aber sofort das Gleichgewicht verlor und der Länge nach auf etwas aufschlug, das eindeutig nach Gestein schmeckte.

Um Rumo herum erhob sich mehrstimmiges Gelächter.

Er ächzte und drehte sich unter einiger Anstrengung auf den Rücken. Mehr war im Moment nicht drin. „Darf ich meine Augen jetzt wieder aufmachen?“

„Ich bitte sogar darum.“

Na endlich! Rumo blinzelte und wartete darauf, dass das Bild vor seinen Augen wieder klar wurde. Jemand hatte sich über ihn gebeugt und sah besorgt auf ihn herunter, eine Gestalt mit jugendlichem Gesicht, blaugrauem Haar und durchdringenden honigfarbenen Augen...

Echo!

Aber wie war das möglich? Er war nicht derjenige, der ihn an diesen Ort gebracht hatte, da war sich der Wolpertinger sicher. Die Stimme des kleinen Alchimisten hätte er sofort wieder erkannt. Und sowieso: Wollte der nicht nach Buchhaim?

Befand er sich in Buchhaim?

„Bleib so liegen, Rumo“, sagte Echo ruhig und hob sanft dessen Pfote von seiner Wunde. „Du hast viel Blut verloren. Ich werde dir jetzt etwas Kochsalzlösung geben und das hier flicken, dann solltest du dich schnell besser fühlen.“

Er fischte einen mit einer Flüssigkeit gefüllten Lederbeutel aus den Tiefen einer Tasche, befestigte einen dünnen Schlauch an dem dafür vorgesehenen Ventil und steckte das andere Ende an eine Spritze, die er daraufhin ohne Vorwarnung in Rumos Arm versenkte.

„Au!“, protestierte der eher aus Überraschung als aus Schmerz - der war an anderen Körperstellen eindeutig penetranter.

Echo grinste entschuldigend. „Tut mir Leid, geht nicht anders. Wenn das Zeug erst mal in deinem Blutkreislauf ist, wirst du mir danken.“ Dann machte er mit einer Hand eine Geste des Heranwinkens. „Blaubär? Kannst du den Beutel kurz hochhalten?“

Rumo widerstand dem Impuls mit dem Oberkörper hochzufahren, um sich umsehen zu können. Blaubär war hier?

Das vertraute Gesicht seines königsblauen Freundes erschien in seinem Sichtfeld und grinste ihm verschmitzt entgegen. „Na Kumpel, wie ist die Lage? Nette Landung übrigens! Ich gebe neun von zehn Punkten mit Abzügen in der B-Note für die fehlenden Flüche. Da hatte Mythenmetz dir eindeutig was voraus!“

„Mythenmetz lebt?“, fragte Rumo und als Blaubär nickte überkam ihn eine Woge unendlicher Erleichterung.

„Allerdings ist er schwer verletzt“, erklärte der Buntbär mit nun eindeutig ernsterem Gesicht. „Echo hat ihn so gut es eben ging versorgt, jetzt schläft er. Mit etwas Glück erholt er sich in ein paar Tagen. Das gilt übrigens auch für dich.“

„Aber wo sind wir?“, wollte Rumo wissen. „Und wie sind wir hierhergekommen? Wenn Echo hier ist, ist das hier Buchhaim? Und was machst du hier? Wolltest du nicht zu den Finsterbergen? Was ist mit Nachtigaller? Was sollen wir...“

„Jetzt beruhige dich erst mal!“, fiel ihm Blaubär ins Wort. „Ich kann ja verstehen, dass du viele Fragen hast - die habe ich auch, das kannst du mir glauben. Aber jetzt solltest du dich erst mal ausruhen!“

Rumo dachte für einen Moment, er habe sich verhört. „Ausruhen? Ich kann mich nicht ausruhen! Da draußen rennen Rudelweise wahnsinnige Kreaturen rum, die meine Heimat zu zerstören drohen! Ich muss sie aufhalten! Sie haben Wolperting schon fast erreicht! Und wer weiß, was sie sonst noch angestellt haben!“

Nun lächelte Blaubär wieder, allerdings war es dieses Mal eine beinahe mitleidige Geste. „Du hast alle Zeit der Welt, Rumo. Und außerdem bleibt dir nicht wirklich eine Wahl...“ Er wedelte leicht mit dem Lederbeutel, den er von Echo in die Hand gedrückt bekommen hatte. „Weißt du, hier ist, ehrlich gesagt, nicht nur Kochsalz drin.“

„Was? Nein!“ Plötzlich bemerkte Rumo, wie seine Zunge begann träge an seinem Gaumen zu kleben. „Die Menschen... Zamonien... Rala...“

Dann verließen ihn seine Kräfte.

Das letzte, was er sah, war Echo, der sich über ihn beugte, ein Skalpell in der vermenschlichten Hand, und mit für Rumos Geschmack etwas zu fröhlicher Stimme sagte: „Dann wollen wir uns mal auf die Suche nach der Kugel machen...“
 

Als Rumo wieder zu sich kam, fühlte er sich erstaunlich gut.

