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Forever

von

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Kapitel 1
 

Wir waren beste Freunde. Ich wünschte, wir wären mehr gewesen als das. Jetzt ist es zu spät für solche Gedanken und alles ist vorbei. Zumindest fühlt es sich so an. Der Gang über die Flughafen-Halle hinüber zum Boarding-Schalter fühlt sich seltsam surreal an, denn den Grund für den kommenden Flug habe ich noch immer nicht so ganz fassen können. Wahrscheinlich ist alles nur ein dummer Scherz und in Tokyo wartet er strahlend und mit ausgebreiteten Armen auf mich. Wir gehen zusammen Essen, lachen und planen die Zukunft. Am Abend trinken wir einen über den Durst und fallen völlig erschöpft auf die Couch in seinem Wohnzimmer nur um am nächsten Morgen mit einem ausgewachsenen Kater und Rückenschmerzen aufzuwachen.
 

„Ihr Ticket, bitte!“ Die Stimme der freundlich lächelnden Airline-Mitarbeiterin reißt mich aus meinen naiven Gedanken und holt mich zurück in die verstörende Realität. Abwesend reiche ich ihr die geforderten Papiere und werfe einen Blick durch das Fenster auf die Rollbahn des Los Angeles Airport. Die Sonne knallt auf den Asphalt hinab und blendet meine überanstrengten Augen. Vielleicht wäre es doch eine gute Idee gewesen die letzte Nacht zu Hause zum Schlafen zu nutzen... aber daran war natürlich nicht zu denken gewesen.
 

Die Karawane aus Urlaubern und Geschäftsleuten bewegt sich in Richtung des Flugzeugs und hätten von hinten nicht zwei schlecht gelaunte Anzugträger gedrängelt wären meine Füße glatt auf der Stelle stehen geblieben. Alles in mir wehrt sich dagegen dieses Flugzeug zu betreten und zu akzeptieren, was mein Unterbewusstsein bereits als traurige Realität akzeptiert hat. Bis ich auf meinem bequemen Platz in der ersten Klasse sitze habe ich das Gefühl immer wieder halb das Bewusstsein zu verlieren. Mein Körper bewegt sich aus eigenem Antrieb, funktioniert um den Eindruck von Normalität zu wahren, doch meine Gedanken schweben um andere Dinge.
 

Während der Trubel um mich herum langsam abebbt und das Warten auf den Abflug beginnt, versuche ich einen Moment die Augen zu schließen, doch sofort empfängt mich ein strahlendes, nur allzu bekanntes Gesicht, das mir einen Schauer über den Rücken jagt und mich dazu zwingt, die Lider wieder zu öffnen. Der Gedanke, dass er wirklich nicht mehr hier sein soll, ist unerträglich und ihn zuzulassen würde etwa einem Sprung vom nächsten Hochhaus gleichkommen.
 

Das leichte Vibrieren und das Rauschen der Triebwerke, als sich der Flieger endlich in Bewegung setzt, wirken beruhigend und fast schon hypnotisierend. Wie oft bin ich in den letzten Jahren an dieser Stelle gesessen und habe diese flaue Gefühl im Magen verspürt? Aber nicht einmal unter diesen unzähligen Flügen habe ich eine derartige Ohnmacht erlebt, die mir beinahe den Atem raubt. Wie immer, wenn ich unter Stress stehe, spüre ich die alten Wunden in meinen Handgelenken, den dumpfen, pulsierenden Schmerz, der gleichzeitig unerträglich und doch so beruhigend ist. Vorsichtig reibe ich mit den Fingern über die Gelenke und massiere die schmerzenden Stellen leicht, als ob das etwas ändern würde.
 

Aus den Augenwinkeln erkenne ich, wie der kleine Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes aufflackert und das Bild der NHK Nachrichten erscheint. Es versetzt mir einen schmerzhaften Stich, wenn ich daran denke, wie klein meine Probleme im Vergleich zu denen im Rest der Welt zu sein scheinen. Neben Kriegen, Verbrechen und politischen Krisen ist der Tod eines einzigen Menschen wohl kaum einer Erwähnung wert, auch wenn er für mich eine ganze Welt zum Einsturz bringt. Ich muss stark sein, muss mich um so vieles kümmern, was dort in Tokyo auf mich warten wird, obwohl mir eigentlich nur nach einem stillen dunklen Ort ist, an dem ich mich mit meinen eigenen Erinnerungen vergraben kann.
 

„...das Foto sieht doch verboten aus!“ Scheinbar hat doch noch jemand den leeren Platz zu meiner Linken an sich gerissen, aber es interessiert mich nicht genug um den Blick vom Fenster zu heben vor dem Los Angeles langsam am Horizont verschwindet. Die Stimme scheint mir seltsam vertraut, wahrscheinlich nur eine Einbildung und trotzdem bringt sie mich fast dazu einige wenige Tränen zu vergießen. Ein leises Kichern setzt noch einen oben drauf und lässt mich leise seufzen.
 

„Hey, Yo-chan, findest du nicht auch, dass die mich richtig mies getroffen haben?“, fragt die Stimme neben mir gespielt empört. Warum nennt mich diese Person so, absolut respektlos und noch dazu unpassend. Ich habe keine Lust mich mit irgend jemandem zu unterhalten oder über solche Belanglosigkeiten auch nur nachzudenken. Fast schon automatisch sehe ich mir doch für einen kurzen Moment die Nachrichten an und meine beinahe mein Herz bliebe stehen. Der letzte Funke Hoffnung erlischt, das Bild vor meinem inneren Auge, das mir sein lachendes Gesicht am Tokyoter Flughafen zeigt, wirkt plötzlich erschreckend verzerrt und entstellt bevor es schließlich verschwindet.
 

Auf dem kleinen Bildschirm nur wenige Dutzend Zentimeter entfernt grinst mich ein jugendlich erscheindender Mann an, ein glückliches Funkeln in den dunklen Augen und eine Strähne seines grell gefärbten Haares hängt ihm in der Stirn. Obwohl ich es versuche, kann ich den Blick nicht davon lösen und sehe die Worte, die unter dem Bild stehen. Sie verschwimmen vor meinen Augen, trotzdem verstehe ich ihren Sinn. „Die sagen, dass du tot bist...“, flüstere ich der Person neben mir gedankenverloren zu. Ein kurzer Blick zu meiner Linken bestätigt, was ich vom ersten Augenblick an genauso gehofft, wie auch befürchtet hatte. „Wie können die so etwas behaupten, wenn du doch hier bist?“

Kapitel 2
 

Die folgenden Tage vergehen wie im Fluge. Manchmal glaube ich, wirklich verrückt zu werden und meinen Verstand gänzlich zu verlieren. Als ich Pata kurz nach der Landung in Narita von meiner Begegnung im Flugzeug erzähle, schenkt dieser mir nach kurzer Verwirrung einen mitleidigen doch auch ebenso verständnisvollen Blick. Seine Augen sind gerötet von Tränen, die er im Geheimen vergossen haben muss, doch nach Außen wirkt er stark wir immer.
 

