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Anders, als man denkt

von

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Christmas Eve

Die Straßen von New York City wirkten fast noch ein wenig hektischer als an den restlichen dreihundertvierundsechzig Tagen im Jahr. Menschenmassen drängten sich aneinander vorbei, hier und da konnte man jemanden schimpfen hören, wenn es denn nicht im dröhnenden Gehupe eines Autos unterging. An den Häuserfassaden und in den riesigen Schaufenstern der noch riesigeren Kaufhäuser tummelte sich eine bunte Glühbirne neben der nächsten, die alle zusammen ein ungeheures Spektakel bildeten, das nur bedingt Weihnachtsstimmung aufkommen ließ.

Ja, es war Weihnachtszeit und tatsächlich bereits der 24. Dezember, Weihnachtsabend. Oder Weihnachtsnachmittag. Denn die Sonne war gerade erst dabei, hinter dem Horizont zu verschwinden, oder viel mehr hinter den Hochhäusern, denn einen Horizont konnte man hier weit und breit nicht erblicken. Nicht, dass ihr Fehlen besonders aufgefallen wäre, denn sie hatte den ganzen Tag über nicht gerade hell und motiviert gewirkt, und eigentlich wäre niemand verwundert gewesen, wenn es plötzlich angefangen hätte zu regnen. An Schnee zum Fest glaubte hier schon lange niemand mehr.

Jedenfalls lag es wahrscheinlich an Weihnachten, dass eine derartige Hektik auf den Straßen herrschte. Oder vielleicht doch nur an New York City: hier ging es immer hektisch zu.

Der junge Mann mit dem violetten Haar seufzte ein wenig und vergrub sich dichter in seinen Mantel. Er hätte sich auch Besseres vorstellen können, als am 24. Dezember auf dem Weg zur Arbeit zu sein. Natürlich, andere Leute mussten auch arbeiten, und das Verbrechen schlief ja bekanntlich nie. Aber sie hatten doch gerade überhaupt keinen Fall zu lösen, da hätte man doch wenigstens zu Weihnachten mal ein Auge zudrücken können? Nun waren sie schon so eine tolle Spezialeinheit und mussten trotzdem eine Art Bereitschaftsdienst leisten.

Aber eigentlich …

Jamie J. Adams, der von seinen Freunden und Kollegen nur kurz „JJ“ gerufen wurde, grinste ein wenig in sich hinein.

Eigentlich störte es ihn gar nicht, dass er heute eine Nachtschicht einlegen durfte. Er wusste ja schließlich, mit wem er diese Nachtschicht verbringen würde, und so gesehen hätte er sich vielleicht doch nichts Besseres für diesen Weihnachtsabend vorstellen können.

Das Grinsen wurde noch eine Spur breiter, und zum Glück waren die vorbeieilenden Passanten viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, sonst hätte der eine oder andere dieser plötzlich seltsam vergnügt wirkenden Gestalt sicherlich einen skeptischen Blick zugeworfen.

 

„Dee!!“ Im Büro kannte man JJs stürmische Begrüßungen seit Jahren, und so sah niemand wirklich auf, als der ewig junge Wirbelwind zur Tür hineinstürmte und sich ohne große Umschweife auf das Objekt seiner Begierde stürzte. Drake las weiter in seiner Zeitung, Ted, der sich gerade durch die Tür nach draußen schob, winkte zum Abschied, Ryō lächelte mitleidig.

„JJ, verdammt! Lass mich los!!“ Nur Dee konnte bei dieser stürmischen Begrüßung seines Kollegen und Verehrers nicht ruhig bleiben, zappelte und brüllte wie am Spieß und versuchte, den kleinen Quälgeist, der sich fest an ihn geklettet hatte, auf irgendeine Weise loszuwerden. „Lass mich los, du Spinner!“

„Aber Dee, was redest du da! Sei gefälligst ein bisschen freundlicher zu mir! Schließlich ist Weihnachten und wir werden die ganze Nacht zusammen verbringen.“ Die großen blauen Augen strahlten den anderen Mann an, und vergnügt die Hände vor der Brust zusammenschlagend ließ JJ nun endlich von ihm ab. Für einen kurzen Moment war es still im Raum.

Ein Grinsen kniete sich in Dees Mundwinkel.

Ryōs Lächeln wurde noch ein wenig mitleidiger.

„Irrtum! Ich werde jetzt mit Ryō nach Hause gehen und Weihnachten mit ihm verbringen, während du“, er deutete auf das aufmerksam lauschende Wesen vor ihm, „die Nachtschicht mit Drake“, der Finger wandte sich nach hinten, wo sein Kollege noch immer stillschweigend saß, „verbringen wirst.“

Ungläubige blaue Augen huschten zwischen Dee und Drake hin und her, bevor sie bei letzterem hängen blieben und ihn vorwurfsvoll anstarrten.

„Hey, Dee hat gefragt, ob ich nicht mit ihm tauschen würde. Und na ja, wieso nicht, ist ja nicht so, dass ich 'ne Freundin oder so zuhause hätte, die auf mich wartet …“

„Was kann ich denn dafür, dass dir eine Frau nach der anderen abhaut! Dee, bitte, du kannst jetzt nicht einfach gehen!“

„Und wie ich das kann! Das wird dieses Jahr ein ganz besonderes Weihnachten, wo Bikky doch in Los Angeles aufs College geht und Carol ihn besuchen gefahren ist, da hab ich endlich mal ein paar Tage allein mit Ryō.“

Ryō hob bei den Freudenausbrüchen seines Partners skeptisch eine Augenbraue und fragte sich innerlich, was mit den übrigen Tagen im Jahr war, die Bikky ebenfalls schon aufs College ging und die Carol nicht bei ihnen verbrachte, denn es war ja nun definitiv nicht so, dass das Mädchen jeden Tag bei ihnen vorbeischaute. Aber er schwieg weiterhin und sah zu JJ, der mittlerweile wie ein kleines Häufchen Elend im Raum stand. Er tat ihm ein wenig leid, auch wenn er selbst es natürlich begrüßte, dass sein Freund Weihnachten mit ihm verbringen würde.

„Aber … aber, aber Dee, ich hab … dir sogar Kekse gebacken!“ Er hielt ihm ein Bündel zuckrigbuntes Gebäck unter die Nase, aber Dee schob es (und den jungen Mann gleich mit) zur Seite und schüttelte ablehnend den Kopf.

„Vergiss es. Das ist mir zu riskant, wer weiß, ob das essbar ist, wenn du es selbst fabriziert hast!“

„Dee!!“ Es sollte ihn necken, aber Ryō war sich nicht sicher, wie sehr es ihn vielleicht wirklich verletzte.

„So, und jetzt jaul mir nicht weiter die Ohren voll. Drake, ich überlass ihn dir. Wir sind dann raus!“ Mit der einen Hand schnappte er sich seinen Mantel, mit der anderen seinen Freund, und Ryō kam nur ganz kurz dazu, seinen beiden verbleibenden Kollegen noch ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen.

Draußen auf dem Flur konnte man ihre Stimmen noch für einen Augenblick hören.

„Du hättest nicht so hart zu ihm sein müssen …“

„Ach was, der steckt das schon weg … Oh, schau mal Ryō, ein Mistelzweig.“

„Dee!“

Und dann war es still.

JJ hatte sich nach dem ersten Schock missmutig auf einen Stuhl plumpsen lassen, hatte zwei-, dreimal resigniert vor sich hin geseufzt und dann mit der ganzen Verachtung, die er aufbringen konnte, zu Drake gestarrt.

„Musstest du das tun? Du hast mir mein ganzes Weihnachtsfest vermiest!“

„Wo ist es ein Fest, wenn wir hier im Büro hocken und darauf warten, dass irgendwas passiert? Oder noch besser, dass eben nichts passiert.“

„Mit Dee wäre es ein Fest gewesen!“ Trotzig wandte er den Blick zur Seite, vergrub seinen Kopf in seinen verschränkten Armen.

„Hast du nicht gemeint, du bist über ihn hinweg?“

„Binichjaauch …“, kam es nuschelnd zurück. „Aber … es wäre trotzdem nett gewesen, heute Zeit mit ihm zu verbringen. Einfach so. Und na ja …“

„Das klingt nicht so, als wärst du über ihn hinweg.“

JJ seufzte.

„Doch. Es hat ja keinen Sinn … die beiden sind wie für einander geschaffen. Das ist … fast abartig, wie gut die zueinander passen und wir sehr sie sich lieben. Jetzt wohnen sie auch noch zusammen. Also bringt's doch nichts, wenn ich ihm weiter hinterherrenne.“

„Ihn aufgeben ist aber nicht das gleiche, wie ihn nicht mehr zu wollen, oder?“ Vorwurfsvoll der Blick aus den blauen Augen. „Hey, ich hab's dir doch schon mal gesagt, ich bin ein Experte, wenn's um gebrochene Herzen geht.“

„Es wäre einfach nett gewesen, Zeit mit ihm allein zu verbringen. Von mir aus auch ganz unverfänglich. Und auch, wenn ich weiß, dass ich ihn nicht haben kann. Ich mag ihn halt einfach, was ist daran so schlimm, mich ein wenig in seiner Gegenwart zu akzeptieren?!“ Vielleicht sollte JJ in diesem Fall seine Vorgehensweise noch einmal überdenken und eventuell einen etwas subtileren Weg einschlagen, aber diesen Gedanken behielt Drake wohlweislich für sich. „Wenigstens die Kekse hätte er ja probieren können. Arg, was stellt sich dieser Idiot bloß immer so an!“

„Dann gib sie mir.“ JJ sah ihn fragend an. „Na, ist doch immer noch besser, als wenn sie niemand isst, oder?“

Wortlos wurde Drake die kleine Tüte hinüber geschoben. Er blinzelte verwirrt.

Er hatte gedacht, JJ würde ihn anschnauzen, würde ihn fragen, wie er es wagen konnte, die Kekse essen zu wollen, die für seinen geliebten Dee gedacht gewesen waren.

Es wäre ihm lieber gewesen als diese Resignation, mit der JJ sich nun erneut abwandte, schweigend.

Aber so sagte auch er nichts, öffnete die pink glitzernde Schleife um das Bündel, nahm sich eines der Zuckerguss getränkten Teilchen und probierte zögerlich. Er musste zugegeben, dass sie gar nicht mal so übel schmeckten.

„Natürlich nicht … Das hätte Dee auch wirklich wissen können. Ist ja nicht so, dass es das erste Mal war, dass ich ihm was mitgebracht hab.“

„Hast du's eigentlich einfach mal mit jemand anderem versucht?“

„Hm?“

„Na ja, mit 'nem anderen … Kerl. Oder 'ner anderen Frau.“

„Männer. Ich mag keine Frauen. Aber nein.“

„Nein?!“

„Nein. Also, ja … mal 'n bisschen was…“ Eigentlich wollte er gar keine Details hören. „Aber nie was Ernsthaftes. Ich wollte ja Dee, wieso sollte ich's da mit irgendjemand anderem probieren?“ Der ungläubige Blick in Drakes Gesicht wandelte sich zu einem sanften Lächeln, bevor er JJ liebevoll über den Kopf fuhr, so wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte.

Für einen Moment war es still im Raum, schwiegen sie beide, Drakes Hand noch immer auf dem Kopf des anderen ruhend. Dann ergriff er mit einem Mal erneut das Wort.

„Schau mal.“ Und deutete mit einem Kopfnicken zum Fenster.

JJ folgte dem Blick.

„Hmpf. Jetzt schneit es also doch noch.“ Tatsächlich fielen ein paar einzelne Flocken vom Himmel, nur um auf dem Boden sofort wieder zu schmelzen, weil es eigentlich viel zu warm für Schnee war. Dennoch verlieh es der mittlerweile dunklen Landschaft vor ihrem Fenster eine gewisse angenehme, vielleicht sogar weihnachtliche Atmosphäre.

„Frohe Weihnachten, JJ.“ Er wusste nicht, woher das mit einem Mal gekommen war, und sein Gegenüber winkte es auch nur undankbar ab.

„Noch nicht. Heb dir das für in ein paar Stunden auf.“

Drake nickte.

Und dann starrten sie beide wieder schweigend aus dem Fenster.



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