Er hatte keine Schmerzen und auch sonst schien sein gesamter Körper von Grund auf entspannt, ein Zustand, den er schon viel zu lange nicht mehr erlebt hatte.

Mit dieser Erkenntnis kam das schlechte Gewissen.

Er hatte geschlafen! Sein Dorf, seine Heimat, sein Kontinent und vor allem seine Verlobte waren in Gefahr und er hatte geschlafen! Was für ein unverzeihliches Verhalten für jemanden, der sich selbst einen Helden schimpfte. Zamonien ging unter und er ruhte sich währenddessen aus!

„Uugh!“, machte es da irgendwo links neben ihm und Rumo ließ sich für einen Moment von seinem spontanen Selbsthass ablenken. Er drehte den Kopf und erspähte Mythenmetz, der einige Meter entfernt auf einem Feldbett lag.

Sie beide befanden sich in einem kleinen, spartanisch eingerichteten Zimmer, das allem Anschein nach zu einem Bauernhaus gehört, welches seine besten Zeiten allerdings lange hinter sich hatte. Das wenige Tageslicht, das durch ein schmales Fenster herein fiel, beleuchtete alte Holzdielen, neben den beiden wenig luxuriösen Krankenbetten noch zwei Nachttische, auf denen je eine erloschene Kerze stand, und in einer Ecke ein furchtbar mit Spinnenweben überzogenes Regal, in dem ein einzelnes Buch sein freudloses Dasein fristete

Sonst gab es nichts zu sehen.

Mythenmetz hatte sich in seinem Lager aufgerichtet und hielt sich stöhnend die in dicke Mullbinden verpackte Brust. Schweiß stand ihm auf der schuppigen Stirn und seine Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Es war kaum zu übersehen, dass die Schmerzmittel, von denen Rumo vermutete, dass Echo sie ihnen verabreicht hatte, bei ihm weit weniger gut wirkten als bei dem Wolpertinger.

„Vielleicht solltest du dich nicht bewegen“, schlug er gut gemeint vor. Das erste Mal seit Beginn der Reise spürte er so etwas wie Sympathie für die sonst so arrogante Echse.

Mythenmetz schien aus weit entfernten Sphären zu schrecken, so ruckartig zuckte er zusammen, als er Rumos Stimme in der Stille ihrer kleinen Kammer vernahm. Er drehte den Kopf in Richtung des anderen Bettes und sah dem Wolpertinger mit fahrigem Blick in die Augen.

„Sie haben die Lindwurmfeste“, sagte er dann mit kaum hörbarer, zittriger Stimme. „Ich wollte es nicht glauben, bis ich es selbst gesehen habe. Sie haben sie komplett in ihrer Gewalt. So viele sind tot, so viele verletzt. Und ich konnte nichts tun. Ich kam zu spät.“

Rumo wandte sich betreten der Zimmerdecke zu, die Angst in den Augen des Lindwurms war im Angesicht des Selbstzweifels zu schwer zu ertragen. „Das tut mir Leid...“

„Ich wollte helfen“, fuhr Mythenmetz fort, ohne auf die Worte zu reagieren. „Ich war bereit sie eigenhändig auseinander zu nehmen! Es waren doch nur so wenige! Ich bin rein, bin auf sie zu - es war wie ein Spiel für sie! So etwas habe ich noch nie erlebt! Ihre Waffen... sie sind nicht von hier, sie gehören nicht hier her!“

Rumo erinnerte sich an seinen eigenen Kampf, wie die Menschen ihn zunächst in dem Glauben gelassen hatten, er hätte eine reelle Chance. Und wer weiß, vielleicht hätte er die auch gehabt, wäre er nicht gegen seinen Willen vom Schlachtfeld hier her gezerrt worden. Doch er erinnerte sich auch an das Ding, diese seltsame Apparatur, die der Anführer auf ihn gerichtet hatte, er erinnerte sich an den lauten Knall, den Geruch von Schwarzpulver und glühendem Metall, der die Luft erfüllt hatte.

Was war das für ein Ding gewesen?

Der Wolpertinger wusste nur eines: Was auch immer es war, es hatte ihn und offenbar auch Mythenmetz binnen weniger Sekunden sehr schwer verletzt. Und das konnte nur bedeuten, dass es eben jenes Ding war, das den Menschen ihren scheinbar so unüberwindbaren Vorteil gegenüber den Zamoniern verschaffte.

Mythenmetz fasste schließlich in Worte, was auch Rumo nicht umhin kam zu denken. „Du bist doch ein Krieger“, sagte er und erschreckende Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. „Sag mir, wie wir gegen etwas kämpfen sollen, von dem wir nicht wissen, was es ist!“

Auf diese Frage wusste der Wolpertinger beim besten Willen keine Antwort und so war er überaus froh, als genau in diesem Moment jemand an die Tür ihrer kleinen Kammer klopfte.

