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Reneé

von

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Unangenehme Überraschungen

Sie saßen am Ufer der Seine. Der Sommer des Jahres 1636 versprach ungewöhnlich heiß zu werden, doch vom Wasser stieg eine angenehme Kühle auf und die hohen Bäume ringsherum spendeten Schatten. Der Fluss plätscherte friedlich an Wiesen und Weiden vorbei, kleinen Dörfern und einzelnen Gehöften. Wenn er zur île Saint-Louis kam, wurde er zur schillernden Pulsader der Stadt.

Der nasse Schlamm am Flussbett durchweichte Aramis marode Stiefel, doch sie merkte es nicht. Ihr Blick ruhte unverändert auf dem fernen Dächermeer hinter den Stadtmauern. Paris, das war endlich wieder Leben, das war Heimkehr, das war Zuhause.

Sie wuschen sich den gröbsten Dreck von Gesicht und Händen, dann brachen sie auf, zum Porte Saint-Antoine. Die Glocken der Kirchen schlugen zur Mittagsstunde, als sie das Stadttor erreichten und mit einem nicht enden wollenden Strom an Reisenden, endlich wieder Paris betraten. Hier standen die Häuser plötzlich dicht an dicht und die Straßen waren voller Unrat und Löcher. Paris war eine dreckige, schmutzige, überfüllte Stadt, mit zu schmalen Gassen, fehlendem Abwasserkanal, holprigen Pflaster und schiefen Häusern. Es war eine Stadt, in der sich Arm und Reich mischten. Auf allen größeren Plätzen tummelten sich die Leute, Bürgerfrauen, Händler, Bettler, vornehme Damen in seidenen bauschigen Kleidern, Herren in Stulpenstiefeln mit lockigen Perücken auf den breiten Spitzenkragen, Kinder, die um die Brunnen herum fangen spielten oder in die Seine sprangen. Junge Mädchen und übermütige Knaben. Ein Gewirr von Kutschen, Karren und Pferde. An den Kirchen und Brücken saßen die Bettler in zerlumpten Kleidern. Ob Krüppel, Einbeinige, Einarmige oder Blind, sie hoben flehend die knochigen Hände und riefen mit dünner Stimme nach einer milden Gabe. Sie wurde bemitleidet, ignoriert, erhört oder grob beiseite gestoßen. Paris war voll lärmender Menschen, voll Geschrei und Gestank und doch voll pulsierender Lebendigkeit und Kraft. Aramis hatte Paris geliebt, doch nun kam sie sich plötzlich fremd vor und das lag nicht allein dran, dass die anderen Bürger naserümpfend einen Bogen um sie schlugen. Um wieder hierher zu kommen, war sie durch eine ganze Reihe von Albträumen gegangen. Erst die Grausamkeit der Schlacht, dann das Entsetzen im Feldlazarett, der Schrecken des Überfalls und die Entbehrung während der Rückreise. Wenn sie hungerte und fror, nicht einen Schritt mehr weitergehen konnte, sich verstecken und fliehen musste, hatte sie immer an Paris denken müssen. Wenn sie nur wieder zurück wäre. Doch nun brannte die Sonne zu heiß, dass Licht schien plötzlich zu grell, die Menschen waren zu laut und geschäftig, die Straßen zu eng. Sie sah ihre Begleiter an. Empfanden sie das gleiche? Gemeinsam hatte sie so viel Schreckliches erlebt und gesehen. Aber Aramis hoffte zu viel. Rocheforts einzige Sorge galt seiner Eitelkeit. Er sah sich immer wieder um, ob ihn jemand erkannte. Rochefort erwartete jetzt ein Palast voller Bediensteter und Annehmlichkeiten. Und Amaury? Amaury war verliebt und er hatte nichts dagegen tun können. Er sah nur, dass ihre gemeinsame Zeit vorbei war.

Sie trieben in der Menschenmenge bis zum Place Royal. Rocheforts lebte im Stadtteil Marais, wie die meisten ranghöheren Adligen. Es war Zeit einen schnellen Abschied von einander zu nehmen. So wie sie aussahen, gehörten sie nicht hierher.

