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Eine Geschichte über Egoismus

von

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Kapitel 5

Ich folge ihm zu einer steinernen Gruft, die größtenteils mit Moos bewachsen ist. Obenauf thront ein Engel, dessen Gesicht mich stark an das von Shock erinnert. Vielleicht ist es auch Wunschdenken. Das weiß ich nicht genau.

Im Innenraum stehen rechts und links hohe Regale, in denen Bücher, Steine, Kerzen, Destillationskolben, Mörser und Stößel, Ketten, Traumfänger, verschiedene Zutaten und anderes Zeugs liegen. In der Mitte des Raumes steht ein Schreibtisch, hinter dem sich das Gerippe niederlässt.

„Soso.“ stellt das Klappergestell fest und sieht mich durchdringend an.

„Soso.“ sagt er erneut und mustert mich. Dann springt der Alte auf und geht an den Regalen entlang, nimmt hier und da Sachen heraus und legt sie auf den Schreibtisch und drückt mir schließlich einen alten Sack in die Hand, der genauso aussieht, wie Oogies vorheriger.

„Oogie sagte... sagte, er brauche einen speziellen Sack.“ stelle ich leise fest.

„Das ist ja auch nicht irgendeiner!“ schnauzt er. „Du kannst dem alten Stinkstiefel übrigens sagen, dass er mich nie wieder belästigen soll! Sonst trete ich ihm in seinen untoten Hintern!“

„Er ist ein Geist. Da könnte es schwierig werden.“

Wütend schmeißt das Gerippe die restlichen Sachen in den Sack, den ich ihm hinhalte. „Dann nehme ich halt einen verdammten Staubsauger!“

Die Vorstellung, dass Oogie in einem Staubsauger hausen könnte, gefällt mir sehr gut. Ein breites Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus.

Das Gerippe bemerkt es und grinst ebenfalls breit. Dann wird sein Blick wieder ernster. „Oogie ist ein verdammtes Arschloch. Wieso hilfst du ihm?“

„Er erpresst mich. Ich habe keine andere Wahl.“

„Man hat immer eine Wahl.“ sagt er und wendet sich von mir ab. Als er wieder spricht, ist es nicht mehr als ein Flüstern. „Solltest du dich anders entscheiden – ich bin hier.“

„Danke.“ sage ich. Ich weiß zwar nicht, wie der fiese Mistkerl mir helfen sollte, aber egal. Ich will gerade gehen, als mir ein Gedanke kommt. „Wenn du Oogie hasst, wieso hilfst du ihm dann?“

Das Gerippe winkt ab. „Sentimentalität.“ sagt er und bedeutet mir zu verschwinden.

Zurück in Halloween Town, genauer gesagt auf dem Fallbeil-Platz, präpariere ich die Dinge, die ich bekommen habe. Auf dem Brunnenrand verteile ich die Kerzen in Menschenform, in die ich Oogies Namen hinein geritzt habe. Aus dem Sack hole ich die Schriftrolle und überlege, ob etwas fehlen könnte.

„‚Und ich brauche Fleisch.‘“ erinnere ich mich. Sofort fallen mir die beiden Leichen von heute morgen ein. Ich vermute, dass sie zur Obduktion bei Doktor Finkelstein sind. Blitzschnell eile ich zu seinem Haus und klingele. Sein „kostbares Goldstück“ Fiona öffnet die Tür und lässt mich herein, weil sie mich kennt.

„Danke, Fiona.“ rufe ich ihr zu und eile die Treppe hinauf in Finkelsteins Arbeitszimmer. Der Doktor studiert gerade ein paar Skizzen, als ich meine Hand fest um seinen Hals schließe.

„Wie... Was...“ Er wehrt sich kurz, lässt die Hände aber sinken, sobald er mich erkennt. „Was willst du?“ Er rückt seine übergroße Brille zurecht.

„Wo sind die beiden Leichen von heute morgen?“

„Nebenan. Wieso?“

„Geht dich nichts an, alter Mann.“ Ich lasse ihn los und drücke die Tür zum Nebenraum auf. Auf zwei Bahren liegen die bleichen Körper. Die Organe ruhen in Glasgefäßen auf einem Schrank. In den Gesichtern der Toten erkennt man auch jetzt noch die Panik und Angst, die sie kurz vor ihrem Tod verspürt haben müssen. Das Mädchen war in derselben Stufe wie Barrel, Shock und ich und der Junge neben ihr war ein Jahrgang unter uns gewesen.