Die beiden Verletzten hoben den Kopf und Mythenmetz versuchte ganz offensichtlich sich ein wenig zu sammeln. „Herein!“

Die mit Eisenscharnieren beschlagene Holztür schwang knarzend auf und Blaubär streckte seinen Kopf durch den Spalt, wurde dann von Echo, der direkt hinter ihm stand, in den Raum gedrängelt. Der junge Alchimist sah furchtbar müde und erschöpft aus, doch das optimistische Lächeln war ihm nicht vergangen. „Ah, ihr seid wach“, sagte er. „Wie sieht es mit euren Schmerzen aus? Wirken die Schmerzmittel?“

„Mir geht es sehr gut, danke“, antwortete Rumo wahrheitsgemäß und hievte seinen Rücken am Kopfende des kargen Bettes empor, bis er halbwegs aufrecht saß. „Aber ich glaube, unser Schreiberling hier hat ganz schön zu kämpfen. Vielleicht gibst du ihm besser noch ein bisschen von... was auch immer du uns gegeben hast.“

Echo nickte, dann kramte er eine bereits aufgezogene Spritze hervor. Mythenmetz streckte ihm wortlos und doch sichtlich dankbar den schuppigen Arm entgegen. „Das ist Morphium. Starkes Zeug, aber eure Verletzungen sind nicht ohne, also hielt ich es für angebracht.“

Blaubär hatte sich unterdessen am Fußende von Rumos Bett niedergelassen. „Wie sieht es aus, fühlt ihr euch fit genug für eine Lagebesprechung?“

Mythenmetz und Rumo bejaten - keiner von ihnen wollte weitere wertvolle Stunden für ein Nickerchen opfern. Außerdem gab es eindeutig zu viele ungeklärte Fragen.

„Direkt vorweg:“, begann Blaubär und hob abwehrend die Pfoten. „Ich weiß genau so wenig wie ihr. Ich wurde aufgegriffen und das nächste, was ich weiß, ist, dass ich hier gelandet bin. Echo war schon da und stellte fest, dass ich unverletzt bin. Ja und dann kamst auch schon du, Mythenmetz, und du, Rumo.“

Echo schwieg und hantierte auffällig beschäftigt mit ein paar Phiolen in einem Lederbeutel.

Mythenmetz, der mit der zurückkehrenden Farbe in seinem Gesicht auch wieder mehr und mehr zu seinem alten Selbst fand, schlug seine Decke beiseite und schwang die Beine über die Bettkante. „Drängt sich also zunächst einmal eine Frage auf: Wer hat uns hier her gebracht?“

„Das wäre dann wohl ich!“

Alle im Raum außer Echo zuckten beim Klang der schneidenden Stimme, die von irgendwo außerhalb des Zimmers zu ihnen herein drang, zusammen. Ja, dachte Rumo. Das war die Stimme, die ihn her gebracht hatte, ohne Zweifel.

Und jetzt war da auch ein Geruch.

Es war der Geruch von Blut und Tod, der Geruch von Alchimie und Okkultismus, von Bitterkeit und Schmerz. Doch was viel wichtiger war: Es war ein Geruch, den er kannte. Und nun wusste er auch woher.

Er gehört zu jemanden, der vor gar nicht langer Zeit versucht hatte, ihn umzubringen.

Unregelmäßige, klappernde Schritte näherten sich der kleinen Gruppe, die Tür schwang ein weiteres Mal auf und herein trat niemand anderes als der Schattentod, Succubius Eißpin.

Echo machte sich nicht einmal die Mühe von seinen Gerätschaften aufzusehen. „Du hast lange gebraucht“, bemerkte er kühl. „Hat was nicht geklappt?“

Rumo war der Unterkiefer herunter geklappt. „Was macht der denn hier?“, rief er und wedelte fassungslos mit den Armen. „Reicht es nicht, dass wir den Menschen da draußen haarscharf entkommen sind? Müssen wir uns direkt den nächsten dieser Verrückten ins Haus holen?“

Eißpin wandte sich ihm zu und fixierte ihn mit seinem einen sehenden Auge. “Ein Dankeschön dafür, dass ich euch allen in letzter Sekunde den Allerwertesten gerettet habe, würde es auch tun, Wolpertinger.“

Doch Rumo ließ sich nicht beirren. „Gerettet? Schön, vielleicht bin ich in Sicherheit, aber Wolperting ist es nicht. Wenn du Dank dafür willst, dann sollst du ihn haben! Danke! Danke, dass du meine Freunde und Familie in Gefahr gebracht hast!“

„Rumo, jetzt warte doch mal“, versuchte Blaubär zu beschwichtigen und Mythenmetz stimmte prompt mit ein.