Rochefort musterte ein letztes Mal Aramis.

„Nun denn, Musketier, wir sehen uns gewiss bald wieder. Dann stehen wir wieder auf zwei verschiedenen Seiten.“ Aramis nickte. „Wenn du schweigst über mich, schweige ich über dich!“ Rochefort machte sich Sorgen, wie seine Rolle bei dem Überfall der Spanier aussah und er fürchtete Konsequenzen. Aramis Braue fuhren zusammen. „Was meinst du?“, fragte sie rau. Anstatt einer Antwort sah er sie zweideutig lächelnd an und vollführte einen schwungvollen Diener, der seiner und ihrer heruntergekommenen Erscheinung Hohn versprach. „Denk einfach daran, MUSKETIER, wenn dich jemand nach mir ausfragt.“ Er hob für Amaury die Hand zu einer knapp bemessenen Geste des Abschieds, drehte sich um und stapfte davon. Zurück blieben Aramis und Amaury.

Aramis sah Rochefort besorgt nach. Natürlich verstand sie.

„Aramis?“ Es schien, als habe Amaury, einen Impuls folgend nach ihr greifen wollen, aber seine Schüchternheit hinderte ihn daran. So blieb er mit hängenden Armen vor ihr stehen.

„Hast du eine Unterkunft hier?, fragte Aramis.

„Oh, ja, ja“, versicherte Amaury viel zu hastig, als das es nicht auffällig gewesen wäre, aber Aramis wollte ihm einfach glauben. Wie immer machte irgendetwas in seinem Verhalten sie verlegen.

„Nun, denn“, sagte sie unverbindlich, „vielleicht sehen wir uns bald wieder.“

Er streckte den Aram aus, berührte sie aber wieder nicht.

„Ja?“

„Äh …“, er schwieg kurz verlegen. „Es hört sich dumm an, nach dem was wir die letzten Wochen durchgemacht haben, aber es hat mich gefreut, dich kennengelernt zu haben.“ Er wusste noch immer nicht wohin mit seinen Händen.

Aramis lachte unsicher. „Die Umstände hätten wirklich besser sein können. Nun ja …“, sagte sie, in einem weiteren Versuch endlich gehen zu können. Amaury stand wie ein geprügelter Hund vor ihr.

„Ich geh dann mal“, schloss sie abrupt, mit einem Seitenblick auf einen der Wächter vor dem Stadtpalais, der sich anschickte sie zu verjagen. Amaury war verletzt, obwohl er sich bemühte es nicht zu zeigen.

„Ja“, sage er und hob kurz die Hand. „Au revoir, Aramis“, damit drehte er sich um und ging.

„Amaury!“ Hoffnungsvoll drehte er sich um. „Danke, dass du mein Bein gerettet hast. Ich weiß, dass ihr Lazarettärzte gar nicht die Zeit dafür habt.“ Amaury nickte..
 

Aramis öffnete die Tür zu ihrem Haus und blieb erstarrt in der Tür stehen. In ihrer Stube stand eine Frau. Zwei Kinder hingen an ihrem Rock, ein Drittes saß auf ihrem Arm. Sie hielten inne, bei ihrem Spiel, bei ihrem Streit, bei was auch immer sie gerade getan hatten und starrten stumm zurück. Die Frau kreidebleich, die Kinder mit angstgeweiteten Augen und das Baby mit seinem Daumen im Mund und einen Sabberfaden der vom Mund herablief.

Aramis zog ärgerlich die Augenbraue zusammen. „Was machen Sie in meinem Haus?“ Anstatt einer Antwort begann die Frau zu schreien, schrill und laut und ihre Kinder fielen mit ein. Aramis trat schnell ein und schloss die Tür hinter sich. Die Frau wich samt Kinderschar mehrere Schritte zurück.