Vorsichtig öffne ich die Gläser und lasse aus einem die Flüssigkeit heraus. Das Herz platscht geräuschvoll in das Waschbecken. Ich hebe es auf und behalte es einige Sekunden lang in der Hand. Beim Anblick der Organe hatte ich unwillkürlich angenommen, es müsse warm sein und würde schlagen. Wie dumm von mir. Stattdessen ist es kalt und glitschig. Auf eine perverse Art und Weise enttäuscht stecke ich es in das leere Glas, nehme die anderen Organe aus ihren Gefäßen und lege sie zu dem Herz dazu. Dann eile ich an dem mir hinterher schreienden Finkelstein vorbei die Treppe hinunter und hinaus zurück zum Brunnen. Ich werfe das Glas hinunter ins Wasser, zünde die Kerzen an und lese den Text auf der Schriftrolle. Einige Zeit geschieht nichts. Dann beginnt das Wasser zu kochen. Dampf steigt aus dem Brunnen empor. Der ganze Platz hüllt sich in zähen Nebel. Einige Sekunden irre ich umher, bis ich plötzlich gegen etwas stoße und auf dem Hintern lande. Der Nebel strömt auf das Etwas zu, das mich zu Fall brachte, und verfestigt sich. Ein riesiger, nackter Mann steht vor mir. Sein aschblondes Haar ist hüftlang. Auf seinem ausgemergelten, einem Totenschädel ähnlichen Gesicht ist ein breites Grinsen. Seine Augen sind zu Schlitzen verengt und fixieren mich.

„Guten Abend.“ sagt Oogie und betrachtet dann seine Hände und den Rest seines Körpers. Dann beugt er sich über den Brunnenrand und schaut in sein eigenes, widerliches Gesicht.

„Ich will ja nicht arrogant wirken, aber ich sehe verdammt gut aus.“ bemerkt er und berührt vorsichtig die straffe Haut an seinen hervorstehenden Wangenknochen.

„Um dein Image brauchst du dir garantiert keine Gedanken zu machen. Dass du ein Arschloch bist, weiß hier sowieso jeder.“ bemerke ich und stehe auf.

Oogie lässt von seinem Spiegelbild und wendet sich mir zu. „Übertreibs nicht. Shock liegt nicht weit von hier in ihrem Bettchen und schlummert friedlich. Vielleicht sollte ich ihr einen Besuch abstatten.“

Jedes Mal, wenn er ihrem Namen gebraucht, schrillen bei mir die Alarmsirenen. „Schon gut, schon gut, tut mir leid.“ Er wendet sich von mir ab und schreitet auf und ab.

„Steht mein altes Haus noch?“

„Schon längst nicht mehr. Es wurde abgerissen, gleich nach dem du... verschwunden warst.“

Er grübelt kurz. Dann sagt er: „In diesem Fall brauche ich wohl eine neue Unterkunft. Ist Finkelsteins Labor noch da?“

„Ja, aber ich bezweifle, dass er es dir zur Verfügung stellt.“

Oogie bricht in schallendes Gelächter aus.

„Was ist?“ frage ich gereizt.

„Als würde es mich interessieren, ob Finkelstein es will oder nicht. Also bitte, hat mich das jemals interessiert? Du solltest mich besser kennen.“

„Ja, leider.“ murmele ich.

Dann sieht er erneut an sich herunter und befielt: „Gib mir deinen Mantel.“

Ich ziehe meinen schwarzen Mantel aus und reiche ihn ihm. Er zieht ihn sofort an und folgt dann der Straße direkt zu Finkelsteins Labor. Laut pocht er an die riesige Tür. Fiona öffnet sie erneut.

„Was soll das denn sein?“ fragt Oogie amüsiert.

„Finkelsteins Gefährtin.“ erwidere ich.

„Kann ich helfen?“ fragt Fiona verwirrt und stellt sich in den Türrahmen.

„Mach den Weg frei.“ knurrt Oogie und tritt über die Schwelle auf sie zu.

Vorsichtig schiebe ich Fiona zurück und versuche sie zu beschwichtigen. „Das ist ein alter Freund von Finkelstein. Könnten wir den Doktor sprechen?“

Ohne die Antwort abzuwarten, betritt Oogie das Haus und folgt der Treppe nach oben. Hier unten ist ein lautes Scheppern, ein kurzer Aufschrei und wütendes Fluchen zu hören. Kurze Zeit später kommt Doktor Finkelstein in seinem Rollstuhl nach unten. Er wirft mir einen kurzen angewiderten Blick zu und führt uns dann in seinen Arbeitsraum.

„Und was genau willst du von mir?“ fragt er mit seiner krächzenden Stimme.

„Dein Haus.“ antwortet Oogie kurz und knapp.

„Lächerlich!“ poltert Finkelstein, sinkt aber sofort wieder auf seinem Rollstuhl zusammen, als er Oogies Blick bemerkt.

„Mein lieber Finkelstein, wir kennen uns nun schon eine ganze Weile. Da kannst du mir doch mal dein Haus zur Verfügung stellen, oder nicht? Ich meine, es würde einen ziemlich hässlichen Skandal geben, wenn man mal einen genaueren Blick in deinen Keller werfen würde. Was meinst du?“ Er fixiert ihn mit seinen Augen. Finkelstein schwitzt stark. Nervös wischt er sich den Schweiß von der Stirn, während er scheinbar in Gedanken abwägt, wie viele schmutzige Geheimnisse Oogie kennt.

Schließlich sinkt er noch weiter zusammen und murmelt: „Fein, du kannst es haben. Tu, was du willst.“

„Hervorragend!“ ruft Oogie und klopft mir aufmunternd auf die Schulter.

„Ja, wirklich fantastisch.“ gebe ich trocken zurück.

„Da gibt es noch etwas, was du für mich tun kannst, Finkie.“ Oogie schreitet wieder auf und ab. Er wirkt dabei wie ein General. „Ich brauche… Untergebene... Ich bezweifle nämlich stark, dass ich hier noch eine Anhängerschaft habe.“

„Dann überrascht es dich vielleicht zu hören, dass es da eine kleine Untergrundorganisation gibt, die deine Geschäfte weiterführt.“

Oogies Augen weiten sich. „Das wird ja immer besser!“ Er freut sich. Auf eine perverse, widerliche Art und Weise freut er sich. Ich könnte kotzen.

Die „Untergrundorganisation“, von der Finkelstein sprach, stellt sich als ein Haufen Kleinkrimineller heraus, die Oogies Namen dazu missbrauchten, um sich selbst einen Namen zu machen. Oogie ist enttäuscht. Ich freue mich. Binnen weniger Tage schafft er es, sie auf seine Seite zu bringen. Er verspricht ihnen mehr Macht in der Stadt, Reichtum, Wohlstand, wenn sie ihm folgen. In ihrer Verzweiflung greifen sie nach dem Grashalm, den Oogie ihnen hinhält.

„Mit einem paar lausigen Taschendieben komme ich nicht weit.“ meint Oogie und schreitet wieder im Zimmer auf und ab. „Ich bräuchte... so etwas wie... eine Armee!“ In seinen Augen sieht man einen wahnsinnigen Glanz. „Finkie, erinnerst du dich noch an das kleine Frankenstein-Experiment, an dem wir an der Uni gearbeitet haben?“

Ich starre die beiden an. „Ihr seit beide zur Uni gegangen? Halloween Town hat eine Universität?“

„Nein, hier gibt es keine, aber in Valentine City. Oogie hat ebenfalls einen Doktortitel.“ erzählt Finkelstein. „Wir haben im selben Jahr promoviert. In Physik und Chemie.“

„Wir beide waren die Jahrgangsbesten.“ ergänzt Oogie. Er schwärmt noch weiter von ihrer Studienzeit. Es ist schwer vorstellbar, dass Oogie und Finkelstein mal so jung waren wie Shock, Barrel und ich. Diese ganze Situation ist skurril: Ich sitze hier in Finkelsteins Labor, während Shock, Barrel, Jack und Sally in der ganzen Stadt nach mir suchen und höre mir Anekdoten aus Finkelsteins und Oogies jungen Jahren an. Noch hat niemand Oogies Rückkehr bemerkt außer der „Untergrundorganisation“, Finkelstein und mir. Ich sah die Vermißtenanzeige mit meinem Bild in der Zeitung und die Flyer, die in der ganzen Stadt kursieren. Außerdem traf ich meine Freunde während der vergangen zwei Tage vier oder fünf Mal auf der Straße, aber sie erkannten mich nicht, weil ich meine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und den Kragen meines Mantel aufgestellt hatte. Sie schauten auch bei Finkelstein vorbei, der genaue Anweisungen hatte, was er antworten sollte. Auf ihren Gesichtern sind große Sorgenfalten. Meinetwegen. Verdammt. Mein Bedürfnis mich ihnen zu nähern, mit ihnen zu sprechen wird mit jedem Mal größer. So gern würde ich meine Arme um Shock legen. Schreien. Sagen was ich fühle. Was ich denke. Meinen Kopf in ihren Schoß legen und weinen. So groß ist meine Sehnsucht. Nach der Geborgenheit, an die ich mich – trotz meinem Willen, die Maskerade aufrecht zu erhalten – gewöhnt habe. Mach, dass es aufhört. Ich will es nicht mehr. Lass von mir ab. Sterben. Ruhe. Das ist es, was ich will.

„Träum nicht!“ schnauzt Oogie. Ich starrte gerade Löcher in die Luft, während ich eigentlich die Kadaver der Versuchstiere sezieren sollte. Ich nehme das Skalpell zur Hand und schneide in die Haut der Ratte. Blut spritzt mir entgegen. Vor wenigen Minuten lief sie noch in ihrem Käfig umher. Dann kam Oogie und was er mit ihr tat – das erwähne ich lieber nicht. Ich versuche, meinen gelangweilten Blick beizubehalten, damit Oogie ja keinen Grund findet, mich zu demütigen. Es widert mich an und es kostet mich einiges an Kraft. Den ganzen Nachmittag helfe ich bei den Experimenten. Ich weiß nicht ob ich es noch lange durchgehalten hätte, aber endlich sagt Oogie: „Fantastisch! Es läuft alles ausgezeichnet!“

Ich weiß nicht, was er meint. Ich verstehe von dem, was wir da tun, recht wenig. Ich frage auch nicht nach. Ich muss es nicht wissen. Ich will es gar nicht so genau wissen.

Weitere Tage verstreichen. Eines Nachts erwache ich durch ein ohrenbetäubendes Geräusch. Ich gehe die Treppe hinunter in das Labor. Oogie und Finkelstein beugen sich über den hohen Arbeitstisch. Etwas darauf bewegt sich. Als ich näher trete erkenne ich etwas mehr: Eine Kreatur, zusammengesetzt aus vielen Körperteilen verschiedener Menschen. Frankensteins Monster lebt. Es ist sehr fleischig, denn an einigen Stellen fehlt die Haut. Aus seinem schiefen Mund kommen gurgelnde Geräusche. Als würde es gerade ertrinken. Oogie versetzt ihm einen Schlag auf den Brustkorb. Es reißt die unterschiedlichen Augen auf, hustet, spuckt und richtet sich dann langsam auf.

„Schaffen wir das noch einmal?“ fragt Oogie und wischt sich den Schweiß von der Stirn.

„Noch einmal? Du willst noch mehr?“ Der Doktor sieht ihn empört an.

„Ich brauche mehr davon! Viel mehr! Ich will, dass meine Rache perfekt ist! Ich will, dass sie alle leiden!“ Er spricht wie im Wahn, mehr zu sich selbst als zu Finkelstein. „Ich brauche eine ganze Armee! Ich will nicht nur die Halloween-Welt! Halloween Town ist nur ein erstes Ziel! Ich will ALLES!“

„Und du glaubst, dass du das mit ein paar Matschbirnen schaffst?“ rutscht es mir heraus. Sie hatten mich vorher nicht bemerkt, darum wenden sich die beiden erschrocken zu mir um. Oogies Ausdruck verrät seine Wut. Er streckt die Hand nach meinem Hals aus, drückt fest zu und hebt mich dabei einige Zentimeter über den Boden. Ich zapple und strampele, während Oogie zischt: „Du hast ja keine Ahnung, du Idiot! Das hier ist nur ein erster Schritt in Richtung vollkommener Schöpfung! Und für Halloween Town völlig ausreichend! Hier rechnet niemand mit einem Angriff, sie aalen sich in ihrer heilen Welt und ihren heilen Vorstellungen! Ich…“

Er merkt vermutlich, dass ich langsam blau anlaufe, jedenfalls lässt er los. Geräuschvoll falle ich zu Boden, röchele und klinge dabei ähnlich wie dieses Geschöpf zuvor. Mein Hals schmerzt.

Oogie wendet sich wieder an Finkelstein: „Wie gesagt: Ich brauche noch viel mehr!“

Leichen. Viele Leichen werden herangeschafft. Der Friedhof ist eine reichhaltige Quelle. Tiere. Menschen. Alles wird herangeschafft. Im Verborgenen. Doch langsam wird die Stadt unruhig. Es bleibt nicht unentdeckt, dass die Anzahl der Morde in letzter Zeit ganz schön zunimmt und dass der Friedhof häufiger umgegraben wird. Der Friedhofswärter beschwichtigt die anfragenden Bürger: Es sei nötig, umzugraben. Das alles habe seine Richtigkeit. Auch er gehört zu Oogies Gefolge.

Zusammen mit Doktor Finkelstein schuf Oogie Hunderte dieser hässlichen, Frankensteins Monster ähnlichen Kreaturen. Er bezeichnet sie als seine „Kinder“. Mich zählt er dazu. Igitt. Mehr bin ich also nicht mehr? Ein seelenloses Stück Fleisch, das Oogies Befehle ausführt? Hirn- und herzlos wie sie? So abwegig ist dieser Gedanke gar nicht. Oder?

Wochen vergehen. Die Armee wächst und wächst. Gehalten werden die „Kinder" in einem leerstehenden Fabrikgebäude, in dem Barrel, Shock und ich früher häufig gespielt hatten. Bei der ersten Begehung zusammen mit Oogie und Finkelstein werden Erinnerungen wach. Die Maschinen sind mit großen Planen abgedeckt, alles ist verstaubt, Ratten laufen umher und es riecht, als würde etwas verwesen. Ach ja. Die Katze. Sallys Katze. Und ein Vogel. Und ein Hund. Die armen Viecher, die wir aus Versehen zu Tode erschreckt hatten, als wir direkt neben ihnen Silvesterkracher hatten hochgehen lassen. Sie müssten noch in der hinteren Ecke unter einem Schreibtisch liegen. Genau dort finde ich sie. Ich muss schmunzeln. Der Katze hatten wir eine Rakete an den Schwanz gebunden. Das arme Getier war durch die ganze Fabrik gesprungen, ehe sich die Lunte gelöst hatte. Danach war ihr Herz einfach stehengeblieben und sie war tot umgekippt. Wir kugelten uns auf dem Boden vor Lachen. Wir wurden älter. Irgendwann hörten wir auf hierher zu kommen, denn dieser Ort hatte seinen Reiz verloren. Jetzt war es für mich das reine Glück hier zu stehen, in einer Stätte unserer Kindheit, und in diesen Erinnerungen zu schwelgen. Ich lasse meinen Blick durch die Halle schweifen und vor meinem geistigen Auge sehe ich uns drei. Wie wir die Tiere bearbeiten. Wie wir Barrel zwingen, auf die oberen Dachbalken zu klettern, obwohl wir wussten, dass er Höhenangst hat. Wie Shock ihre erste Zigarette versucht und sie schließlich keuchend und hustend wegwirft. Wie Shock und ich allein hier sitzen und durch die hohen Fenster die Sterne ansehen. Shock. Shock. Shock...

„Für meine Zwecke ist es perfekt.“ schließt Oogie und reibt sich die Hände. „Ein bisschen Arbeit hier und da und es wird ideal sein.“ Dann wendet er sich zum Gehen.

Dann, eines Abends, während ich mich auf dem Boden sitzend um ein neues „Kind“ kümmere: „Morgen wird es soweit sein. Morgen schlagen wir zu.“ Ich schaue zu ihm auf. Mit seinem ekelerregenden Grinsen steht Oogie da und sieht wie ein Hirte auf seine Schafe herab. Schafe, kurz vor der Hinrichtung.

„Warum ausgerechnet morgen?“ frage ich.

„Morgen jährt sich mein Todestag. Ich finde das sehr passend. Ein bisschen Pathos darf es sein. Während der Feierlichkeiten im Rathaus schlagen wir zu. Alle wichtigen Leute werden anwesend sein. Alle, die leiden sollen. Jack, sein kleines Püppchen, der Bürgermeister, Finkelstein...“

„Finkelstein gehört doch zu uns.“

„Finkelstein ist schwach. Er wird uns verraten, da bin ich sicher. Er weiß nichts von meinen Plänen. Niemand weiß etwas. Niemand außer dir.“

„Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?“ frage ich genervt und wende mich ab.

„Aber natürlich! Du darfst diesen historischen Tag miterleben! Du hast quasi einen Logen-Platz! Du bist immerhin die rechte Hand des Teufels!“

„Ja oder Satans rechte Arschbacke.“ murmele ich. „Du hast versprochen, Jack und Sally in Ruhe zu lassen. Und Barrel. Und Shock.“

„Das habe ich nicht vergessen. Ich werde sie in Sicherheitsverwahrung nehmen.“

„Du hast gesagt, du lässt sie in Ruhe.“

„Das tue ich doch!“ sagt er gespielt entrüstet. „Aber ich kann sie doch schlecht draußen herumlaufen lassen. Sie könnten mir gefährlich werden.“

„Dann schaff sie fort, aber sperr sie nicht ein!“ flehe ich.

„Wohin denn?“

„Nach Christmas Town! Zu Sandy-Claws! Von dort aus können sie keine Schwierigkeiten machen!“

„Ach, Lock. Du bist einfach viel zu naiv.“ Er lächelt mitleidig. „Du glaubst doch nicht, dass ich nur in Halloween Town bleibe! Die anderen Feiertage sind auch bald dran!“

„Dann… dann...“

„Na also. Dir fällt auch nichts Besseres ein. Aber keine Bange: Ich werde sie unter ‚Hausarrest‘ stellen, wie wäre das?“

„Aber...“ Ich seufze. Ich kann ja doch nichts ausrichten. Alles ist egal, solange Shock nicht die Wahrheit erfährt. Langsam frage ich mich, ob es das wirklich wert ist. Vielleicht hatte das Engelchen auf meiner Schulter ja doch Recht? Ist das Wohl Aller wichtiger als das Wohl des Einzelnen? Wichtiger als mein Wohl? Ich weiß nicht. Ich bin egoistisch. Ich fürchte mich vor Shocks Blick. Ich könnte es nicht ertragen, von ihr gehasst zu werden. Ich will nicht, dass sie...

Hassen wird sie mich dennoch. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Sie wird mich verachten, wenn sie sieht, dass ich mit Oogie zusammenarbeite. Dieser Gedanke kommt mir erst jetzt! Schnell wende ich mich an Oogie.

„Hör mal...“

„Hm?“

„Ich brauche doch nicht... Ich meine, ich... muss doch nicht in Erscheinung treten, oder? Also...“

„Warum denn nicht? Das wird doch ein Heidenspaß!“

„Aber wenn sie erfahren, dass ich dir helfe...“

„... dann wird Shock es bald auch erfahren. Geht dir das auch endlich auf?“ Wieder grinst er. „Hast ja ganz schön lange dafür gebraucht! Jetzt machst du dich nicht nur an Shock schuldig, sondern an der ganzen Stadt!“

„Ich hatte nur den Gedanken, dass sie von... ihren... Eltern...“ Mir wird schlecht und schwindelig. Wie kann man nur so dämlich sein? Warum war mir das nicht vorher...

Oogie beobachtet mich. Wortlos geht er vor mir auf und ab. Dann seufzt er und sagt: „Na schön, du kannst mir auch anders dienlich sein.“

„W-wirklich?“ Verwirrt sehe ich zu ihm auf. Hat er das ernst gemeint oder will er mich auf den Arm nehmen?

„Sicher. Ist doch ganz egal.“ Er macht eine wegwerfende Geste und wendet sich zum Gehen.

„Oogie!“ Ich stürze aus der Fabrik hinter ihm her. „Was soll das? Was sind das für Tricks? Wieso...“ Er hebt seine Hand. Reflexartig schütze ich mein Gesicht mit meinen Armen, aber was ich spüre lässt mich erstarren. Ich hatte mit einem Faustschlag oder einer saftigen Ohrfeige gerechnet, stattdessen ruht seine Hand auf meinem Kopf und zerzaust auf spielerische Weise mein Haar. Ich senke meine Arme und sehe ihn mit ungläubiger Miene an.

„Wieso?“ frage ich erstickt.

Er lächelt. Kein ekelerregendes, kaltes Grinsen. Nein. Ein warmes, freundliches Lächeln. Dann geht er.



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