„Richtig“, erklärte der Lindwurm. „Wilde Anschuldigungen bringen uns jetzt gar nichts. Was wir brauchen, ist eine vernünftige Erklärung, von Anfang an und ohne irgendwelche Ausflüchte oder dergleichen. Wo sind wir, wie kommen wir hier her, warum sind wir hier? Und vor allem: Was hast du mit alldem zu tun? Das letzte, was ich von dir weiß, ist, dass du uns niemals wieder sehen wolltest, oder irre ich da? Raus damit, Succubius. Du kannst doch sonst so gut erzählen!“

Eißpin ließ diese Spitze gegen ihn unkommentiert und durchquerte stattdessen das Zimmer, bis er an dem kleinen Fenster angelangt war, neben das er sich nun lehnte. „Also gut“, sagte er, als er sich sicher war, dass er allgemeine Aufmerksamkeit bekam. Nur Echo kramte weiter teilnahmslos in seinen Sachen. „Ich schätze, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Beginnen wir dort, wo ihr mich achtlos irgendwo in die Tiefen der Katakomben von Buchhaim geworfen habt.“

Rumo entging der unverhohlene Vorwurf nicht, doch er hütete sich, einen bissigen Kommentar abzugeben. Das war mal eine Geschichte, die er wirklich hören wollte. Und er hoffte für die alte Vogelscheuche, dass sie gut war.

„Ich weiß nicht, wie du das gemacht hast, Hildegunst“, fuhr Eißpin fort, „aber diese Hypnose - das war es doch, nehme ich an - war gut! Ich wachte völlig orientierungslos auf und stellte fest, dass ihr weg wart. Nun, es sollte mir recht sein, auch wenn ich nicht bekam, was man mir versprach.“

Dieser Satz galt Echo, der weiterhin beharrlich schwieg.

„Ich schickte mich also an den Rückweg zu meinem Lager in den Katakomben zu suchen, als mir plötzlich einige Bücherjäger begegneten. An sich nichts ungewöhnliches dort unten, doch anstatt mich vergleichsweise kleinen Kerl wie sonst für leichte Beute zu halten, verfielen sie bei meinem Anblick in helle Panik und flohen in alle Himmelsrichtungen. Von den Bürgern Sledwayas war ich so ein Verhalten ja gewohnt, aber ein baumhoher Blutschink, der vor mir Reißaus nimmt, ohne mich zu kennen - das war dann doch etwas merkwürdig.

Ich beschloss zu tun, was ich die letzten fünf Jahre nicht für nötig befunden und wovor ich mich, um ganz ehrlich zu sein, auch ein wenig gefürchtet hatte: Ich ging an die Oberfläche, um der Sache auf den Grund zu gehen.

Dort fand ich, wie ihr höchstwahrscheinlich auch, Buchhaim nahezu vollkommen verlassen vor, ein derart seltsamer Anblick, dass ich kurzzeitig dachte, ich sei aus Versehen in einer völlig fremden Stadt gelandet. Als ich mir dann jedoch Zugang zu einigen Buchhandlungen und Cafés verschaffte und die dort verschanzten Besitzer befragte, erfuhr ich noch viel Unglaublicheres: Zamonien sei im Krieg, so sagte man es mir. Im Krieg mit niemand geringerem als meiner Rasse, den Menschen!

Nun begannen die Dinge einen Sinn zu ergeben. Deshalb also floh man vor mir. Man hielt mich für einen der Feinde! Offenbar hatten meine Artgenossen ganze Arbeit geleistet, als es darum ging, Angst und Schrecken zu verbreiten. Das rang mir beinahe ein wenig Respekt ab!“ Er lachte meckernd, doch niemand stimmte ein.

„Wie auch immer. Natürlich habe ich noch einige Kontakte zu den Menschen, wenngleich es wenige sind - diese Rasse ist so furchtbar langweilig in ihrem gesamten Wesen. Ich suchte also einen Freund auf, der zufällig in der Nähe Buchhaims lebt, und konfrontierte ihn mit den Gerüchten.

Wie sich herausstellt, war die Wahrheit noch viel schlimmer als befürchtet. Mein Freund ist Bauer und daher nicht in das Kriegsgeschehen verwickelt, doch er berichtete mir voller Stolz, dass es den Menschen gelungen sei, Atlantis, die Finsterberge und die Lindwurmfeste in ihre Gewalt zu bringen. Nun seien sie auf dem Vormarsch nach Wolperting, Sledwaya, Bauming und setzten sogar schon auf die Tatzeninsel über, sodass sie bald alle strategisch wichtigen Punkte des Kontinents besetzt hätten.

Ich verließ meinen Freund, nachdem ich ihn glauben machte, dass ich das Vorhaben meiner Artgenossen voll und ganz unterstützte, doch innerlich war ich entsetzt, so viel könnt ihr mir glauben!

Zamonien ist meine Heimat, mit all seinen Wundern und Absonderlichkeiten. Ich habe diesen Kontinent studiert, ich lebe und atme ihn, ich kann mir ein Dasein ohne ihn einfach nicht vorstellen. Wer weiß, wie die Menschen leben, weiß auch, dass es so was von eintönig und uninteressant ist! Sie sind in ihrer Welt die einzige hoch entwickelte Spezies, kann man sich das vorstellen? Will man sich das vorstellen?

Und das wollten sie nun auch Zamonien antun? Nein nicht mit mir!

