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Zeitlos -♠-

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Mitternacht

»Was tust du denn noch so spät hier, Jeffrey?«, fragte die Alte und sah zu dem Jungen vor ihr.

Jeffrey war ein höflicher, junger Bursche. Er war gerade einundzwanzig Jahre geworden, doch in seinem Gesicht spiegelte sich noch immer das Kindliche. Seine krumme Nase erinnerte an einen Hügel zum Schlitten fahren, doch meistens achtete man nicht darauf, weil seine strahlend blauen Augen und das freundliche Lächeln jeden in den Bann zog.

»Guten Tag, Madame Stue.« Höflich zog er den zu großen Hut.

»Guten Tag? Es ist mitten in der Nacht, mein Junge. Nun ja, egal, komm rein und mach es dir bequem. Für einen netten Burschen wie dich habe ich immer ein Plätzchen frei.«

Wohl wahr: Alle liebten den kleinen Jeffrey. Er war im Fußballverein und weit und breit bekannt. In seiner Freizeit, neben seinem Medizinstudium, ging er ehrenamtlicher Arbeit nach und kümmerte sich um Kranke und sozial Schwache. Sprich, er half wo er kann, trug der Nachbarin den Müll raus oder nahm des Nachbars Hunde in Pflege. Niemals sagte er nein. Keine Bitte schlug er ab. Und dafür liebten ihn die Leute so.

»Es ist eine kalte Nacht, finden Sie nicht auch, Madame?«

»Bitterkalt! Bitterkalt!«, betonte sie, während sie Jeffrey ins Wohnzimmer geleitete. »Aber was red´ ich da? Möchtest du was trinken, mein Junge? Ich habe noch kühles Bier im Keller.«

Jeffrey setzte sein bestes Lächeln auf und winkte höflich ab.

»Oder kann ich dir etwas zu Essen bringen? Ich hatte heute Abend Schweinebraten.«

»Bitte, nein«, lehnte er ab und ließ seine weißen Zähne blitzen. »Machen Sie sich doch keine Umstände, Madame. Ich bin bloß hier, um Sie zu erschießen.«

Madame Stue lachte noch gellend auf, über Jeffreys kleinen Scherz, der keiner war, bevor Jeffrey ihr die Pistole an die Stirn presste und abdrückte. Ohne mit der Wimper zu zucken sah er sich das Blutbad an, das sich vor ihm gebildet hatte. Langsam steckte er die Waffe wieder weg, beugte sich zu Madame Stue hinunter und streichelte ihr über die zarten Arme. Sein Lächeln wurde breiter, bei dem Anblick aus roter Suppe, der sich ihm bot.

Es faszinierte ihn immer wieder. Ja, es faszinierte ihn, wie schnell doch alles zu Ende sein konnte. Eben noch hatte man gelacht, im nächsten Moment war man tot. Das eine erlebt man noch, das andere schon nicht mehr. Faszinierend, wie schnell es doch immer ging. Von jetzt auf gleich, von einer Sekunde auf die nächste.

Jeffrey kramte in seiner Umhängetasche und zog eine schwarze Spraydose heraus. Dann ging er zu der weißen Wand, hängte die Fotos von Madame Stues Kindern, Ekeln und anderen Verwandten ab und benetzte die Wand mit schwarzer Farbe. Als er fertig war ging er ein paar Schritte zurück, um mit kindlicher Begeisterung sein Werk zu betrachten. Er konnte zufrieden mit sich sein.

Lächelnd steckte er die Sprühdose ein, warf Madame Stue mit herauslaufendem Hirn noch eine letzte Kusshand zu und verließ den Tatort mit dem Wissen, dass niemand ihn, den netten, beliebten Jungen, der eigentlich noch ein Kind war, für diesen Mord verdächtigen würde. Morgen würde die Polizei nur wieder eine Leiche finden und die Worte »Um Mitternacht starb Nummer 4« an der Wand entdecken, die Jeffrey eigens für sie platziert hatte, um ihnen zu zeigen, dass es noch nicht vorbei war, dass noch mehr Opfer folgen würden. Denn er liebte das Gefühl der Macht über Leben und Tod einfach viel zu sehr, als das er es aufgeben würde.

Freundlich lächelnd verließ er das Haus und begab sich in die kühle Nacht, die ihn mit einer eisigen Umarmung begrüßte. Und in Gedanken malte er sich schon aus, wen er als nächstes besuchen würde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  w-shine
2012-05-20T20:08:10+00:00 20.05.2012 22:08
Du hast eine wahre Freude daran, irgendwelche Leute umzubringen und zu erschießen, oder? Bloß gut, dass ich nicht Psychologie studiere - da würd ja nachher noch irgendetwas herein interpretieren!

Nach der Beschreibung von Jeffrey als dem netten Jungen von neben an war das Ende nicht unbedingt zu erwarten - aber auch nicht komplett absurd oder überraschend (wenn man schon mal was von dir gelesen hat ;)).
Der trockene Kommentar von Jeffrey, dass er nur gekommen ist, um sie zu erschießen, war gut gewählt, genauso wie die schnelle Ausführung.
Ich saß kurz vorm Bildschirm und musste noch mal nachschauen, ob das wirklich gerade passiert ist ;)
Ich mag nur das Wort "ausknipsen" im letzten Satz nicht, hätte wahrscheinlich irgendetwas anderes gewählt.
Gut gemacht, (fast) nichts zu meckern :)

LG Shine


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