Einen Freund so früh verabschieden zu müssen kann sich wohl nicht richtig anfühlen. Ihn dort liegen zu sehen, den wahrhaftigen Beweis für seinen Tod zu haben, ist allerdings noch einmal eine ganz andere Sache. Im Angesicht der Tatsache, dass mein bester Freund wirklich fort ist, fällt es mir unendlich schwer den Schein zu wahren und weiterhin Stärke vorzuspielen. Langsam glaube ich selbst, dass meine Begegnung auf dem Weg hierher nur einen Einbildung, ein Wunschtraum vielleicht gewesen sein muss. Mag sein, dass die lange Zeit der Schlaflosigkeit irgendwann ihren Tribut fordern musste und mich in fiebrige Träume geführt hat. Mag sein, dass mein Unterbewusstsein seinen Tod einfach nicht akzeptieren kann.
 

Nach der offizellen Trauerfeier treffen wir uns im kleinen Kreise. Auch Taiji hat noch einmal zu uns gefunden und wohnt der kleinen Runde im Elternhaus unseres verstorbenen Freundes bei. Es ist nicht so, dass ich dieses Haus das erste Mal in all diesen Jahren betrat, trotzdem fühlt sich der Anlass dieses Mal nicht richtig an. Es ist eine verkehrte Welt, in der Realität und Albtraum miteinander verschwimmen. Ich weiß nicht einmal mehr, ob ich wach bin oder mich in einem dieser merkwürdigen tagträumerischen Zustände befinde, die mich in den Tagen, seit ich Los Angeles verlassen habe, ständig einzuholen scheinen.
 

Nach dem gemeinsamen Essen, das keiner von uns wirklich zu genießen scheint, lockert sich die ganze Runde etwas auf. Man kümmert sich um den Abwasch oder nutzt den milden Abend um eine Zigarette oder zwei auf der Terrasse zu rauchen. Nur ich bleibe irgendwie verloren an meinem Platz hängen und weiß nicht wohin. Alles in mir schreit danach die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen so weit und so schnell es nur irgend möglich ist. Nur mein Verstand rät mir besseres. Ich weiß nicht wie oder warum, aber irgendwann tragen mich meine Füße in die obere Etage und bevor ich mich versehe stehe ich vor der Tür zum Zimmer meines verstorbenen Freundes.
 

Ob es unangemessen wäre, es zu betreten? Obwohl so viel Zeit seit seiner Jugend vergangen sind, befinden sich noch immer viele persönliche Gegenstände in diesem Raum. Ein Raum der von nun an wohl kaum mehr als ein Ort der Erinnerung und eine bessere Abstellkammer sein wird.
 

„Gehen Sie nur hinein...“ Eine bedrückte Frauenstimme lässt mich aus meinen Gedanken erwachen und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Überrumpelt schüttele ich schnell den Kopf und verbeuge mich hastig. „Tut mir leid, ich wollte nicht... es tut mir leid.“ Wie kann man nur so unsensibel sein, derart in die Privatssphäre anderer eindringen? Meine Wangen werden heiß vor Scham, ich fühle mich wie ein Schuljunge, der beim Ungehorsam überrascht worden ist.
 

Sie schüttelt traurig lächelnd den Kopf. „Machen Sie sich bitte keine Gedanken, Hayashi-san.“ Sie deutet eine Verbeugung an. „Ich bin froh, dass ich Sie hier unter vier Augen treffe. Nach allem was Sie für uns und unseren Jungen getan haben, wollte ich mich noch einmal ausdrücklich dafür bedanken. Ich weiß nicht, wie wir das alles sonst geschafft hätten...“ Leise seufzt sie und langsam beginne ich zu verstehen wie schwer diese ganze Sache für sie gewesen sein muss. Nicht nur einen ihrer Söhne zu verlieren sondern zugleich mit der Aufmerksamkeit des halben Landes bedacht zu werden ist nicht gerade alltäglich. Und obwohl wir uns mittlerweile an die Presse hätten gewöhnt haben sollen, kam auch für uns alle der Ansturm und die Anteilnahme so vieler Fans sehr überraschend. Wie musste sich nur jemand fühlen, der damit keinerlei Erfahrung hatte?
 

„Ich bitte Sie, das ist das Mindeste...“ Meine Stimme versagt und ich lächele sie nur verunglückt an. Doch sie scheint zu verstehen. Wenn ich nicht einmal das hätte für ihn tun können... Nur mit größter Anstrengung gelingt es mir erneut die Tränen zurück zu halten. Dies ist nicht der Ort und nicht die Zeit für Schwäche. Die Trauer kann warten...
 

Einige Wochen später...
 

„Ein Einschreiben für Sie, bitte unterschreiben Sie hier!“ Die junge Postbotin sieht reichlich gestresst aus. Die Morgensonne, die durch die geöffnete Tür scheint, schmerzt in meinen Augen. Sind Tage schon immer so hell gewesen? Sicher sehe ich aus wie eine wandelnde Leiche, selbst die Postbotin sieht mich mit einem prüfenden Blick an als ob sie einem Geist gegenüber stände. Meine Haut hat seit Wochen kein Tageslicht mehr gesehen, meine Glieder sind steif... Bewegung und frische Luft scheint mir in diesem Moment nebensächlich.
 

„Danke...“, murmele ich leise und sehe der jungen Frau einen Augenblick hinterher, als sie mit ihrem Wagen die Auffahrt verlässt. Der dicke Briefumschlag liegt schwer in meiner Hand und ein kurzer Blick auf den Absender verrät mir, dass er aus Japan kommt. Aus Yokosuka um genau zu sein und der Name, der sorgfältig auf das Papier geschrieben wurde, lässt meine gefasste Fassade wieder bröckeln. Gerade, als ich das Gefühle habe, dass ich wieder atmen kann, ohne dass es mir die Kehle zuschnürt, stürzt alles wieder in sich zusammen und all die dunklen Gedanken kehren zurück mit aller Kraft.
 

Matsumoto
 

...meine Hände zittern und ich bin mir garnicht sicher, ob ich den Brief überhaupt öffnen möchte. Ehe ich es mich versehe stehe ich im Wohnzimmer vor meinem Schreibtisch, der Umschlag darauf wirkt irgendwie bedrohlich, als würde er alles verändern. Wieder einmal.
 