Und dann fiel mir etwas auf. Was hatte mein Freund gesagt, welche Städte hatten die Menschen eingenommen? Konnte es da wirklich ein Zufall sein, dass mir nur kurze Zeit zuvor ein Lindwurm, ein Wolpertinger, ein Buntbär und nicht zuletzt Echo über den Weg gelaufen waren? Und nicht irgendein Lindwurm, nicht irgendein Wolpertinger, nicht irgendein Buntbär! Nein! Die bekanntesten, die berühmtesten, die gefährlichsten ihrer Art!

Konnte es sein, dass man sie fortgelockt hatte? Ich musste der Sache auf den Grund gehen.

Euch folgen schied aus - immerhin hatte ich keine Ahnung, wohin ihr auf dem Weg wart. Doch etwas anderes konnte ich tun.

Vor fünf Jahren bediente ich mich eines einfachen Mittels, um Echo daran zu hindern, vor dem mit mir geschlossenen Vertrag einfach davon zu laufen: Ein Bannfluch. Ein posthypnotischer Befehl, eine Art geistige Bindung zu mir, dich ich so formulierte, dass er, wann immer ich daran dachte, zu mir zurückkehren würde, egal, wo ich mich befand. Eine solche Bindung kann nur durch eine bestimmte, vorher festgelegte Formel des Urhebers oder den Tod einer der beiden Parteien gebrochen werden. Beides war nicht geschehen, als Echo mich verließ, und so wusste ich dass der Befehl noch bestand.

Ich ließ meine Gedanken ihn aktivieren und hoffte inständig, Echo würde brav mit euch im Schlepptau an getrottet kommen, doch enttäuschenderweise fand ich ihn einige Tage später allein und völlig verwahrlost am Buchhaimer Stadttor.“

‚Aha‘, dachte Rumo. Deshalb also hatte Echo sich in den Bergen derart merkwürdig verhalten. Eißpin hatte ihn manipuliert, die Entscheidung nach Buchhaim zurück zu reisen war gar nicht die seine gewesen!

„Nachdem ich ihn wieder aufgepäppelt hatte, berichtete er mir, dass ihr auf dem Weg in eure Heimatorte wart und somit drauf und dran in eurer Ahnungslosigkeit den dort wartenden Henken direkt in die Arme zu laufen. Was für ein Desaster!

Wie also verhindern, dass die einzigen Personen, die vielleicht den Hauch einer Chance hatten, dieses ganze Chaos aufzuhalten, durch ihre eigene Idiotie ins offene Messer liefen?

Die einzelnen Orte nacheinander zu bereisen, wäre völlig sinnlos, es würde viel zu viel Zeit kosten.

Oder etwa doch nicht? Gab es vielleicht eine Methode, von einem Ort zum anderen und wieder zurück zu kommen, ohne auch nur eine Sekunde Zeit zu verlieren?“

Mythenmetz stöhnte genervt auf. „Nun mach schon hinne, Succubius! Das ist kein Roman!“

„Na du musst es ja wissen!“, gab Eißpin zurück und fuhr dann fort: „Ja, es gibt eine Methode. Es gab sie schon immer. Nur dass sie sich ein gewöhnlicher Zamonier kaum zu Nutze machen kann.“

Plötzlich sprang Blaubär wie von der Tarantel gestochen auf. „Nein!“, rief er. „Du meinst doch nicht...? Das ist völlig unmöglich! Man kann es nicht steuern! Es ist rein zufällig!“

Eißpin grinste dämonisch. „Ach wirklich? Lass mich dir etwas über die Naturgesetzte sagen, Blaubär. Sie sind niemals zufällig. Alles folgt einem Plan, man muss ihn nur verstehen.“

Rumo sah vom einen zum anderen, in der Hoffnung in den Gesichtern seiner Gefährten lesen zu können, was denn so unmöglich oder eben doch nicht war, doch im Gegensatz zu Blaubär und, dem entgeisterten Blick nach zu urteilen, auch Mythenmetz, verstand er nicht. „Was ist denn nun?“, fragte er ungeduldig. „Wie sind wir hier her gekommen? Hier gibt es immer noch einige Unwissende, falls ihr Genies das vergessen habt.“

„Ganz einfach“, erklärte Eißpin und das selbstgefällige Lächeln auf seinen dünnen Lippen wurde noch ein wenig breiter. „Ich habe nichts Geringeres getan, als durch Dimensionslöcher zu reisen.“

„Halt, halt, halt!“, fuhr Blaubär dazwischen und ging mit ausgestecktem Zeigefinger auf Eißpin zu. „Da passt mir zu vieles nicht! Punkt eins: Der Geruch! Dimensionslöcher riechen ganz extrem nach Gennf, aber ich habe absolut gar nichts gerochen. Punkt zwei: Die saloppe Katatonie! Jeder, der in ein Dimensionsloch stürzt, verfällt in diesen Zustand der Ekstase, aber ich war während der ganzen Zeit absolut klar! Und der dritte und vielleicht entschiedenste Punkt: Dimensionslöcher sind keine Portale! Sie öffnen sich nicht nach Belieben mal hier mal dort! Sie sind da, wo sie eben sind und nirgendwo sonst! Und du wirst uns ja wohl kaum weismachen wollen, dass wir alle gerade zufällig neben einem Dimensionsloch standen, als du uns abgefischt hast!“