„Ich will wissen, was Sie in meinem Haus machen!“, verlangte Aramis abermals zu wissen, aber das Heulen von Frau und Kinder rissen nicht ab. Stiefelschritte trampelten die Treppe hinter Aramis hoch, dann wurde die Tür wieder aufgerissen und drei Männer stürmten hinein. Das Schreien der Frau erstarb.

„Was ist hier los?“ Das war Monsieur Dupont, der Baumeister, der zwei Häuser weiter wohnte. Ein Mann mit Schultern so breit wie ein Schrank und Händen wie Schraubstöcke.

Die Frau wies mit spitzem Finger anklagend auf Aramis. Der Finger zitterte vor Empörung. „Ein Räuber, ein Dieb, Monsieur Dupont, ein Schänder“, kreischte sie. Bei der letzten Bezeichnung riss Aramis eine Augenbraue hoch. Sie stapfte ungeduldig mit dem Fuß auf, nicht im mindesten eingeschüchtert von der Schar finster dreinblickender Männer und den zwei neugierigen Weibern aus der Nachbarschaft, die versuchten durch die Tür zu spähen. Sie war im Recht. „Ich bin Aramis, der Musketier“, erklärte sie rau. „Dies ist mein Haus und ich verlange zu wissen, was hier los ist und was diese Frau hier macht?“

„Ha!“, machte einer der Frauen verächtlich, verkroch sich aber gleich wieder hinter dem Türrahmen.

Der Baumeister musterte ihr abgerissenes Äußeres von oben bis unten. „Erzähl keinen Mist, Freundchen und mach dass du fort kommst! So wie du aussiehst bist du sicherlich kein Musketier!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Hier wohnt Monsieur Leclerc und dies ist sein Weib. Wir kennen und beschützen einander in dieser Nachbarschaft.“

Aramis hob ironisch eine Augenbraue „Ach so?“ „Ich kenne dich auch Ethan Dupont und bis vor wenigen Monaten glaubtest du noch mein Nachbar zu sein.“

„Monsieur Leclerc hat dieses Haus rechtmäßig erworben.“

„So ein Unsinn“, widersprach Aramis ärgerlich. „Von mir hat er es nicht und es ist schließlich mein Haus.“

„Beweise es!“ Stieß einer der anderen Männer hervor. „Du siehst mir nicht einmal danach aus, dass du dir ein Stück Brot leisten könntest.“

Aramis fiel in diesem Moment etwas ganz anderes ein. Sie sah sich um. „Wo sind meine Sachen?“ verlangte sie herrisch von der Frau zu wissen. „Meine Kleider, meine Waffen … alles was sich in meinem Besitz, in diesem Haus befunden hat.“

„Dies ist unser Haus“, gab die Frau noch etwas piepsig, aber angesichts der Männer wesentlich mutiger, mit vorgerecktem Kinn zurück. Aramis schob sie beiseite und lief zum Schrank. Die Männer polterten hinter ihr her. Wütende Rufe folgten ihr. Sie riss die Türen auf, klappte Truhendeckel hoch, öffnete Kommodenschubladen, doch ihre Kleider und Sachen waren nicht mehr da. Sie ging zur hintersten Truhe, schob diese beiseite und hob das Dielenbrett. Ihr Atem ging immer schneller. Der Hohlraum war leer. Ungläubig starrte sie in das Loch. Einer der Männer riss sie hart am Oberarm hoch. „Das reicht“, knurrte er. „Wir holen die Stadtwache! CLÉMENT!!!“, brüllte er und meinte damit den dritten Mann, der auf seinen Befehl hin loseilte.

„Wo ist mein Geld!“, verlangte Aramis zu wissen und schüttelte den Mann ab. Sie sah die Frau mit wuterfülltem Blick an. Die Frau schwieg und hob nur das Kinn noch etwas höher. Sie wusste wovon Aramis sprach, doch schweigender Trotz antwortete ihr.

Der Baumeister trat wieder hervor. „Wo hast du denn deinen Schlüssel, wenn dies dein Haus ist?“, verlangte er zu wissen. Aramis starrte ihn wütend an. „Ich komme gerade vom Feldzug des Königs. Solche Dinge gehen im Krieg verloren.“

„Der König ist von seinem Feldzug schon vor über zwei Monaten zurückgekehrt“, erwiderte der Baumeister kalt. „Und wie ein Soldat siehst du mir nicht aus. Eher wie ein Landstreicher!“´

Er wies mit dem Kinn zur Tür. „Die Stadtwache müsste bald kommen. Dem Kerkermeister kannst du deine Lügen erzählen.“

Wortlos ging Aramis. Die beiden Weiber an der Tür wichen zurück und wären fast den schmalen Treppenpodest hinabgestürzt. An der Tür wandte sich sie sich noch einmal um.

„Das Äußere kann täuschen, Monsieur Dupont. Ich komme wieder!“, erklärte sie würdevoll und stieg die Treppe hinunter.
 

Aramis traktierte vor Wut ihre Zähne, dass der Kiefer schmerzte. Gedemütigt und wütend stand sie auf der Straße und überlegte, was sie als nächstes tun sollte. Sie beschloss Porthos aufzusuchen. Viele Möglichkeiten hatte sie ohnehin nicht. Aramis Leben in Paris hatte nur aus den Musketieren bestanden. Ihre Lügen und ihre Verkleidung zwangen sie zu einem Leben als Einzelgänger und Geheimniskrämer. Ihre einzige wirkliche Beziehung bestand zu Athos und Porthos. Und selbst da war Vorsicht geboten. Suchte sie Asyl bei Porthos, würde der sich wieder wundern, warum sie sich nicht vor ihm auszog. Bei Athos lag der Fall jetzt anders, dachte sie mit brennendem Gesicht. Aber vielleicht reichte es, wenn Porthos mit ihr zusammen hier aufkreuzte. Seine Statur war mindestens genauso imposant wie die von Monsieur Dupont. Doch Porthos war nicht Zuhause. Mit viel Überwindung probierte sie es bei Athos, aber auch hier war die Tür verschlossen. Sicherlich konnten beide heute Dienst haben, aber bevor sie es im Hauptquartier der Musketiere probierte, wollte sie es bei Monsieur Bonacieux, dem Schneider versuchen, denn dort lebte immerhin noch immer D’Artagnan bei ihm und die Musketiere aßen dort dauernd zu Abend. Dabei musste sie leider über den Place de Grève wo die Hinrichtungen stattfanden, um über die Pont au Change auf die andere Seite der Île de la Cité zu gelangen. Sie hätte zu allererst in das Musketierhauptquartier gehen sollen, dachte sie verärgert, anstatt sinnlos durch ganz Paris zu irren. Sie war den ganzen Tag schon unterwegs, hatte weder etwas gegessen, noch sich ausruhen können. Nun forderte ihre Körper die Rechnung ein. Ihre Wunde war noch immer nicht verheilt und Aramis zog das Bein immer stärker nach, je länger der Tag dauerte. Ihr Kopf schmerzte und die grellen Strahlen der Sonne blendeten sie. Auch jetzt fanden Hinrichtungen auf dem Place de Gréve statt und es hatte sich bereits eine dichte Menschenmenge eingefunden. Der Karren mit den Delinquenten rollte gerade heran. Jubel erhob sich. Es war ein schmutziger, mit verdrecktem Stroh ausgelegter Leiterwagen, in denen die bleichen, zerlumpten Gefangenen kauerten. Aramis zwängte sich rücksichtslos durch die Menge und erntete harte Rippenstöße und wütende Flüche dafür. Aus dem Augenwinkel sah sie den Galgen und wie die Gefangenen grob auf das Podest gestoßen wurden. Übelkeit erfasste sie. Wahrscheinlich ist es die Hitze und der leere Magen, dachte sie. Früher hatte ihr das ganze doch auch nichts ausgemacht, doch plötzlich empfand die sie leisen wollüstigen Seufzer der Zuschauer und deren erregtes Glimmern in den Augen widerwärtig und ekelerregend.

Bei ihrer langen Suche war es mittlerweile Abendstunde in Paris geworden. Es blieb drückend heiß und der Schweiß klebte auf ihrer Haut. Die Hitze hatte sich zwischen den dichtgedrängten Häusern und engen Gassen gefangen und ließ die Luft flimmern. Eine ganze Auswahl an unangenehmen Gerüchen lag bleischwer in der Luft. Endlich kam Monsieur Bonacieux Haus in Sicht. Sie lehnte sich an eine Hauswand, um ihre letzte verbliebene Kraft zu sammeln.

Mit der Hitze des Tages stolperte sie direkt in die gute Stube, wo sich um den Esstisch des Hausherrn ihre Freunde zum Abendessen eingefunden hatten. Was für ein Glück.

Die Tür fiel polternd zu und die vertrauten Menschen am Tisch wandten sich verwundert zu dem unerwarteten Gast um. Sie sagten nichts, sie starrten sie nur an. Porthos Kinnlade klappte herunter. Athos wurde kreidebleich, D’Artagnon glotze sie mit offenem Mund an, Constanze und Monsieur Bonacieux musterten sie mit ungläubiger Miene. Es hatte ihnen bei ihrem Anblick sprichwörtlich die Sprache verschlagen. Die Tür zur Küche ging auf und Martha kam heraus. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und ließ den Suppentopf fallen. Aramis Kopfschmerzen wurden schlimmer.

„A … Aramis???“, krächzte Porthos mühsam. Aramis runzelte die Stirn. Sollte das eine Frage sein? Sie versuchte zu lächeln, aber angesichts der völlig entsetzten Gesichter, misslang ihr dies gründlich.

„Wer soll ich denn sonst sein? Warum starrt ihr mich alle an, als wäre ich ein Geist, fragte sie mit kehliger Stimme. Constance schlug erschrocken die Hände vor das Gesicht. Martha bekreuzigte sich und fiel polternd in Ohnmacht.

War dieses zerlumpte Wesen dort wirklich Aramis? Aramis war doch tot. Mit trauerden Herzen hatten sie dies mühsam akzeptieren müssen. Und doch stand diese abgerissene, ausgezehrte Gestalt vor ihnen und sprach mit der Stimme eines Totgeglaubten und obwohl die einst makellose Haut mit verschorften Kratzern übersäht und das Gesicht erschreckend mager war, waren unter dem Dreck doch Aramis Gesichtszüge erkennbar.

Die vertraute Stimme war es wohl, die alle Zweifel ausräumte, obwohl auch diese lädiert und zerkratzt klang.

Aus Porthos Kehle entfuhr ein tiefes Ächzen. D’Artagnans Mund klappte wieder zu. Athos erhob sich wie in Trance, blieb aber regungslos stehen, weil er noch immer nicht glaubte, was er sah. Dabei war der Körpergeruch von Aramis durchaus irdisch.

Aramis schwankte mittlerweile vor Schwäche und war kurz davor umzukippen. Sie war mit ihrer Geduld am Ende.

„Was habt ihr denn alle?“, schimpfte sie aufgebracht und zerriss die lähmende Stille. „Was starrt ihr mich so an?“

„Du lebst!“, schrie D’Artagnan etwas zu schrill und sprang auf. „Du lebst!“

Aramis zog die Augenbraue hoch und verstand nicht, warum etwas so offensichtliches, so überraschend erschien. „Natürlich lebe ich!“, erklärte sie.

D’Artagnan umarmte sie überschwänglich, ließ sie aber sogleich wieder erschrocken los, als er den viel zu mageren zerbrechlichen Körper spürte. Sichtlich bestürzt sah er sie an. Aramis Augen glänzten fiebrig und sie zitterte vor Erschöpfung. D’Artagnan zog ihr seinen Stuhl heran, doch sie schüttelte seine Hand ab, getrieben von falschem Stolz. Die anderen starrten sie unentwegt an, mit einer Mischung aus Neugier und Schuldbewusstsein. In ihren Gesichtern konnte sie ablesen, wie erbärmlich sie aussah und das machte sie wütend. Sie fühlte sich gereizt und müde. Da saßen sie, sauber, satt und leichtgläubig.

„Was ist denn passiert?“ Aramis blieb stumm. Athos bemerkte, wie ihr Mund sich in einen schmalen Strich verwandelte.

„Aramis?“, fragte er sanft. Sie zuckte bei dem Klang seiner Stimme zusammen, sah ihn aber nicht an. Sie hatte nicht die geringste Lust über den Überfall und die Zeit danach zu reden. Mit abweisendem Blick nagte sie an ihrer Unterlippe und schien zu überlegen. Dann nickte sie und ging zu einem der freien Stühle. Ihr Rücken war durchgedrückt, aber sie zog das verletzte Bein nach. Die Blicke der Anderen folgten ihr.

Vor ihr lagen die Reste des Essens. Aramis schlug unter dem Tisch die Fingernägel in die Handfläche, um sich nicht darauf zu stürzten. Sie konnte jedoch nicht verhindern, dass ihr Blick ständig am Essen hängenblieb. Constance folgte ihrem Blick und schob ihr wortlos das Brot hin. Dankbar schlug Aramis die Zähne in den weichen Teig und versank in seinem Geruch, bevor sie es viel zu gierig herunterschlang. Das herunterschlucken der fast unzerkauten Brocken, klang viel zu laut und gefräßig. Dabei erzählte sie, kurz und knapp und völlig schnörkellos.

Athos sah sie an. Er fand, sie sah aus wie ein hungriges, räudiges Tier und selten hatte er sich so erschreckt. Er schaute sie immer wieder an, als müsste er sich vergewissern, dass sie kein Trugbild war. Sein Herz schlug plötzlich ungewohnt heftig und er hatte das merkwürdige Gefühl auf brennenden Kohlen zu sitzen. Seine Finger kribbelten vor unbändiger Lust, die Hand auszustrecken und sie zu berühren. Hätte er dem nachgegeben, hätte er sie nicht mehr loslassen können.

Während Aramis sprach und aß, tätschelte ihr Porthos in regelmäßigen Abständen kameradschaftlich die Schulter, als wollte er sichergehen, dass sie „wirklich“ war. Dabei schniefte er vor Rührung laut und seine Augen glänzten feucht. Er war so glücklich, dass er tatsächlich das Essen vergaß.

„Jetzt wissen wir, dass du lebst, aber nicht warum du so aussiehst“, sagte er.

„Kannst du dir das nicht denken?“, entgegnete Aramis verstimmt, „Mir wurde keine Kutsche entgegengeschickt.“

„Ist das denn etwa noch immer die gleiche Uniform, mit der wir dich zurückgelassen haben?“

„Ähm, ja“, gestand sie, „natürlich.“

„Du trägst wochenlang ein und dieselbe Kleidung, gerade du?“, stänkerte er, gespielt schockiert. „Du siehst fürchterlich aus.“

Aramis sah ihn säuerlich an. Natürlich tat sie das. Sie hatten viele, viele Meilen zu Fuß zurückgelegt, unterbrochen von kurzen Fahrten auf schaukelnden Bauernwagen, wo sie sich in einer Ecke zusammenkauern durfte und entsetzliche drei Tage auf einem abgetakelten, tief und schräg im Wasser liegenden Schoner, mit zwielichtigen Gestalten als Besatzung. Zu Fuß wäre es sicherer gewesen, aber so konnten sie ihre müden, mit Blasen übersäten Füße hochlegen. Sie hatten sich die Fahrt mit Amaurys Dienste als Arzt erkauft. Doch es waren wankelmütige Wohltäter und der ein oder andere Passagier landete unterwegs im Wasser, einfach über Bord geworfen. Zum Glück war Aramis zu dreckig, um lüstern betrachtet zu werden. Nass, verdreckt, halb verhungert und völlig übermüdet kamen sie letztendlich in Paris an. Sie war so müde, dass sie meinte Jahre schlafen zu können.

„Ich habe kein Zuhause mehr, wo ich mich hätte waschen und umkleiden könnte“, erklärte sie beleidigt. „Als ich nach Hause komme, steht plötzlich eine kreischende Frau vor mir und behauptet, das Haus gehöre ihr.“

Porthos sah sie betreten an und wich doch ihrem direkten Blick aus. „Nun ja, wir dachten, du wärst tot. Was mit deinem Haus passiert, erschien uns nicht wichtig.“

„Jetzt hat sie mein gesamtes Habe und meine Ersparnisse. Ich habe nicht einmal andere Kleider.“

„Du kannst bei mir wohnen!“ Aramis sah erschrocken auf und direkt in Athos sturmgraue Augen. Seine Stimme jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken. Sie schluckte trocken. Ihre Reaktion auf ihn, erinnerte sie daran, warum sie nicht mit ihm gehen sollte. Bilder aus der Nacht vor der Schlacht in seinem Zelt, jagten durch ihren Kopf. Dachte er auch gerade daran? Sie suchte seinen Blick, um darin zu lesen und er sah offen zurück. Natürlich nicht. Röte überzog ihr Gesicht. Deutlicher konnte der Kontrast zwischen ihnen nicht sein. Sie war dreckig, stinkend, mit öligen Haaren, mager und abgezehrt, mit überall zerrissener, nach säuerlichem Schweiß stinkender Kleidung. Er war stattlich, sauber, in tadellos sitzender Kleidung.

„Wo willst du sonst hin“, fragte er mit einem feinen Lächeln, wohl wissend, dass ihr keine andere Wahl blieb.

„Du kannst auch bei mir schlafen“, bot Porthos an.

„Du kannst natürlich auch bei Porthos schlafen“, wiederholte Athos und nur Aramis hörte die Belustigung in seiner Stimme.

Aramis sah sie durch den Schleier der Erschöpfung an. „Ich komme mit dir, Athos. Lass gut sein, Porthos!“ Porthos schob schmollen die Unterlippe vor.

„Wie ich dich kenne, hast du sicherlich heute Nacht wieder Damenbesuch. Dabei will ich dich nicht stören“, lenkte sie ein. Die Miene ihres Freunds hellte sich auf.

„Oh, ich teile sie gerne mit dir.“

„Ich aber nicht“, murmelte Aramis müde.

„Tja“, sagte Athos, „na dann!“ Und das kleine Wörtchen war mit reichlich Bedeutung geladen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  blubbie
2012-09-27T21:49:42+00:00 27.09.2012 23:49
Oohhh!!!!!!!!!!! Ich war viel zu lange nicht emhr hier und jetzt sind gleich zwei Kapitel hochgeladen. Ich freu mich hier einen Keks.^^ und Aramis hat es geschafft nach Paris zu kommen. Ich musste ja so grinsen, als sie zu sich nach Hause gehen wollte. Obwohl sie mir eigtl ziemlich leid tat. Das ist echt bitter...nach allem was sie durchgemacht hat plötzlich auf der Straße zu sein. Und dass sie Amaury so hat stehen lassen...wo will der Ärmste denn jetzt hin??????? Ich kann sie zwar irgendwie verstehen, aber...aber.... Na ja, der wird schon wieder auftauchen, schätze ich mal.
Und dann so ein Glück, dass sie alle am Essenstisch bei den Bonancieuxs erwischt hat...göttlich!!!!! Aber wenn dass sie noch Kraft für falschen Stolz hatte, wundert mich ja. Bzw. ich bewundere ihre Energie. Und Porthos der total das Essen vergisst...hihihi. Den Ärmsten sollte sie jetzt aber langsam mal einweihen. Immerhin weiß sie, dass rochefort es weiß...und auch wenn er nichts sagt, finde ich es ncoiht gut, wenn der Feind (das ist er ja jetzt wieder) etwas so wichtiges über jemanden wei udn der beste Freund nicht! D'Artagnan wusste es doch in Deiner Geschichte oder? Ich glaube die Frage nach der Schwangerschaft hat sich auch erledigt...nach drei monaten Strapazen wäre es doch ein etwas größeres Wunder, wennd er Fetus das überlebt hätte.
Aber hey....sie wohnt jetzt bei ATHOS ....hehehe....und ich kann direkt im nächsten Kapitel darüber lesen!!!!!!!! Ich bin dann mal weg tüdelü :)
Von:  Tach
2012-09-09T15:17:13+00:00 09.09.2012 17:17
Endlich komm ich dazu, einen Kommentar zu schreiben. Also, ich bin schwer angetan, um nicht zu sagen, ich habe sehr albern über Athos' Angebot gekichert. Ich freu mich jetzt schon auf das, was da kommen wird! Ich finde besonders den Moment sehr gelungen, als Aramis plötzlich bei Mr. Bonacieux auftaucht. Ganz groß!
Von:  Kira_Lira
2012-08-07T23:31:02+00:00 08.08.2012 01:31
Hello! I hope this good? ^ _____ ^ Thanks for update, a painful chapter for Aramis, Aramis finally back to Paris, at first I thought I was dreaming, but when I speak of his fellow adventurers knew it was true, before separating Rocheford him a warning to Aramis, she did not understand but it is clear that you know the truth, he knows she is a woman, this will create problems later?, Aramis poor manage to survive only to realize you're on the street, looking like it has not I believe he is, they have stolen all about recovery and talk to the captain, these crooks will pay dearly, Aramis is looking for his friends but finds them and is very tired, his last opportunity is at home of Dartagnan, with a last effort has come, all are there, I thought that opening the door she desmallaría, but his pride would not let her, all incredulous at the sight, make Aramis is angry, she is dying and they do not move, Aramis try to save a little dignity to the food, but does not eat much, your friends can see how pale and thinner than this, first of all need a doctor and a bathroom, they can see that even limping? Aramis tells them what happened and how to reach is homeless, Athos so far had not said anything he says can stay with him, Aramis is embarrassed by his appearance, he knows he is a woman, even that at that time seems neither human, but she is more concerned about facing what happened in his shop, but knows that he has no choice, for Athos is heaven, he had held the power to hold her, but now that will have to himself, will show you what has been missed, all is still incredulous, but are happy that Aramis is alive and return to them, their friends have to help her regain her life, Aramis had felt nauseous when I will be that if you are pregnant, I think the best option would be to stay with Dartagnan, for after eating will not be able to move, I hope you speak clearly about the captain, given a hero's welcome, he restored their goods and a reward worthy, but there happens when you have to confront what happened because of Earl, now sees Athos may have a second chance with Aramis, I hope to speak clearly to her, Aramis feel ashamed of that time, he has to tell you was the love of his life, to have if you want to make Aramis, indeed be dead, I hope it takes to update again, because I do not know when it arrives here, thanks for sharing ^ _____ ^.

Von:  citosol
2012-08-05T22:46:40+00:00 06.08.2012 00:46
FINALLY!!! ^^ At least Athos and Aramis are together :D
She is ashamed, he doesn't show any emotion, OMG, they're back!! They must face what happened that night...I really cannot wait for them to do that! ;P
I felt really sorry for Aramis when she thought she was dirty and thin and ugly, while Athos was handsome, clean...the usual gorgeous Athos!
But I bet he definitely doesn't think Aramis is less then perfect, because she "did" something to him "that" night, I bet she fascinated him!
I loved the way he told:"Oh yes, you can sleep with Porthos" knowing for sure he would have HATED that! LOL

OMG. Now you must post the next chapter VERY quick because otherwise it would be a real TORTURE to wait for it!!!
I WANT TO KNOW WHAT'S GOING TO HAPPEN BETWEEN THOSE TWO!!!! ;)

Thanks for having update your story, and THANKS for being an A/A fan!!

A big kiss and a hug!
(hope to see you soon)

citosol


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