„Stell dich nicht so an, Yo-chan! Es ist nur ein Brief!“ Eine fröhliche Stimme aus Richtung der Couch lässt mich aufschrecken. Mein Herz bleibt einen Moment lang stehen, als ich das breite Lächeln und die weit über die weichen, weißen Kissen ausgebreiteten Arme erkenne. Seine Augen funkeln amüsiert, strahlen mich an wie all die vergangenen Jahre auch. Einige Strähnen seines pinken Haares fallen ihm in das jugendliche Gesicht und lassen mich für einen Moment alles andere vergessen... auch, dass er eigentlich tot ist.
 

Aber wie kann ein Toter so lebendig aussehen? Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht, aber ich kann nicht genau sagen, was es ist. Obwohl mein Verstand mit aller Macht dagegen ankämpft, kommt mein Herz nicht umhin einfach zu akzeptieren, was meine Augen sehen. „Was ist in dem Umschlag?“, frage ich leise. Meine Stimme ist rau durch die langen Tage, die ich sie kein einziges Mal benutzt habe. Ich kann es kaum erwarten seine Stimme wieder zu hören, die kleinen Bewegungen zu beobachten, die er beim Sprechen macht. Sein Brustkorb hebt und senkt sich völlig ruhig und gleichmäßig, wie all die anderen Male die er an dem selben Platz gesessen hat.
 

Er lacht, völlig unbekümmert, als hätte ihm gerade jemand den besten Witz seit langem erzählt. „Woher soll ich das denn wissen. Du hast ihn ja noch nicht geöffnet!“ Er steht auf und kommt mit langsamen Schritten näher. Seine Bewegungen sind sanft und lautlos, als würde er den Boden nicht einmal berühren. Ich spüre, wie sich mein Atem beschleunigt, mein Herz rast mit jedem Zentimeter, den er sich mir nähert, mehr. Natürlich, mein Geist muss mir einen Streich spielen, aber dieser Streich ist verdammt überzeugend.
 

„Sieht aus, wie irgendein Buch...“ Seine Stimme ertönt direkt neben meinem Ohr. Wie konnte er so plötzlich neben mir stehen? Er ist so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren und seinen Duft riechen kann. Er hat sich kein bisschen verändert. „... aber vielleicht ist es auch eine Briefbombe, wer weiß?“, grinst er mich frech an und hebt fragend eine Augenbraue. Es ist völlig absurd, aber doch so typisch für ihn. Wie sehr habe ich das vermisst...
 

„Du dürftest garnicht hier sein...“ Meine Lippen sprechen die Worte, bevor ich sie überhaupt daran hindern kann. Doch so sehr mir auch klar ist, dass ich mir das alles hier doch nur einbilde, sehnt sich mein ganzer Körper danach, es einfach zu vergessen und diese verrückte Situation zu genießen. „Ach, nein?“, fragt er leise und neigt seinen Kopf bis unsere Lippen sich beinahe berühren. Ich kann seinen Atem auf meiner Haut spüren, meine Finger formen sich zur Faust, meine Knie zittern. Ich spüre, wie mir erneut Tränen in die Augen steigen; das Wissen, dass ich aus diesem wunderschönen Traum sicher gleich erwachen werde, ist einfach zu erdrückend.
 

„...hide... ich...“ Und als ob sein Name auf meinen Lippen einen unsichtbaren Bann gelöst hätte, schließt er die letzen Zentimeter zwischen uns und verschließt meine zitternden Lippen mit einem sanften Kuss, der mir ein für alle Mal den Atem raubt.

Kapitel 3
 

Das Zwitschern von Vögeln dringt durch die halb geöffneten Fenster in das abgedunkelte Zimmer. Die letzten Sonnenstrahlen wandern langsam über den Boden während die Nacht sich über die Stadt legt. Der Wind in den nahen Bäumen ist irgendwie beruhigend und die ganze Welt wirkt auf einmal so friedlich und still. Als ich die Augen öffne und aus einem tiefen Schlaf erwache, habe ich das Gefühl, dass alles völlig anders ist als noch vor ein paar Stunden. Ich hatte einen wunderschönen Traum... aber war es überhaupt ein Traum?
 

Unsicher lege ich einen kalten Finger auf meine Lippen, die sich ungewohnt heiß anfühlen, wie nach einem leidenschaftlichen und langen Kuss. Sie schmecken anders als sonst, irgendwie süß, süchtig machend nach noch viel mehr. Während ich mir noch Gedanken über meinen verwirrenden Traum mache, fällt mir der Brief wieder ein, der sicher noch immer ungeöffnet im Wohnzimmer liegen muss. Auch wenn ich die ruhige und glückliche Stimmung noch länger festhalten möchte, führt aber wohl nichts um ihn herum.
 

Meine Beine wollen mich nicht so recht tragen, als ich die Treppe hinunter ins Erdgeschoss wanke. Mit weichen Knien geht es sich nun mal schlecht, besonders wenn einem die eigenen Muskeln nicht mehr so ganz gehorchen möchten. Im Flur fällt mein Blick auf eines der vielen gerahmten Fotos an der Wand. Es zeigt uns fünf zusammen, als die Zeiten noch besser waren und keiner von uns je daran gedacht hätte, dass in wenigen Jahren alles so viel anders sein würde. So sein würde wie jetzt. Alle lächeln, alle sind glücklich. Aber Glück ist vergänglich, wie so vieles im Leben.
 

Als ich endlich vor dem Schreibtisch stehe, weiß ich erst nicht, was ich denken soll. Der Umschlag liegt geöffnet dort, ein kleines Buch daneben mit einem Zettel darauf, auf dem nur eine einzige Zeile steht.
 

Er hätte gewollt, dass du es bekommst.

Hiroshi
 

Wer hat den Brief geöffnet? Ich kann mich nicht daran erinnern es selbst getan zu haben... andererseits weiß ich nicht einmal mehr, wie ich ins Bett gekommen bin. Es hilft wohl nichts, sich darüber Gedanken zu machen. Niemand fremdes kann hier gewesen sein, also muss ich es einfach vergessen haben. Meinem Verstand ist im Moment scheinbar ohnehin nicht mehr zu vertrauen.
 

Was wohl in dem Buch steht? Es ist recht dünn, der Einband ist violett und sieht schon ziemlich abgenutzt aus. Wer weiß wie alt es ist und wie lange es schon durch die Weltgeschichte getragen wurde. Der Gedanke, dass neben Hiroshi keiner außer sein Besitzer dieses kleine Buch je berührt hat, ist seltsam und lässt mich zögern es nun selbst in die Hand zu nehmen. Obwohl meine Neugierde riesig ist, habe ich das Gefühl, etwas beinahe schon Heiliges in die Hände zu nehmen. Dieses Buch hat etwas eigenartiges an sich. Und warum sollte gerade ich es bekommen?
 

Trotz aller Unsicherheiten zwinge ich mich das Buch in die Hand zu nehmen und mich damit auf die Couch zu setzen. Die Kissen sind ein wenig eingedrückt, obwohl seit Wochen keiner mehr darauf gesessen haben kann und es sich nur in meinem Traum jemand hier gemütlich gemacht hatte. Können Träume real werden? Oder die Realität sich anfühlen wie ein Traum?
 

Vorsichtig öffne ich das Buch. Die dünnen Seiten sind mit winzigen Zeichen beschrieben, Seite um Seite als hätte jemand all seine Gedanken auf ihnen verewigt. Die Schrift ist mir nur zu gut bekannt. Ist das hier eine Art Tagebuch?
 

„Ich hasse dich. Weißt du das eigentlich? Wie sehr ich dich hasse... und du wirst es nie wissen. Wie kannst du nur so grausam sein. Wie kannst du es wagen jeden Tag da zu sein und zu lächeln und so verdammt schön zu sein? Du tust das mit Absicht, nicht wahr? Du weißt ganz genau, wie sehr du mich damit quälst und tust es trotzdem immer wieder.
 

Am liebsten würde ich mir das Herz heraus reißen, wenn es so anfängt zu rasen nur wenn du in meiner Nähe bist. Als würde es sich danach sehnen dir ganz nah zu sein und es schmerzt und sticht, wenn ich seinem Wunsch nicht nachkomme. Nachts tut es manchmal so weh, dass ich das Gefühl habe gleich zu sterben.
 

Letzte Nacht habe ich sogar von dir geträumt. Es war ein schöner Traum mit vielen Küssen und noch mehr nackter Haut. Wenn du das wüsstest würdest du sicher lachen und sagen: 'hide, mach nicht immer solche Witze' und mein Herz würde wieder schmerzen und ich würde meine Tränen hinter einem gespielt fröhlichen Lachen verstecken. Und du glaubst es auch noch.
 

Ich liebe dich. Aber du wirst es niemals wissen.“
 

Das Buch fällt mit einem leisen, dumpfen Ton in meinen Schoß. Ich habe garnicht gemerkt, wie ich den Atem angehalten habe. Erst jetzt macht sich der Sauerstoffmangel irgendwie bemerkbar. Wer ist in diesem Buch gemeint? Was sollen diese Worte bedeuten? Und warum hat Hiroshi dieses Buch gerade mir geschickt, wo doch alle wussten, dass das Herz seines Bruders einer ganz bestimmten Frau gehörte? Es ist einfach absurd.

Kapitel 4
 

Das schrille Klingeln des Telefons durchschneidet die Stille der Nacht. Über den Tasten des Flügels ballen sich meine Finger unwillkürlich zu Fäusten. Ich habe keinen einzigen Ton zustande gebracht, trotz der langen Stunden, die ich bereits hier sitze. Das Buch liegt noch immer auf der Couch, unberührt, denn ich habe nicht die Kraft gehabt eine weitere Seite zu lesen.
 

Dass der Anrufer noch nicht wieder aufgelegt hat, bis ich das Telefon endlich erreicht habe, ist ein kleines Wunder, aber schließlich schaffe ich es doch den Anruf anzunehmen. „Ja...?“ Meine Stimme hört sich selbst in meinen eigenen Ohren schwach und kränklich an.
 

„Yoshiki? Bist du das?“ Es dauert einen Augenblick, bis ich die Stimme, die blechern aus dem Hörer schallt, erkenne. Zu lange habe ich sie nicht mehr gehört.
 

„Weißt du eigentlich, wie spät es ist, Atsushi?“ Als ob Tageszeiten noch eine Bedeutung hätten, aber ich will versuchen, den Schein von Normalität zu wahren. Schließlich muss nicht die ganze restliche Welt direkt wissen, wie es eigentlich in mir aussieht, dunkel, verloren... wie auch immer. Atsushi ist wohl eine der letzten Personen auf Erden, der ich etwas vormachen könnte.
 

„Oh.“ Der ernüchterte Laut lässt mich unweigerlich Lächeln. Erst jetzt merke ich, dass mir die lange Zeit ohne zwischenmenschliche Kontakte nicht wirklich gut getan hat. Zu viel Zeit zum Nachdenken, zu viel Trauer, zu viele Tränen. Auch wenn es nicht genug Tränen auf dieser Welt gibt, für das, was passiert ist.
 

„Wie auch immer, wie geht es dir? Ich bin übermorgen in den Staaten und dachte, wir könnten uns mal wieder treffen. Ich meine... nach dem, was passiert ist. Vielleicht brauchst du eine starke Schulter. Oder einfach nur jemanden zum Reden.“ Atsushi redet wie ein Wasserfall, völlig untypisch für ihn, doch allein seine Stimme zu hören weckt in mir ein Gefühl der Geborgenheit.
 

Obwohl mir im Moment weder nach Gesellschaft noch nach Reden zu Mute ist, willige ich ein. Alles in mir sehnt sich danach einfach wieder zurück ins Bett zu gehen, zurück in diesen wunderschönen, tiefen Schlaf zu fallen. Ich möchte weiter träumen und sein Gesicht vor mir sehen, seine Berührungen spüren, seine Stimme hören und das Gefühl haben, dass alles völlig in Ordnung ist. Noch immer kann ich seine Lippen auf den meinen spüren und die Wärme, die von ihnen ausging. Es war so tröstend und auch so schmerzhaft zugleich. Allein die Erinnerung lässt mein Herz rasen, meine Kehle schnürt sich zu, als würde irgendetwas in mir versuchen, mich zu ersticken.
 

„...willst du das...?“, frage ich leise in die Stille des leeren Hauses hinein. „... dass ich dir folge...?“ Auch wenn ich nicht auf eine Antwort warte, horche ich trotzdem angestrengt. Mein angestrengter Atem ist das einzige Geräusch in dem dunklen Zimmer.
 

„Hey, wovon redest du?“, schallt plötzlich eine leicht amüsierte Stimme durch den Hörer in meiner Hand. Ich habe glatt vergessen, dass Atsushi noch immer in der Leitung ist. „Ist jemand bei dir?“
 

„...nein.“ Wie konnte ich auch auf eine Antwort hoffen? Träume können schließlich nicht sprechen. Wir beenden das Gespräch und vereinbaren ein Treffen. Einerseits freue ich mich darauf, Atsushi nach so vielen Monaten endlich wieder zu sehen. Andererseits möchte ich einfach nur noch allein sein und verhindern, dass irgendjemand, der mir nahe steht, mich in diesem Zustand sieht. Schwach... und alles andere als perfekt.
 

Wenige Tage später...
 

Ich habe es immer geliebt das Meer zu beobachten. Die wogenden Wellen und die salzige Luft wirkten oft beruhigend und halfen mir häufig über dunkle Zeiten hinweg. Als würde der Wind, der in Richtung Strand wehte, alle Sorgen vertreiben. Heute weht der Wind stärker als sonst, doch meine Sorgen, Trauer und Verzweiflung kann auch er nicht vertreiben. Die Wolken färben den Himmel in ein dunkles grau-blau und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Ruhe vor dem Sturm zu Ende ist und ein Gewitter mit aller Macht auf uns hernieder geht.
 

„Du bist so still...“ Atsushi seufzt leise. Wir sitzen nebeneinander im weichen Sand. Seit Stunden erzählt Atsushi mir die verrücktesten Geschichten aus seinem Leben, aber eigentlich hätte er mir genauso gut was vom Pferd erzählen können. Ich höre die Worte, aber sie machen keinen Sinn. Sowieso scheint er nur des Redens Willen zu sprechen, damit wir uns nicht die ganze Zeit über anschweigen.
 

„Was hast du die letzten Wochen gemacht?“, fragt Atsushi leise und sieht mir das erste Mal richtig in die Augen. Ich habe das komische Gefühl, dass wir uns völlig fremd geworden sind. Der Gedanke, dass wir uns doch schon so oft viel näher gewesen sind als jetzt, ist mir so fern, als wäre das alles in einem anderen Leben geschehen. Als wir uns das letzte Mal sahen, war noch alles in Ordnung, mein Leben kein Scherbenhaufen ohne Aussicht auf eine Zukunft.
 

Ich zucke die Achseln und finde kaum die Kraft ihm zu antworten. „Ich war zu Hause.“ Mehr gibt es wohl nicht zu erzählen. Die vergangenen Wochen seit meiner Rückkehr nach Los Angeles sind vorüber gezogen wie die Wolken oben am Himmel, schnell und unruhig. Die letzten Tage habe ich mir ständig Gedanken darüber gemacht, ob ich Atsushi von dem Buch erzählen soll, dass ich von Hiroshi bekommen habe. Ich habe keine Zeile mehr gelesen, habe es nicht über mich gebracht weiter in die Gedanken eines anderen einzudringen.
 

Nach einigen weiteren Minuten des Schweigens, entscheide ich mich dazu, Atsushi von dem Tagebuch zu erzählen. Vielleicht kann er ein wenig Licht ins Dunkel bringen, mir einen Anstoß geben, was ich damit machen soll. Ob ich meiner Neugierde nachgeben soll einfach weiter zu lesen.
 

„Hmm... an deiner Stelle, würde ich es einfach lesen.“, meldet Atsushi sich nach einigen Momenten der Stille zu Wort. Er nickt, wie um sich seine eigenen Worte zu bestätigen. „Denkst du nicht, dass Hiroshi schon seine Gründe gehabt haben wird, gerade dir das Buch zu schicken? Vielleicht wusste er mehr über hide, als du denkst. Vielleicht sind diese Worte garnicht an seine Freundin gerichtet sondern an jemand anderes...“ Er hebt bedeutungsvoll eine Augenbraue und zuckt die Achseln. Was soll das für eine Andeutung sein?
 

„Du bildest dir da Dinge ein, die gar nicht da sind.“ Ich schüttele den Kopf. Was Atsushi da andeutet ist ganz und gar unmöglich. Sicher hätte ich es bemerken müssen, falls da wirklich mehr als nur Freundschaft hätte sein sollen. „Vielleicht ist das alles nur ein Missverständnis.“
 

„Und wenn schon. Denkst du, hide hätte etwas dagegen, wenn du das jetzt liest?“ Obwohl ich weiß, wie Atsushis Worte gemeint sind, machen sie mich irgendwie wütend. Gleichzeitig sind sie wie ein brennender Stich in mein Herz. „Falls es dir noch nicht aufgefallen ist: hide will garnichts mehr... er ist nicht mehr hier und was ich tue oder auch nicht tue macht keinen Unterschied mehr!“ Seinen Namen über die Lippen zu bringen fällt mir so schwer wie seit langem nichts mehr. Und diese Worte auszusprechen sind wie eine Wahrheit, die erst jetzt an die Oberfläche tritt. Als wäre sie bisher verborgen gewesen.
 

So sehr ich auch versuche meine Tränen zu verbergen, Atsushi bemerkt sie trotzdem. Sanft legt er einen Arm um meine zitternden Schultern. „Tut mir leid...“ Seine Stimme ist so leise, dass sie über dem Rauschen der Wellen kaum hörbar ist. Nur sein unregelmäßiger Atem an meiner Schulter verrät, dass er die Worte wirklich spricht. Die Nähe tut seltsamerweise wirklich gut, auch wenn ich mir in diesem Moment eigentlich die Berührungen einer völlig anderen Person wünsche. Atsushis Hand streicht sanft über meinen Rücken und selbst durch den Stoff meines Shirts hindurch spüre ich die Hitze seiner Haut. Mein Verstand setzt aus, ich will nur noch vergessen.
 

Die Fremde zwischen uns scheint plötzlich gänzlich verschwunden, als wären wir niemals getrennt voneinander gewesen. Mein Herz rast wie beim ersten Mal als wir uns derart nah gekommen waren. Damals, als alles noch rein geschäftlich war, keiner von uns wusste, dass irgendwann einmal mehr aus diesen angedeuteten Berührungen werden würde. Über die Jahre haben wir uns immer wieder Tage gestohlen, abgeschieden von der Welt und allem, was sie mit sich bringt. Fern von unerwiderten Gefühlen, Zurückweisungen und gebrochenen Herzen. Unsere Körper gaben einander Trost während dieser Zeiten und tun es auch jetzt wieder.
 

Als meine Lippen verzweifelt die seinen suchen, bemerke ich erst, dass wir uns beide immer näher kommen. Es ist wie eine Art unsichtbarer Anziehung, eine Verbindung die uns immer weiter zueinander zieht. Nur für ein paar Minuten will ich vergessen. Ist das zu viel verlangt? Darf ich so viel einfordern? Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, spüre ich Atsushis Hände überall auf meinem Oberkörper, forschend, entdeckend, als wäre es das erste Mal. Nach der ersten Überraschung ist sein Kuss fordernd und leidenschaftlich; ein Feuer, dass mich innerlich und äußerlich beinahe zu verbrennen droht.
 

Es vergehen Minuten bis wir uns schwer atmend wieder voneinander trennen, die Lippen gerötet. Seine Augen sind dunkel und funkeln vor Verlangen. Es ist diese Unbändigkeit, die ich so sehr an ihm liebe. Ist Liebe das richtige Wort? Ich weiß es nicht, aber die Antwort ist in diesem Moment ohnehin nebensächlich.
 

„Wir sollten das nicht...“ Seine Stimme ist zittrig und leise. „... das ist doch nicht das, was du willst.“ Ich komme nicht um ein heiseres Lachen. „Ist es an dir, zu entscheiden, was ich will?“ Ein prüfender Blick in die nähere Umgebung zeigt mir, dass wir allein sind. Kaum jemand findet bei diesem ungemütlichen, für Los Angeles doch völlig untypischen Wetter, seinen Weg an den Strand. Wir sind ungestört. „Was ich will, kann mir sowieso keiner mehr geben. Dafür ist es zu spät...“ Die Wahrheit meiner eigenen Worte trifft mich plötzlich mit all ihrer Wucht und treibt mir beinahe erneut die Tränen in die Augen.

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 6
 

Als ich am nächsten Morgen aufwache, weiß ich nicht mehr, wie ich ins Bett gekommen bin. Doch das erste Mal seit Wochen fühle ich mich ausgeruht und irgendwie glücklich, obwohl mein Verstand erst noch begreifen muss, was letzte Nacht passiert ist. Ein Lächeln schleicht sich unwiderruflich auf meine Lippen, ohne dass ich etwas dagegen tun kann oder auch möchte. Der Sonne nach zu urteilen, die nur wenig durch die Fenster im Schlafzimmer dringt, ist es bereits lange nach Mittag, aber das ist unbedeutend.
 

Einige Minuten bleibe ich still unter den Laken liegen und genieße die Ruhe. Ich wage es einfach nicht, meinen Blick zur Seite zu wenden, habe Angst eine leere Bettseite vor mir zu finden. Insgeheim weiß ich bereits, dass er nicht hier sein wird, doch die Aktivitäten der letzten Nacht haben nicht nur auf meinem Körper eindeutige Spuren hinterlassen. Die Laken sind zerwühlt, meine Muskeln fühlen sich geschunden an, als hätten sie innerhalb von Stunden eine ganze Tour durchgemacht. Es kann also keine Einbildung sein. Das heißt, ich bin nicht verrückt geworden.
 

Bist du dir da sicher?
 

Mit einem Mal sitze ich doch aufrecht im Bett. Wo kam diese Stimme her? „hide?“, frage ich unsicher, meine Stimme zittert, ist aber mit Sicherheit hörbar. Er ist nicht hier und trotzdem irgendwie da. Mein Verstand scheint mir schon wieder Streiche zu spielen. Es kommt keine Antwort, doch ich weiß nicht wirklich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Nach einigen Minuten in der Stille entscheide ich mich, dass es besser ist aufzustehen. Ein starker Kaffee verscheucht vielleicht die Dämonen der Nacht und bringt meine Gedanken wieder auf den rechten Weg.
 

Die Schritte hinunter in die Küche mache ich nur langsam, meine Beine sind steif, mein Körper wund. Ein Blick in den Spiegel im Flur zeigt mir meinen malträtierten Hals, der von dunkelvioletten Malen geziert ist. Nein, definitiv alles real, schließlich kann sich kein Mensch selbst soetwas zufügen. Langsam schüttele ich den Kopf um irgendwie meine Gedanken wieder in richtige Bahnen zu lenken, was jedoch nur mäßig erfolgreich zu sein scheint.
 

Obwohl das Haus nun bereits seit einigen Jahren in meinem Besitz ist, sieht die Küche noch immer aus wie neu, frisch aus dem Katalog. Der Traum einer jeden amerikanischen Hausfrau, nur völlig ungeeignet für einen Workaholic wie mich. Das einzige Gerät in diesem Raum, dass mehr als regelmäßig in Verwendung ist, ist die Kaffeemaschine, die mitten auf der hellen Marmorarbeitsplatte ihren Platz gefunden hat. Nur heute ist etwas anders: auf der Insel in Mitten des viel zu großen Raumes liegt ein kleiner, unscheinbarer rosa Zettel.
 

Ein erleichtertes Seufzen dringt über meine Lippen. Es scheint alles in bester Ordnung zu sein, diese Nachricht kann nur von einem stammen. Ich setze mich auf einen der Barhocker und nehme den kleinen Zettel zwischen die Finger. Doch die Zeichen darauf stammen nicht aus seiner Hand, da bin ich mir sicher.
 

Sorry, musste dringend weg. Wir sehen uns bald wieder.
 

Mehr steht nicht auf dem Papier und die Worte tragen nicht sonderlich zu Klärung meiner Verwirrung bei. Aber wenn nicht mit ihm, mit wem habe ich dann die letzte Nacht verbracht? Wer hat die Nachricht hier hinterlassen und was passiert nur in meinem Kopf? Das alles kann doch nicht wahr sein...
 

Langsam beginne ich, Angst vor mir selbst zu bekommen. Es ist kaum zu glauben: ich habe eine beginnende Beziehung mit einem Toten, habe Halluzinationen und verbringe die Nacht mit einem Fremden, ohne mit daran zu erinnern. Zwar habe ich in der Vergangenheit viele Dinge erlebt, schwere Zeiten durchgemacht, aber das hier ist einmalig. Und auch, wenn alles in mir sich dagegen sträubt, fällt mir nur eine Person auf dieser Welt ein, die meine Verwirrung, meinen Schmerz vielleicht teilt, diese Gefühle zumindest nachvollziehen kann.
 

Die Nummer kenne ich auch nach all diesen Monaten, die ich sie nicht gewählt habe, auswendig. Meine Hände beginnen zu zittern, als ich die Tasten drücke und jede Sekunde mehr hoffe, dass er und nicht sie ans Telefon gehen wird. Aber mir hätte klar sein sollen, dass das Universum gerade nicht auf meiner Seite ist und so geht mit einer übertrieben freundlichen, hohen Stimme seine Frau an den Apparat. „Deyama, hallo, was kann ich für sie tun?“ Ich habe ganz vergessen, dass sie auch die Geschäfte ihres Mannes übernommen hat. Der geschäftliche Ton bringt mich beinahe dazu, den Hörer sofort wieder aufzulegen.
 

Unsicher räuspere ich mich. „Ja, hallo, hier ist Yoshiki Hayashi... ich würde gerne mit Toshi sprechen.“ Meine eigene Stimme scheint mir fremd und viel zu schwach. Sie bittet mich sofort zu warten, doch trotz ihrer gespielten Freundlichkeit, weiß ich ganz genau, dass ihr mein Anruf nicht gerade gelegen kommt. Wie konnte solch eine Frau nur dafür sorgen, dass wir uns so fern werden? Wahrscheinlich sollte ich aber nicht ihr einen Vorwurf machen, denn schließlich ist Toshi erwachsen und sollte seine Entscheidungen selbst treffen. Es ist nicht ihre Schuld sondern seine, dass alles so gekommen ist, wie es ist.
 

„Yoshiki? Bist du noch dran?“ Toshis Stimme ist etwas außer Atem, als er endlich ans Telefon geht. Ich höre das Lächeln in seiner Stimme, die Überraschung und die Freude, aber ich kann sie ihm nicht nachfühlen. Irgendwie ist es zwischen uns nicht mehr das selbe auch wenn uns ein ganzes Leben der gemeinsamen Erfahrungen verbindet. Aber obwohl unsere Freundschaft Vergangenheit zu sein scheint, weiß ich, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Es ist ein gutes Gefühl, obwohl es von der Bitterkeit vergangener Ereignisse stark getrübt ist.
 

„Ja... wie geht es dir?“, zwinge ich mich zu fragen, obwohl ich lieber gleich auf den Punkt kommen würde. Im Hintergrund steht sicherlich noch immer seine Frau und hört jedes Wort mit.
 

Ein Rascheln am anderen Ende der Leitung verrät mir, dass er sich wohl hingesetzt hat. „Naja, die letzten Wochen waren nicht leicht. Aber wie soll ich sagen? Man schlägt sich eben so durch. Ich habe viele Songs geschrieben, war im Studio und werde demnächst auf Tour gehen. Das Leben geht weiter, nicht wahr? Wie geht es dir? Was hast du so gemacht?“
 

Natürlich, nicht jeder verkriecht sich so in sein Schneckenhaus, wie ich. Trotzdem verletzt es mich zu hören, dass Toshi sein Leben scheinbar ohne weitere Einschränkungen fortführt. Als wäre nichts passiert, als wäre nicht alles anders, als es einmal war, anders, als es sein sollte. Ich versuche mich zusammen zu reißen. Das Telefon ist nicht das richtige Medium um solche Dinge zu besprechen und ich will nicht vor seiner Frau dastehen wie ein Schwächling. „Gut, soweit.“ Mehr bringe ich nicht über die Lippen, er würde die Lüge ohnehin durchschauen. Ein Leben lang der Freundschaft lehrt einen so einiges über den anderen. „Können wir uns treffen? Ich weiß, du bist beschäftigt, aber...“ Erst jetzt kommt mir in den Sinn, dass das mit dem Treffen gar nicht so einfach ist, wie es sich anhört. Milliarden Kubikmeter Wasser trennen uns, wir leben schließlich auf unterschiedlichen Kontinenten. Der Gedanke ist seltsam, haben wir doch die Jahre zuvor kaum getrennt voneinander verbracht. „... ich komme nach Japan, in Ordnung? Können wir uns irgendwo treffen?“ Frage ich erneut und hoffe auf eine positive Antwort.
 

Er denkt einen Moment nach, bevor er antwortet. „Klar. Ich bin nächste Woche sowieso in Tokyo für Studioarbeiten. Dann fahre ich einfach früher los...“ Ein Moment der Stille folgt, bevor er leise hinzufügt: „Ich freue mich, Yoshiki, wirklich!“ Und dies sind vielleicht die ersten ehrlich gemeinten Worten, die ich seit langem von ihm gehört habe.
 

Einige Tage später...
 

Es ist ein unangenehmes Gefühl wieder in einem Flieger Richtung Japan zu sitzen, das letzte Mal ist mit genügend schlechten Erinnerungen verbunden. Zum Glück vergeht die Zeit schnell, ich spüre kaum wie wir starten und landen, so sehr bin ich in meine Gedanken versunken. Die letzten beiden Tage habe ich alleine verbracht, wirklich alleine. Keine Halluzinationen mehr, kein Hinweis auf den Verfasser der Nachricht in meiner Küche. Ich habe seit dem Telefonat mit Toshi mit keiner Menschenseele mehr geredet, habe viel zu viel Angst davor etwas falsches zu sagen und irgendwie die Verbindung zur Realität zu verlieren. Beinahe fühle ich mich, als würde ich zwischen den Welten existieren, weder richtig lebendig noch tot.
 

In Narita angekommen bin ich froh endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Mein Magen rebelliert, vielleicht auch, weil ich seit gefühlten Wochen nichts anständiges mehr gegessen habe. Kaffee und Zigaretten müssen zum Überleben reichen, etwas anderes bekomme ich bei aller Liebe nicht herunter. Das plötzliche Fehlen meiner Einbildungen lässt mich an meinem Entschluss zweifeln Toshi einzuweihen. Vielleicht war das eine ganz normale Phase der Trauer, vielleicht ist es jetzt vorbei und ich hatte nur einige sehr realistische Träume. Wer weiß...
 

Da wir uns erst am späten Abend treffen werden, mache ich mich geradewegs auf den Weg ins Hotel. Die Sonnenbrille auf der Nase und die Schultern hochgezogen, hoffe ich, von niemandem erkannt zu werden und schaffe es durch den chaotischen Feierabendverkehr heil bis ins Zentrum. Alles in dieser Stadt, an diesem Land, erinnert mich an ihn und an all die Dinge, die wir miteinander erlebt haben. Schon jetzt freue ich mich auf den Moment, wenn ich wieder zurückfliege, zurück in die Stadt der Engel in der uns nichts mehr verbindet.
 

Wir treffen uns in einer kleinen Jazz-Bar, ein gemütlicher Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint und die Atmosphäre vergangener Tage zu spüren ist. Die Musik ist angenehm und laut genug um vertrauliche Gespräche zu übertönen, der Alkohol ist billig. In den kleinen Nischen, die überall in den Räumlichkeiten verteilt sind, kann man ohne Probleme eine gewisse Privatssphäre genießen, keiner interessiert sich für einen, keine schiefen Blicke von Fremden.
 

Ich bin lange vor der vereinbarten Uhrzeit an diesem Ort, bestelle ein Glas Rotwein und lausche den Klängen von Frank Sinatra. Es ist werktags, kaum etwas los, die Studenten kommen erst später, die meisten Berufstätigen sind noch im Büro und warten darauf, dass ihre Vorgesetzten Feierabend machen. Außer mir sind nur eine handvoll älterer Männer im Lokal und genießen ihr Bier an der Bar. Von meinem Platz aus kann ich fast den ganzen Raum sehen und habe den Eingang im Blick um Toshi zu sehen, sobald er hereinkommt. Mein Herz schlägt unregelmäßig, ich bin nervös. Während der Abend voranschreitet leere ich eine halbe Weinflasche im Alleingang.
 

Als Toshi endlich kommt, erkenne ich ihn erst kaum. Sein Gesicht schein entspannt, er trägt die Haare kurz, doch entgegen seinem sonstigen Stil hat er sich heute in einen weißen Leinenanzug gehüllt, helle Schuhe runden das seltsame Bild ab. Er passt in diese Bar, aber nicht in unser beider Leben. Er sieht nicht mehr aus wie der Rockstar, den ich einmal kannte, wahrscheinlich leben wir mittlerweile einfach in völlig verschiedenen Welten. Mit langsamen Schritten kommt er zu mir herüber und lächelt erfreut sobald er an den Tisch kommt. Ist er wirklich der Freund, den ich schon seit Kindheitstagen kenne?
 

Wortlos setzt er sich. Als die Bedienung an den Tisch kommt bestellt er ein Glas Wasser und wartet geduldig bis seine Bestellung gebracht wird. Wir wechseln kein Wort, ich weiß auch gar nicht, was ich sagen soll. Meine Gedanken sind langsamer als sonst, mein Verstand bereits getrübt vom Alkohol. Vielleicht hilft das, um den Mut zu finden, das Thema anzuschneiden, wegen dem ich überhaupt hier bin. Vielleicht auch nicht. Um Toshi nicht die ganze Zeit anzustarren, lasse ich meinen Blick durch den Raum gleiten. Irgendwie habe ich das komische Gefühl beobachtet zu werden.
 

„Wie geht es dir, Yo?“ Toshis Stimme ist sanft und leise. Beinahe überhöre ich seine Worte, so sehr fügen sie sich in die langsamen Klänge der Musik ein. Ich habe keine Lust auf Smalltalk, am liebsten würde ich das ganze Treffen einfach abblasen und den nächsten Flug nach Hause nehmen. Nach Hause... ist hier nicht mein Zuhause? Ich bin mir nicht mehr sicher.
 

Ich überwinde mich, Toshi anzusehen. Sein Gesicht ist mir vertrauter als mein eigenes. Die Jahre haben uns zusammengeschweißt. „Nicht...“ Mir bleibt plötzlich der Atem weg und ich muss tief durchatmen, bevor ich mich dazu zwinge, ihm zu antworten. „...nicht so besonders.“ Wieder sehe ich mich um und kann noch immer nicht genau ausmachen, wer mich beobachtet. Keiner sieht zu uns herüber, alle sind mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Nicht einmal die Kellnerin scheint uns Beachtung zu schenken. „Der Flug war anstrengend, ich hab die letzten Tage kaum geschlafen.“ Als wäre das mein größtes Problem.
 

Er nickt und das erste Mal habe ich das Gefühl den wahren Toshi vor mir sitzen zu sehen. Die gespielt fröhliche Fassade beginnt zu bröckeln und er seufzt leise. „Ich weiß. Es ist irgendwie... etwas fehlt. hide fehlt einfach, nicht wahr?“ Ich könnte fast vergessen wie sehr er sich verändert hat in diesem Moment. Aber mit einem Mal ist das Gefühl beobachtet zu werden stärker denn je, als würde sich ein Blick durch meinen Körper bohren, brennend und irgendwie zerstörerisch. Auf der anderen Seite des Raums finde ich endlich die Quelle dieses beunruhigenden Gefühls.
 

Er ist wieder da.
 

Nach all den Tagen, die ich beinahe zu denken begann, dass all das nur Einbildung ist, ist er wieder hier. Er lächelt, streift sich mit den Fingern durch das gefärbte Haar und winkt mir fröhlich zu. Vor ihm auf dem Tisch steht eine Flasche Bier. Ob ich mir die auch einbilde? Alles in mir schreit danach einfach aufzustehen und hinüberzugehen, mich dort an den Tisch zu setzen und einfach nur seinen Anblick zu genießen.
 

„Ich glaube, ich werde verrückt, Toshi...“ Die Worte verlassen meinen Mund bevor ich weiter darüber nachdenken kann. Es ist das, was ich die ganze Zeit sagen wollte, weswegen ich gekommen bin. In der Hoffnung, dass er mir helfen kann, mich irgendwie beruhigt und sagt, dass es ihm genauso geht. „Ich sehe ihn immer wieder, Toshi, er kommt immer wieder und er redet mit mir und lächelt und manchmal glaube ich, dass er garnicht tot ist...“



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Kommentare zu dieser Fanfic (5)

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Von:  Asmodina
2011-09-12T10:55:14+00:00 12.09.2011 12:55
Meine Wangen sind gerötet, als ich dieses Kapitel lese. Und ich denke nur: Endlich...endlich hat hide sein lang vermisstes Glück!
Von:  RedSky
2011-09-08T09:16:55+00:00 08.09.2011 11:16
Das Wetter war sehr passend gewählt. Ich hatte ständig diese beinahe-Regen-und-Gewitterwolken vor Augen. ;)
Was ich sehr interessant finde ist Atsushi. Beziehungsweise, dass du ihn mit einbringst. Das liest man nicht in vielen X-ff's. Auch wie du die körperlichen Annäherungen beschreibst - obwohl ja noch gar nix "Richtiges" passiert ist - sagt mir wieder sehr zu. Ich bin gespannt, wohin du die Geschichte noch lenkst. :3
Von:  RedSky
2011-09-08T08:59:21+00:00 08.09.2011 10:59
Abermals sehr realistisch und nachvollziehbar geschrieben.
Der emotionale Wandel von hide's Worten in seinem Tagebuch (?) sticht sehr schön heraus. Auch Yoshiki's anschließender Schock setzt wieder herrliche Kontraste. Ich mag es, wenn Gefühle so überzeugend beschrieben werden. :3
Von:  RedSky
2011-09-08T08:48:38+00:00 08.09.2011 10:48
Die Sehnsucht, die Yoshiki verspürt, ganz besonders ab dem Punkt, als hide in seinem Wohnzimmer auftaucht, ist dir sehr gut gelungen. Ich kann diese Sehnsüchte gut nachvollziehen, ich habe sie desöfteren auch. Wenn auch auf eine andere Person bezogen. Die Beobachtungen, die Erinnerungen an die kleinste Bewegung des Körpers einer solchen Person klingen vertraut...
Von:  RedSky
2011-09-08T08:36:48+00:00 08.09.2011 10:36
Ein guter Einstieg.
Du schreibst sehr flüssig, sowohl Handlungen als auch Gedankengänge sind sehr gut nachvollziehbar. Sie passen, wirken realistisch und nicht zu überzogen. Auch hast du das Kapitel an einer sehr interessanten Stelle beendet, was natürlich neugierig macht und zum weiter lesen anstachelt. ;)


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