„Nein“, antwortete der ehemalige Schrecksenmeister vollkommen unbeeindruckt. „Das will ich nicht, denn so war es nicht.“

„Wie dann?“

„Soll ich euch jetzt wirklich mit allen wissenschaftlichen Details langweilen?“

„Worauf du deinen lächerlichen Pferdeschwanz verwetten kannst!“

„Meinen....?“ Eißpin griff kurz irritiert mit der Hand nach den dünnen Strähnen in seinem Nacken, dann besann er sich. „Also schön. Ich erkläre es euch. Dazu müsst ihr zunächst einmal wissen, was Dimensionlöcher überhaupt sind.“

Blaubär verschränkte die Arme vor der Brust. „Löcher. Tunnel zwischen den einzelnen Dimensionen. Wie es der Name sagt.“

„So weit, so gut. Und woher kommen sie? Warum gibt es sie?“

„Äh...“, machte Blaubär. „Äh...“ Er machte ein Gesicht, als versuche er sich verzweifelt an etwas zu erinnern, kam aber nicht drauf.

Eißpin ging zu ihm herüber und klopfte ihm mit dem langen Fingernagel seines Zeigefingers gegen die Schläfe. „Dazu haben wir keinen Lexikoneintrag, wie? Das liegt daran, dass selbst Nachtigaller darauf noch keine Antwort gefunden hat. Dabei liegt die so nahe.“

Lexikon? Rumo horchte auf, nachdem er bei dem Wort „wissenschaftlich“ ein wenig geistig abgedriftet war. Was hatte es mit diesem Lexikon auf sich, von dem immer wieder die Rede war? Er beschloss, das beizeiten in Erfahrung zu bringen.

„Nachtigallers Fehler war anzunehmen, dass es bei Dimensionslöchern um Zeit geht, doch das ist falsch. Es geht um Energie. Energie im Verhältnis zur Zeit!“ Der alte Alchimist begann nun im Raum auf und ab zu laufen, während er sich sichtlich in eine Art erzählerische Rage redete. „Betrachten wir unsere Dimension einmal als ein einziges, großes, geschlossen System. Wie eine Mini-Biosphäre unter einer hermetisch verriegelten Kuppel. Wie wir nun sicher alle wissen, ist die verfügbare Energie in einem geschlossenen System stets konstant - sie kann weder gebildet noch verbraucht werden. Sie wird lediglich umgesetzt, von Bewegung zu Reibung zu Wärme wieder zu Bewegung - und so weiter eben.“

Nun blieb Eißpin stehen, sah seine drei aufmerksamen Zuhörer an und hob verschwörerisch eine Augenbraue. „Was passiert aber, wenn irgendetwas in einem System mehr Energie braucht, als das System aus den verfügbaren Quellen bereitstellen kann? Dasselbe, was passiert, wenn ich, sagen wir, aus einem sehr dünnen Glaskolben immer mehr und mehr Luft heraus sauge. Er wird versuchen sich zu verformen, doch seine Oberfläche ist zu starr und lässt nur eine sehr geringe Bewegung zu. Also ist er dazu verdammt“ - Eißpin legte seine Fingerspitzen aneinander und zeichnete eine kleine Explosion in die Luft - „zu zerbersten.

Und genau das passiert auch mit unserem Universum, nur dass es, sehr zu unserem Glück, nicht direkt zerbirst, sondern lediglich Risse, Löcher bekommt. Durch diese Kanäle kann es sich Energie aus anderen Dimensionen, Zeiten und Galaxien beschaffen, den eigenen Mangel ausgleichen und seine innere Stabilität wieder herstellen.

Betrachtet man diese Fakten, liegt die Idee nahe, dass es doch irgendwie möglich sein muss, sich diesen Umstand zu Nutze zu machen, die Dimensionslöcher ganz bewusst zu erschaffen, um sie als Portale zu anderen Sphären zu gebrauchen.

Ich muss zugeben, dass mir eine sehr lange Zeit nicht klar war, wie man das würde bewerkstelligen können. Es war ein Jammer, ich errechnete alle theoretischen Aspekte des Reisens im Interdimensionalen Raum - die Algorithmen der dimensionalen Verbindungen, die Metaphysik der Raum-Zeit-Fluktuation, die Warp-Krümmung und die transmateriellen und transenergetischen Wellenbewegungen. Ich war mir zu einhundert Prozent sicher zu wissen, wann ich den leeren Raum verlassen musste, um exakt dort zu landen, wo ich heraus kommen wollte, doch frustrierenderweise kam ich gar nicht erst hinein. Natürlich hätte ich ganz Zamonien nach einem Dimensionsloch ablaufen können, doch das hätte Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern können, und so entschied ich schließlich mich doch wieder anderen, ebenso faszinierenden Frage der Alchimie zuzuwenden - früher oder später würde sicher ein Dimensionlochfund publik werden, ich brauchte nur zu warten.

Schließlich verlor ich meine Theorien über meine restliche Forschung aus den Augen.

Doch die Dinge sollten sich mit einem Mal wieder drastisch ändern, nämlich dann, als ich Echo an den Toren Buchhaims auflas.“

Echo schnaubte aus seiner Ecke heraus, wo er inzwischen einen Lappen hervor gezogen hatte, um seine Ausrüstung zu polieren.

„Auf der Suche nach einem Weg euch zu retten, fragte ich ihn, was genau ihr denn nun eigentlich in Schloss Schattenhall suchtet und nach einigem Drängen war er schließlich bereit mir die Wahrheit zu sagen.

Und die hätte mich beinahe noch mehr erzürnt als das gesamte Vorhaben der Menschen zusammen!“

Eißpins Stimmung war schneller umgeschlagen als das Wetter in den Bergen. Vorher noch der talentierte, unterhaltsame Erzähler, schien er nun vor Wut beinahe zu kochen. „Wie blöd kann man eigentlich sein?“, rief er, während er sich die verbliebenen Haare raufte. „Nicht nur, dass ihr offenbar glaubtet, ein Jahre, ja Jahrzehnte vorbereitetes Werk können binnen Stunden wieder hergestellt und vervollständigt werden! Nein, ihr wärt, ihr seid mit dem Ergebnis in der Tasche auch noch mir nichts, dir nichts durch den halben Kontinent gestiefelt! Was, wenn man es euch abgenommen hätte? Was wäre dann?“

Rumo, der das Gefühl hatte auch mal wieder etwas beitragen zu wollen, verschränkte abwehrend die Arme vor der mittlerweile wieder etwas schmerzenden Brust. „Also zunächst einmal hat Echo es ja wohl geschafft, oder? Er hat einen Weg gefunden Leben zu erschaffen und das Ergebnis aufgeschrieben. Nach allem, was ich weiß, hast du das nicht. Und zweitens: Wir hätten uns die Formel niemals abnehmen lassen, dazu ist sie mir… uns viel zu wichtig.“ Er hatte sich hastig korrigiert und hoffte inständig, dass seine Begleiter diesen Versprecher nur für übersteigerten Egoismus halten würden. „Und überhaupt: Selbst wenn man sie uns abnehmen würde, welchen Schaden kann man denn bitte mit etwas anrichten, das Leben spendet?“

Mythenmetz verzog auf dem anderen Bett gequält lächelnd das Gesicht. „Also theoretisch betrachtet eine ganze Menge...“

„Nicht hilfreich, Lindwurm! Auf wessen Seite stehst du?“

Eißpin massierte sich die Schläfen. „Hört auf zu zanken! Himmel, ihr seid ja schlimmer als kleine Kinder! In Ordnung, lassen wir die Anschuldigungen - passiert ist passiert - und kehren zurück zu den Fakten.

Du hast nur zur Hälfte Recht, Wolpertinger. Das, was Echo dort im Labor zusammen gemixt und gebastelt hat, ist ziemlich beeindruckend, das muss ich neidlos anerkennen. Doch es hat nicht mehr viel mit dem zu tun, was ich vor fünf Jahren zu erreichen versuchte. Mein Ziel war es, Leben zu erhalten, zu verlängern und zwar aus der eigenen Lebenskraft heraus. Ich wollte die in jedem Wesen vorhandene Vis Vitalis stimulieren, sie zu einer niemals versiegenden Quelle umformen, das Perpetuum Mobile Leben sozusagen.

Echo hingegen hat eine ganz neue Lebensenergie generiert und sie einem Körper eingepflanzt, auf dass dieser selbige übernehmen und für sich nutzen konnte. Er und ich haben dieses Prinzip bereit einmal erlebt, auch wenn er seine Versuch sicher nicht mit diesem speziellen Ereignis in Verbindung gebracht hat.“

Nun sah Echo zum ersten Mal seit dem Beginn von Eißpins Ausführungen von seinen alchimistischen Geräten auf. Als hätte ihn soeben eine große Erkenntnis ereilt, riss er die Augen auf und starrte seinen ehemaligen Meister an. „Die gekochten Gespenster!“, hauchte er selbst fast ein wenig geisterhaft. „Natürlich! Warum habe ich daran nicht früher gedacht?!“

„Die gekochten Gespenster!“, wiederholte Eißpin nickend und grinste nun wieder breit. „Echo hat euch wahrscheinlich verschwiegen, dass er zum Abschied in meinem Schloss ein ziemliches Feuerwerk veranstaltete - weswegen es, nebenbei bemerkt, heute nicht mehr existiert. Ohne ins Detail zu gehen: Er beschwor eine Dutzendschaft gekochter Gespenster aus meinem Fettkessel, die daraufhin anfingen, ausgestopfte Kreaturen in meinem Schloss wieder zu beleben. Hässliche Angelegenheit. Hätte uns beide um ein Haar den Kopf gekostet.

Aber sei es drum!

In dem Moment, in dem Echo mir seine Aufzeichnungen zeigte, zählte ich eins und eins zusammen. Was beschwor man, wenn man gekochte Gespenster rief? Lebensenergie! Vis Vitalis! Aus einer anderen Dimension! Das war der Schlüssel! Nur die Lebenskraft selbst war mächtig genug, die Wände zwischen den Dimensionen zu sprengen! Folglich war alles, was man brauchte, um ein Dimensionsloch zu erschaffen, ein Gerät, das Vis Vitalis in reiner Form - also ohne die Gespenster-Hülle - aus dem leeren Raum generiert! Und siehe da: Das hatte Echo soeben erfunden!“

Echo glitt sein Putzlappen aus der Hand. „Deshalb also wolltest du meine Aufzeichnungen! Das Gerät an deinem Arm! Es ist eine Miniaturversion meiner Energiefalle! Die hast du in diesem Keller in Buchhaim, in dem du tagelang verschwunden warst, gebaut!“

Nun fiel Rumo zum ersten Mal etwas an Eißpins linkem Arm auf, das ein wenig aussah, wie eine Uhr, nur war es an einem Lederband von etwa doppelter Breite befestigt und ihr achteckiges „Ziffernblatt“ erinnerte von Weitem an ein winziges, im schwachen Licht der Kammer golden schimmerndes Labyrinth. Dann und wann glomm es weißlich auf, sodass es schien, als pulsiere in ihm ein unregelmäßiger Herzschlag.

Der ehemalige Schrecksenmeister hob sein Handgelenk. „Genauso ist es! Und ich muss sagen, es funktioniert einwandfrei. Danke dafür, Echo!“

Echo schien zu perplex, um zu registrieren, dass ihm gerade eine der wohl bedeutendsten Erfindungen der zamonischen Geschichte gestohlen worden war. Er blickte mit großen Augen auf das glimmende Oktaeder, als hypnotisiere ihn dessen Anblick noch weit mehr als der Bannfluch. „Und ich habe mich die ganze Zeit gefragt, wie du es gemacht hast“, flüsterte er kaum hörbar.

Auch Blaubär beäugte das kleine Gerät, allerdings eher misstrauisch als verwundert. „Und lass mich raten“, sagte er mir deutlicher Skepsis in der Stimme. „Dieses kleine Wunderding hilft auch gegen die saloppe Katatonie?“

„Eher durch Zufall“, gab Eißpin zurück, als sei das das normalste der Welt. „Springt man durch das frisch geöffnete Dimensionsloch, umhüllt einen die Vis Vitalis wie eine Blase, bis man die andere Dimension erreicht. Keine saloppe Katatonie, kein Geruch nach Gennf. Praktisch, nicht?“

„Praktisch?“, rief Mythenmetz aus und warf die Arme in die Luft, was er jedoch offensichtlich sofort wieder bereute, als ihn erneut der Schmerz durchfuhr. „Das ist absolut unglaublich! Das ist eine Revolution! Eine neue Ära! Das ist, als hätte plötzlich jemand heraus gefunden, wie man Blei zu Gold macht!“

Der ehemalige Schrecksenmeister lehnte sich nun wieder lässig neben das kleine Fenster. Ein seltsames Lächeln, das völlig anders schien als das selbstgefällige Grinsen zuvor, umspielte seine Lippen. „Nun mal nicht übertreiben, Hildegunst. So weit sind wir noch lange nicht.“

Erstauntes, verwirrtes, skeptisches und süffisantes Schweigen erfüllte den Raum - sehr abhängig davon, in welches Gesicht man gerade schaute - und konzentrierte sich zu einer seltsamen Mischung, die Rumo alsbald auf die Stimmung schlug. „Also sind wir hier in einer anderen Dimension, oder wie darf ich das verstehen?“, fragte er und sah vom einen zum anderen.

„Nein“, antwortete Eißpin, deutete dann mit dem Daumen über seine Schulter aus dem Fenster. „Das da draußen ist immer noch Zamonien, nur einige Hundert Jahre vor unserer Zeit. Ich sagte doch, dass in Dimensionslöchern der Raum mit der Zeit verbunden ist. Das heißt, dass ich frei wählen kann, ob ich in einer anderen Dimension oder aber in meiner eigenen Dimension zu einem anderen Zeitpunkt wieder aus dem Interdimensionalen Raum aussteigen möchte.“

„Super!“ In Rumos Kopf begannen die Dinge langsam aber sicher einen Sinn zu ergeben. „Dann reisen wir jetzt einfach zurück in unsere Zeit, nur eben einige Wochen früher, finden die Menschen, die hinter dem ganzen Durcheinander stecken und geben denen mal ganz systematisch einen auf den Deckel. Problem gelöst!“

Echo hatte inzwischen seine Phiolen, Spritzen und Tiegelchen wieder verstaut und erhob sich nun, um aus seiner Ecke heraus in den Raum zu treten. „Netter Plan, Rumo“, sagte er dabei und wirkte fast ein wenig mitleidig. „Aber nach allem, was ich über die Raumzeit weiß, wird es so einfach wohl leider nicht sein.“



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück