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Odoroki High

Ein Magical Girl-Fantasy-Mix
von

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Neue Wege

Willkommen an der Odoroki High! Du wirst bald merken, dass diese Schule anders ist als andere. Doch keine Sorge, man gewöhnt sich recht schnell daran.

Direktor Toki
 

Kapitel 1 - Neue Wege
 

Es gab keine Farben und es gab kein wirkliches Licht. Nur die Welt der ewigen Dämmerung und darin nicht einmal die Hoffnung auf einen neuen Tag. Geräusche fehlten, ebenso wie jegliche Form von Leben. Im Zwielicht lag das Nichts, eine Art von Einsamkeit, die das Herz zerreißen wollte. Man konnte weit blicken, auf das Land oder auch in die eigene Seele, aber es gab nicht wirklich etwas zu sehen. Der Wahnsinn folgte einem in dieser Welt auf dem Fuße, er ging mit der Einsamkeit Hand in Hand. Wollte man ihm ein Schnippchen schlagen, musste man eine starke Seele besitzen.

Sie schien solche eine Seele zu haben. Nicht umsonst war sie seit Jahren sie selbst geblieben, geprägt von dieser Welt, in die sie dauernd floh, ob gewollt oder nicht. Wenn sie die Augen schloß, dann sah sie nur selten Dunkelheit, wie andere es tun mochten. Und wenn sie schlief, dann war es ein Geschenk, nicht zu träumen. Denn diese öde Welt war in ihr und irgendwie in ihren Gedanken. Fast jede Nacht träumte sie davon, warum, das wusste sie nicht. Früher hatte ihr das Angst gemacht, sie hatte nicht mehr schlafen wollen, doch inzwischen, so absurd es ihr vorkam, fühlte sie sich in ihren Träumen beinahe daheim. Das hieß nicht, dass sie gerne dorthin ging. Ab und zu brauchte sie eine Pause. Ansonsten würde es ihr eines Tages nicht mehr gelingen, mit ihrem ganzen Bewusstsein in die Realität zurückzukehren. Es war reine Gewohnheit, dass sie allein durch ihre Träume wandelte. Es war nie anders gewesen.

Bis zu der Nacht, in der sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war ein Schock gewesen, als sie ihn dort hatte sitzen sehen, ganz allein auf dem Felsen. Er hatte ins Tal geblickt und eine Melodie gesummt. Und auch das war neu gewesen: Etwas in der ewigen Stille zu hören. Mit klopfendem Herzen hatte sie dagestanden und ihn angestarrt - sein dunkles Haar, den weiten Umhang, den er trug, seine Hände, die ruhig in seinem Schoß lagen. Lange hatte sie dort gestanden und ihn angesehen. Bis sie aufgewacht war und selbst dann hatte sie nicht gewagt, die Augen zu öffnen, aus Angst, seinen Anblick zu vergessen und wieder allein zu sein in ihrer Welt.

Ihre Angst war unbegründet gewesen. Von da an war sie ihm öfter begegnet. Nicht immer, aber das war auch gar nicht nötig. Sie folgte ihm durch die Ödnis, wann immer er einen seiner zahlreichen wirren Wege beschritt, und lauschte seinen Liedern, die er meist nur in kurzen Andeutungen summte. Jede seiner Bewegungen nahm sie begierig in sich auf, ahmte sie mitunter nach, wenn er geschickt einen felsigen Hang hinunter stieg und sie hinter ihm her stolperte. Sie war sich nicht sicher, ob er überhaupt von ihrer Existenz wusste, obwohl sie ständig bei ihm war. Nie hatte er sie angesehen oder gar mit ihr gesprochen. Und sie fand nicht den Mut, auch nur ein Wort an ihn zu richten.

So wurde es für sie normal, von ihm zu träumen und ihn zu begleiten. Er blieb ein Rätsel für sie und wenn sie an ihn dachte, dann seufzte sie nicht seinen Namen, den sie nicht kannte, sondern sie sah seine Augen vor sich, die so hell, kalt und klar wie Wasser waren. Sie teilte ihn mit niemandem, so wie niemand von ihren Träumen wusste, und ihre Freundinnen, die eine heimliche Liebe vermuteten, versuchten vergeblich, das Geheimnis zu lüften, das sie so beharrlich hütete. Und es auch weiterhin hüten würde, das hatte sie sich geschworen. So lange wären ihre Lippen versiegelt, bis er eines Tages wahrhaftig vor ihr stehen sollte...
 

Der Tag hatte scheußlich begonnen. Aya hatte schlecht geschlafen und war viel zu spät aufgestanden, so dass ihr die Bahn vor der Nase weggefahren war. Also hatte sie laufen müssen, den ganzen Weg bis zur Schule, und unterwegs hätte sie beinahe Bekanntschaft mit dem Kühlergrill eines Jeeps gemacht. Ihr Frühstück hatte sie gleich ganz vergessen können und auch die Hoffnung, in der Schule schnell noch einen Happen zu essen, hatte sich zerschlagen, als sie zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn in die Klasse gestürmt kam. Völlig außer Atem ließ sie sich auf ihren Platz fallen, schloß die Augen und wünschte sich, der Tag möge schon vorbei sein. Er war es nicht, als sie die Augen wieder öffnete und in Ikukos Gesicht sah.

"Guten Morgen, Aya!" Ikuko grinste und lehnte sich auf Ayas Pult. Sie saß einen Platz weiter vorn und hatte ihren Stuhl herumgedreht. "Du siehst ganz schön fertig aus. Hast du einen schlimmen Morgen gehabt?"

"Frag besser nicht danach", seufzte Aya. "Ich wette, ich sehe genau so aus, wie ich mich fühle: fix und fertig."

"Tut mir leid, wenn ich dir da nicht widersprechen kann. Paß auf, ich hab was für dich." Ikuko drehte sich um, bückte sich nach ihrer Tasche und zog eine weiße Feder heraus, die sie Aya hinhielt. "Hier."

"Was soll ich damit?"

"Die lag heute morgen auf deinem Pult. Ich weiß nicht, wer sie dort hingelegt hat, die Fenster waren geschlossen, also muß sie schon jemand mit hereingebracht haben. Satoshi wollte sie nehmen und zerrupfen, aber ich hab gedacht, dass sie vielleicht eine Bedeutung hat und für dich bestimmt ist." Ikukos Grinsen wurde noch breiter. "Vielleicht von einem heimlichen Verehrer?"

Aya spürte, wie sie rot anlief. "Quatsch nicht!" Ihr wurde ganz schwindlig bei dem Gedanken daran, dass diese Feder von jemandem stammen könnte, der in sie verliebt war. Der sie nun vielleicht gerade beobachtete, ihre Reaktion abschätzte. Sie wagte es gar nicht, auf etwas anderes zu sehen, als auf die Feder. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, obwohl sie mit aller Macht dagegen ankämpfte.

"Ich wüsste jetzt ja zu gerne, wen du denn nun schon so lange vor deinen Freunden verheimlichst. Nicht, dass dieser mysteriöse Junge der Täter ist und sich da ohne mein Wissen was entwickelt. Immerhin bin ich deine beste Freundin - oder etwa nicht?" Der schräge Blick, den Ikuko Aya zuwarf, sprach Bände. Entweder würde sie ihr jetzt etwas von dem Mann aus ihren Träumen erzählen oder Ikuko wäre so tödlich beleidigt, dass sie tagelang kein Wort mehr mit ihr reden würde.

"Ich ... Also, Iku-chan, weißt du, die Sache ist die ..." Während Aya noch nach Worten suchte, um sich herauszureden, ging die Tür auf und der Lehrer kam herein. Aya griff nach der Feder und Ikuko drehte sich blitzschnell um. Das war das erste Mal, dass Aya einen Lehrer hätte umarmen mögen.

Während der Lehrer den Unterricht begann, beschäftigte Aya sich mit der Feder. Sie fühlte sich merkwürdig warm an in ihrer Hand und wog eigenartig schwer, dabei hätte sie eigentlich kaum Gewicht besitzen dürfen. Aya hatte keine Ahnung, wer ihr dieses Geschenk hätte machen können. Eine Feder von einem heimlichen Verehrer? Sie glaubte nicht daran. Das war einfach zu ungewöhnlich. Was sollte sie damit verbinden? Wer wollte ihr etwas sagen?

Verstohlen sah Aya sich in der Klasse um. Das konnte doch nicht sein, dass einer von denen... Schon allein bei der Vorstellung, einen heimlichen Verehrer in ihrer Klasse zu haben, in dieser Klasse, in der es von Idioten nur so wimmelte, bekam Aya eine Gänsehaut. Nein, unmöglich! Und selbst wenn es so wäre, hätte niemand von denen so viel Phantasie, ihr ein derart eigenartiges Geschenk zu machen. Es war ja auch nicht so, dass sie sich darüber freute. Sie wunderte sich. Doch mehr nicht. Höchstens Ärger war da noch. Ärger darüber, dass Ikuko neugierig geworden war. Daß sie wieder einmal von Ayas angeblicher Schwärmerei für irgendeinen Jungen angefangen hatte... Sie würde weiterbohren. Und dabei war es doch gar nicht so einfach, sonst hätte sie es ihr sicher schon gesagt. Ikuko würde es nicht verstehen. Niemand würde das verstehen. Außerdem sollte es vielleicht auch niemand erfahren. Aya hatte da so ein Gefühl.

"Fräulein Ichiyanagi, wären Sie bitte so freundlich, meinem Unterricht zu folgen? Oder möchten Sie den Rest der Stunde im Zimmer der Rektorin verbringen?"

"Äh..." Aya sah erschrocken auf, schloß die rechte Hand um die Feder und lief knallrot an. "Nein, Herr Kusanagi. Es tut mir leid, ich war nur..." Sie suchte verzweifelt nach Worten, wich dem Blick des Lehrers aus und sah aus dem Fenster, in der Hoffnung, es gäbe einen Knall und sie würde im Boden versinken - oder zumindest aus dem Klassenzimmer verschwinden.

Und da stand er.

Aya hielt die Luft an. Das war er, ohne Zweifel! Der Junge aus ihrem Traum. Drüben bei den Kirschbäumen, gleich neben dem Schultor. Er trug die gleichen Sachen wie in ihren Träumen: das Hemd, die Hose, die Stiefel - ja, sogar den Umhang! Und zum ersten Mal sah sie das alles nicht nur in den merkwürdig farblosen Schattierungen ihrer Traumwelt, sondern so, wie es sein sollte. Seine Kleidung war hell, ein helles Braun oder Beige. Der Umhang dunkel, blau vielleicht, aber nicht schwarz. Und seine Haare. Seine tiefschwarzen Haare.

Sie begann zu zittern. Herr Kusanagi redete auf sie ein, aber sie war nicht in der Lage seine Worte aufzunehmen und zu verstehen. Unverwandt blieb ihr Blick auf den Jungen dort unten gerichtet. Eigentlich stand er schon an der Schwelle zum Mann. Das fiel ihr auf. Dabei sollte sie doch daran denken, dass es absolut unmöglich war! Das konnte nicht passieren. Er lebte nur in ihren Träumen. Er konnte nicht dort stehen und -

Er sah sie an. Er blickte nicht nur hoch zu den Klassenräumen, das spürte sie. Er sah sie an, hinter dem Fensterglas, das doch eigentlich spiegeln musste, er konnte sie nicht sehen, konnte er nicht, und doch... Langsam begann sie, an ihrem Verstand zu zweifeln. Vor allem, da sie seine Augen so genau sehen konnte. Diese hellen, klaren Augen. Aus der Entfernung?

Sie stand auf und stürzte ans Fenster. Entweder hatte sie Halluzinationen oder es ging etwas vor, was höchst merkwürdig war. Mehr noch als das. Nicht nur merkwürdig. Unheimlich. Aya musste unwillkürlich an einen dieser Groschenromane denken, in denen es um Geister und Vampire und andere mysteriöse Dinge geht. Allerdings war das hier die Wirklichkeit. Hoffentlich. Sie riß das Fenster auf. Er sah sie noch immer an. Mit einem Blick, den sie nicht deuten konnte. Traurig?

"He!" Sie lehnte sich weit aus dem Fenster und wunderte sich noch, dass sie sich nicht lächerlich vorkam. Er verzog keine Miene und für eine oder zwei Sekunden sahen sich das Mädchen oben am Fenster und der Junge unten im Hof einfach nur an. Dann löste er den Blick von ihr, sah über ihre rechte Schulter und sie folgte dem Blick.

Herr Kusanagi hatte sich hinter ihr aufgebaut. Sein Gesicht war puterrot, an der Stirn trat eine Ader hervor. Er schrie, das bemerkte Aya erst jetzt. Alle Schüler ihrer Klasse starrten sie an, als wäre sie verrückt geworden. Sie drehte sich um und sah wieder zum Hof, doch der Junge war fort.

Als Herr Kusanagi sie mit sich zum Zimmer der Direktorin schleifte, fragte Aya sich ernsthaft, ob sich das fehlende Frühstück durch Unzurechnungsfähigkeit bemerkbar machte. Oder schlichen sich ihre Träume jetzt etwa schon in das, was sie als Realität ansah?

Sie öffnete die rechte Hand und betrachtete die Feder. Sie hatte die Farbe gewechselt.
 

"Ich glaube, du brauchst dringend einen Arzt."

Ikuko schüttelte bestimmt zum hundertsten Mal den Kopf und seufzte. Sie hatte auf Aya gewartet, die nach Schulschluß noch einmal zur Rektorin bestellt worden war. Nun gingen sie zusammen nach Hause - Aya still und nachdenklich, Ikuko entnervt und gereizt.

"Was ist denn in letzter Zeit bloß mit dir los? Ich meine, okay, du warst schon immer etwas eigenartig, aber gut... Damit lernt man umzugehen. Womit ich allerdings nicht umgehen kann, das ist deine Heimlichtuerei. Und heute dieser Anfall im Unterricht... Ich verstehe gar nichts mehr!"

Aya schwieg. Sie fühlte sie merkwürdig ruhig und das, obwohl ihr die Rektorin mit einem Verweis gedroht hatte. Ein Verweis... Vermutlich hatte sie nur keinen erhalten, weil sie ansonsten eine gute Schülerin war und sich niemals etwas derartiges geleistet hatte. Bis heute. Eigentlich lächerlich.

Im Nachhinein war sich Aya auch gar nicht mehr so sicher, ob sie den Jungen wirklich gesehen hatte oder nicht. Es war so real gewesen und doch... Sie öffnete die rechte Faust und betrachtete die Feder. Den ganzen Tag hatte sie das zarte Ding nicht mehr losgelassen. Irgendetwas hatte es mit ihr auf sich. Wenn sie doch nur herausfinden könnte, was!

"Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?" Ikuko war stehen geblieben und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ich rede mir den Mund fusselig und das Fräulein träumt vor sich hin. Mir reicht es. Ich gehe. Solltest du irgendwann den Weg zurück in die Normalität gefunden haben, kannst du mich ja informieren."

Ikuko wollte schnurstracks an Aya vorbeilaufen. Doch als sie mit ihr auf gleicher Höhe war, packte Aya sie am Arm und hielt ihr die Feder unter die Nase. Ikuko runzelte die Stirn. "Was soll das?" fragte sie verärgert.

"Das ist die Feder von heute morgen." Aya ließ Ikuko los und schloß die Hand wieder zur Faust. "Ich hab sie den ganzen Tag mit mir herumgeschleppt."

"Aber die Feder auf deinem Tisch war weiß und ich hab dir auch eine weiße gegeben. Was hat das denn jetzt überhaupt mit all dem anderen Unfug zu tun? Willst du mich auf den Arm nehmen? Ich warne dich, treib es nicht zu weit. Ich bin gerade überhaupt nicht zu Späßen aufgelegt!"

"Iku-chan..." Aya seufzte. Einerseits konnte sie Ikukos Reaktion auf ihr Verhalten in der letzten Zeit ziemlich gut nachvollziehen. Schließlich hatten sie immer alles miteinander geteilt und sie musste sich ausgeschlossen fühlen. Als dürfe sie nicht mehr an Ayas Leben teilhaben. Andererseits war ihr Ausbruch dann doch wohl etwas zu heftig. Schließlich hatte Aya ja niemanden verletzt oder so etwas.

"Hast du mir was zu sagen oder nicht? Wenn nicht, dann würde ich jetzt ganz gern nach Hause gehen und meine Zeit mit etwas Sinnvollerem verbringen, als hier mit dir herumzuhängen."

Aya zögerte. Sie konnte Ikuko unmöglich etwas von ihren Träumen erzählen. Schon gar nicht von dem Jungen. Sie hätte sich ihr gerne anvertraut, aber alles konnte sie ihr nicht erzählen. Das klang einfach zu verrückt.

"Es ist die Feder von heute morgen. Nach dem Vorfall im Klassenzimmer, als Herr Kusanagi mit mir zur Rektorin gegangen ist, da habe ich die Hand geöffnet und die Feder angesehen. Und da war sie schwarz. Sie hat einfach die Farbe gewechselt."

Ikuko starrte Aya verwirrt an. "Was? Willst du mir erzählen, dass du diese Feder in der Hand hattest, die ganze Zeit im Unterricht, und als du aus der Klasse gekommen bist, war sie schwarz? Verfärbt? Wie durch Zauberhand? Ist das dein Ernst?"

Aya nickte.

"Okay." Ikuko fasste sich an die Stirn. "Ich habe nicht die geringste Ahnung, was da im Unterricht passiert ist. Ich habe nicht mal eine Ahnung, was mit dir passiert ist. Ich wollte es herausfinden. Ich wollte dir helfen. Aber weißt du, wenn du mir jetzt mit solchen Schauermärchen kommst, dann habe ich dazu keine Lust mehr. Für heute reicht es mir."

Aya sah der Freundin nach, die mit schnellem Schritt davonging. Sie hatte es verpatzt. Ikuko war wütend. Das war sie schnell und das war sie oft, sicher. Aber dieses Mal... Aya hatte irgendwie das unbestimmte Gefühl, dass es dieses Mal anders war. Schlimmer. Aber nun konnte sie nichts mehr tun. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Ikuko gegangen war. Nicht die Stimmung, in der sie Aya verlassen hatte, aber... Aya musste nachdenken. Sie wusste nicht recht, was sie von all dem halten sollte. Unentschlossen betrachtete sie wieder die Feder. Seit sie schwarz war, fühlte sie sich kalt an.

Einem plötzlichen Impuls folgend drehte Aya sich um und lief die Straße zurück zur Schule. Wenn sie einen Hinweis auf den Jungen finden konnte, dann dort.

Der Schulhof war verlassen. Von den Sportplätzen waren Rufe und Lachen zu hören, doch zu sehen war niemand. Aya schluckte. Sie wusste nicht, warum es ihr so schwer fiel, dort zu den Bäumen hinüber zu gehen, wo sie ihn gesehen hatte. Ihr Herz schlug wie wild. Endlich riß sie sich zusammen und ging hinüber. Suchend wanderte ihr Blick über den Boden, in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden. Irgendeinen Hinweis. Aber da war nichts.

"Wäre auch zu schön gewesen", seufzte Aya, setzte sich und lehnte sich an einen Baumstamm. "Ich bin wahrscheinlich wirklich verrückt." Sie öffnete die rechte Hand. Die schwarze Feder lag auf ihrer Handfläche und schien das Licht der Sonne zu schlucken. Aya holte Luft und blies die Feder davon. Sie schwebte durch die Luft, drehte sich, taumelte und sank schließlich - vom Wind getragen - ein paar Meter weiter zu Boden. Genau vor den Füßen des Jungen.

Aya erschrak fast zu Tode, als sie ihn da stehen sah. Es war anders als am Morgen, denn er trug nun andere Sachen, eine fremde Schuluniform, aber er war es auf jeden Fall! In der rechten Hand hielt er eine Schultasche, seine klaren Augen blickten auf die Feder vor seinen Füßen...

"Oh..." Aya wurde blaß. Ihre Hände begannen zu zittern.

Der Junge löste nun den Blick von der Feder und sah das Mädchen an. Er runzelte die Stirn. "Geht es dir nicht gut?"

Seine Stimme... Er musste es sein! Sicher, Aya hatte ihn in ihren Träumen noch nie sprechen gehört, aber es passte. Es passte alles so genau. Das Aussehen, die Körperhaltung, einfach alles, was sie in ihren Träumen von ihm kennen gelernt hatte. Und was sollte sie nun tun?

"Bist du stumm oder so was?"

Aya öffnete den Mund. Was sollte sie sagen? Ihr war plötzlich hundeelend. Das konnte doch alles gar nicht möglich sein! Vermutlich träumte sie gerade oder sie war nun wirklich vollends verrückt geworden. Menschen konnten nicht einfach aus Träumen herauskommen. Das war unmöglich. Völlig absurd.

Und was sollte sie sagen? Es gab nichts, was sie in ihrer Vorstellung nicht schon zu ihm gesagt hatte, aber natürlich war das etwas ganz anderes gewesen. Was nun? Und wenn sie...

"Kneif mich."

"Hä??" Der Junge wich einen Schritt zurück. "Was bist du denn für eine?" Er warf ihr einen irritierten Blick zu und wollte sich umdrehen, als Aya - plötzlich voller Energie - aufsprang.

"Oh, nein! Nein, nein", stammelte sie und schüttelte heftig den Kopf. Sie kam sich ungeheuer dämlich vor. "Ich bin nur... Ach, vergiß es!"

Der Junge zuckte mit den Achseln und deutete auf die Feder. "Was treibst du hier denn für merkwürdige Spielchen? Hast du nicht schon längst Schulschluß?"

Aya machte eine unbestimmte Geste. "Ich habe eigentlich... auf jemanden gewartet." Es klang nicht besonders überzeugend, obwohl es nicht einmal eine richtige Lüge war. "Und du? Du gehörst nicht einmal an diese Schule."

Der Junge grinste. "Wie aufmerksam." Er sah zu den Sportanlagen hinüber. "Ich wollte einen Freund abholen. Aber er ist wohl schon weg."

Aya nickte. Sie fragte sich, ob sie nicht etwas sagen sollte. Wegen der Träume. Aber das wäre wohl zu lächerlich. Es kostete sie ohnehin schon all ihre Kraft, diese paar Sätze mit ihm zu wechseln und dabei nicht in hysterisches Gekreische zu verfallen. Ihre zitternden Hände hielt sie hinter ihrem Rücken versteckt.

"Ich werd dann mal." Der Junge hob die rechte Hand und ging dann in Richtung Schultor davon.

Aya stand wie angewurzelt da und sah ihm nach. Er war es. Er musste es sein. Aber warum hatte er nichts gesagt? Und wenn er doch eine Schuluniform trug, weshalb hatte er dann am Morgen diese merkwürdigen Sachen angehabt. Hatte ihre Phantasie ihr einen Streich gespielt? Und was am Wichtigesten war: Wer war er?

Plötzlich hatte Aya es sehr eilig. Sie bückte sich, hob ihre Tasche auf und lief zum Schultor. Vorsichtig sah sie sich um. Da war er. Er ging ganz ruhig die Straße hinunter. Und glücklicherweise genau in die Richtung, in die sie auch musste. Nun, das war die perfekte Gelegenheit, um ihm zu folgen. Schließlich musste sie auch irgendwann einmal nach Hause.

So entfernten sie sich gemeinsam von der Schule. Zwischen ihnen lag eine Entfernung von etwa fünfzig Metern. Und diesen Abstand versuchte Aya auch einzuhalten. Sie wollte nicht unbedingt riskieren, dass sie ihm auffiel. Was sie dann aber doch tat. Und zwar kurz vor der U-Bahn-Station.

Er drehte sich um. Aya blieb erschrocken stehen. Im gleichen Moment schon wurde ihr klar, dass das falsch gewesen war. Nun wirkte es wohl tatsächlich so, als wäre sie ihm gefolgt. Einige Sekunden lang sahen die beiden sich an und es war fast wie am Morgen in der Schule. Dann kam er zu ihr herüber.

"Verfolgst du mich?"

Jetzt wurde Aya rot. Sie blickte zu Boden. "Nein", log sie. Sie wünschte sich, der Erdboden würde sich auftun und sie verschlucken.

Er sagte erst einmal gar nichts. Sah sie nur an und sie spürte seinen Blick wie tausend Nadelstiche. Als sie aufsah, rechnete sie damit, ein breites Grinsen auf seinem Gesicht zu sehen. Doch da war er wieder, der traurige Blick, der sie so gefesselt hatte. Ihre Knie wurden weich. Und sie wusste immer noch nicht, wer er war.

"Wo wohnst du denn? Wenn wir sowieso in die gleiche Richtung müssen, können wir doch auch zusammen gehen." Nun lächelte er wieder. "Ich kann dich auch nach Hause bringen. So hübsche Gesellschaft habe ich selten."

"Wa...?" Aya wollte schon Widerworte geben, doch dann nickte sie. Das war eine gute Gelegenheit, um mehr herauszufinden. "Also, wenn du meinst..."

"Mein Name ist übrigens Taro. Taro Hontani." Er verbeugte sich und sah Aya erwartungsvoll an.

"Äh... Aya." Ihre Stimme klang brüchig. "Aya Ichiyanagi." Irgendwie hatte sie angenommen, er würde ihren Namen kennen.

Gemeinsam gingen sie zur U-Bahn-Station hinüber. Aya fühlte sich komisch. Sie kannte diesen Jungen überhaupt nicht und er wollte sie schon nach Hause bringen. Was würde ihre Mutter dazu sagen? Und hatte er es überhaupt ernst gemeint? Sie warf Taro einen Seitenblick zu und bemerkte, dass er zu Boden sah. Er wirkte irgendwie bedrückt. Und noch bevor Aya es verhindern konnte, sprach sie ihn darauf an.

"Hast du irgendwas? Wenn ich dich störe, dann gehe ich. Wir müssen nicht zusammen fahren, ich meine, wir kennen uns ja auch gar nicht, und -"

"Ich will es aber." Er sah auf und ihr direkt in die Augen. Sie schluckte. "Ich möchte dich gerne begleiten. Das hast du..."

Der Rest seines Satzes ging im Lärm der ankommenden Bahn unter. Sie stiegen ein und setzten sich. Keiner von beiden sprach. Erst, als sie an der nächsten Haltestelle ausstiegen, ergriff Taro wieder das Wort.

"Habe ich dich eigentlich erschreckt?"

"Was?"

"Vorhin. Bei der Schule. Habe ich dich da erschreckt? Du hast so abwesend auf die Feder geschaut, so als würdest du an jemanden denken. Und dann, als du mich gesehen hast, da bist du ganz blaß geworden." Er sah sie nicht an, als er das sagte.

"Nun..." Was sollte sie ihm denn sagen? Daß sie an ihn gedacht hatte? Daß sie ihn kannte, aus ihren Träumen, und ihn am Morgen dort gesehen hatte? Daß sie ihn hatte wiedersehen wollen, so viele Fragen an ihn hatte und nicht wusste, was sie von der ganzen Situation halten sollte? Er würde sie für komplett wahnsinnig halten. Er würde sie auslachen oder sie einfach auf der Straße stehen lassen. Dann würde sie ihn nie wieder sehen und das Rätsel niemals lösen können. "Ich habe vielleicht... geträumt."

Nun richtete er seinen Blick auf sie. Und zwar mit solcher Intensität, dass ihr ganz schwindelig wurde. "Geträumt?"

Aya wich seinem Blick aus. Hatte er die Anspielung verstanden? Sie konnte nichts sagen, ihre Kehle war wie zugeschnürt. Schließlich zwang sie sich, ihn wieder anzusehen und sie glaubte beinahe, etwas wie Entsetzen in seinen Augen zu sehen. Er trat einen Schritt auf sie zu, hob die rechte Hand und legte sie auf Ayas Schulter. Bei der Berührung bekam sie eine Gänsehaut. Er öffnete den Mund, wollte etwas sagen, zögerte dann aber. Sein Blick fiel auf etwas hinter Aya, zum zweiten Mal an diesem Tag, und er zuckte zusammen.

"Hallo, Taro."

Aya fuhr herum, als sie die Stimme hörte. Hinter ihr stand ein junges Mädchen. Sie war in Ayas Alter und hatte lange braune Haare, die zu einem Zopf gebunden waren. Sie trug eine Schuluniform: eine weiße Bluse mit roter Krawatte, einen schwarzen Rock und schwarze Schuhe, so wie rote Strümpfe. Aya schluckte. Diese Uniform kannte sie. Wer etwas auf seine Gesundheit gab, hielt sich fern von den Schülern dieses Internats.

Das Mädchen fixierte erst Aya, dann Taro mit dunklen Augen. "Du scheinst dich ja prächtig zu amüsieren", sagte sie in einem abfälligen Ton, der Aya gar nicht gefiel. Sie spürte, dass Taro ihren Arm ergriff und sie zu sich zog.

"Was willst du, Mado?" fragte er mit einer Stimme, die so eiskalt klang, dass es Aya im Herzen weh tat.

"Was ich will?" Das Mädchen tippte sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand gegen die Schläfe. "Laß mich überlegen... Ach ja! Ich soll dir schöne Grüße von Katsumi ausrichten. Sie ist wieder bei Bewusstsein. Die Wunden werden heilen, vielleicht schneller, als dir lieb sein kann. Sie ist wirklich sehr, sehr wütend."

"Soll das eine Drohung sein?" Taro packte Ayas Arm fester und beugte sich ein wenig vor. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr und sie nickte.

"Keine Drohung, Taro. Nur ein Hinweis. Wir haben euch den Krieg erklärt, sag das deinem Ältesten." Das Mädchen drehte sich um und wollte gehen, blieb aber noch einen Moment länger stehen, als nötig gewesen wäre. "Noch etwas", sagte sie mit gesenkter Stimme. "Mit unserer Zukunft hast du nichts zu schaffen."

Aya fühlte, wie sich etwas in ihrem Inneren zu regen begann. Sie wusste nicht genau, was es war. Aber es fühlte sich warm an. Sie dachte an Taros Worte, die er ihr ins Ohr geflüstert hatte. Wenn sie kommt, lauf weg. Taro ließ ihren Arm los.

"Eure Zukunft ist mein Schicksal", entgegnete er und wieder klang seine Stimme kalt. "Ich werde sie niemals aufgeben."

"Schicksal?" Mado drehte sich wieder um. In ihren Augen flammte Zorn. "Was redest du da für einen Schwachsinn? Vergiß nicht, wer du bist! Und was du bist."

"Daran denke ich ununterbrochen. Das macht mich ja so sicher."

Mado schrie auf. Sie klang wie ein verwundetes Tier. Sie sprang auf Taro zu, der ihr gerade noch ausweichen konnte. Aya wollte laufen, so wie er es ihr gesagt hatte, aber sie konnte nicht. Dieses Mädchen machte ihr Angst, sie verstand nicht, was sie wollte und worum es eigentlich ging. Aber die Wärme in Ayas Innerem wurde stärker und stärker und drohte sie zu verbrennen. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Mado versuchte, Taro zu verletzen. Er wich ihr immer wieder aus, doch sie war schnell - schnell und sehr stark. Und plötzlich hielt sie zwei Dolche in der Hand, mit denen sie so geschickt umzugehen wusste, dass Aya ernsthaft Angst um Taros Leben bekam.

Sie schrie auf und wollte sich zwischen die beiden werfen, doch Taro schaffte es, Mado geschickt zu Boden zu werfen und sie zu entwaffnen. Er hielt sie fest und drückte sie nieder.

"Tu das nicht, Mado. Wecke keine schlafenden Hunde. Laß mich in Ruhe. Und halte dich von dem fern, was mir lieb ist."

Von irgendwoher waren Sirenen zu hören. Jemand musste die Polizei gerufen haben. Aya fiel erst jetzt auf, dass sich um sie herum eine gaffende Menge versammelt hatte. Taro sprang auf, schnappte seine Tasche und griff nach Ayas Hand. "Komm mit, wir müssen weg hier."

Sie drängelten sich durch die Menge und liefen so schnell sie konnten, davon. Erst, als sie die Sirenen nicht mehr hören konnten, hielten sie an und setzten sich auf einem Spielplatz auf eine Bank, um wieder zu Atem zu kommen. Lange Zeit konnte keiner von ihnen reden, dazu waren sie einfach zu erschöpft. So saßen sie nur nebeneinander und rangen nach Luft. Schließlich konnte Aya es nicht mehr aushalten. Sie musste einfach wissen, was da eben geschehen war und aus welchem Grund.

"Taro, was... was war das? Diese Irre wollte dich umbringen!"

"Ja." Er nickte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Das versucht sie öfter. Sie und ihre Freunde. Bisher hat sie es nicht geschafft, wie du siehst."

"Aber..." Aya machte den Mund ein paar Mal auf und zu, ohne etwas zu sagen. "Das ist doch... Das ist doch Wahnsinn! Warum denn das alles? Steht ihr irgendwie unter Drogen oder so was? Ich verstehe das alles nicht. Sie hätte dich töten können und du bleibst so ruhig!" Sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Das war vielleicht alles etwas viel gewesen an diesem Tag.

"Aya." Taro rutschte näher, aber sie wich zurück. Sie hatte nicht wirklich Angst vor ihm, aber plötzlich war da etwas Fremdes. Konnte es sein, dass er nicht normal war? "Du musst dich nicht fürchten."

"Das tue ich nicht."

"Doch." Er griff nach ihrer Hand. "Ich wünschte, das wäre nicht passiert. Aber ich kann es nun nicht mehr ändern und darum möchte ich, dass du mir etwas versprichst."

"Und was soll das sein?"

"Daß du dich von dieser Person fernhältst. Von ihr und allen Schülern ihrer Schule. Bitte. Das ist wichtig. Du weißt noch nicht, wie wichtig, und ich hoffe inständig, dass du es auch nie erfährst."

Aya schüttelte den Kopf. "Wie kann ich dir so was versprechen, wenn ich nicht mal weiß, worum es überhaut geht? Ich habe doch gar nichts zu tun mit der ganzen Sache." Sein Blick traf sie wie ein Schlag. "Das habe ich doch nicht, oder?"

"Halt dich einfach nur fern von ihnen, okay?"

"Aber, ich..."

"Vertrau mir." Er zog sie zu sich und küsste sie. Aya war entsetzt, dass er das tat, aber nur einen Augenblick lang. Dann schloß sie die Augen und wünschte sich, dieser Moment würde ewig dauern. Als er sich schließlich von ihr löste, wollte sie die Augen am liebsten gar nicht mehr öffnen. Und als sie es dann tat, war Taro nicht mehr da.
 

Als Aya nach Hause kam, fühlte sie sich, als hätte sie seit Tagen nicht mehr geschlafen. Sie hatte noch lange auf dem Spielplatz gesessen und versucht, die Dinge zu verstehen, die ihr heute widerfahren waren. Irgendwann hatte sie zu weinen begonnen. Erst, als es langsam dunkel wurde, hatte sie sich beruhigt und war schließlich aufgestanden, um nach Hause zu gehen. Ihre Mutter würde sicher noch nicht von der Arbeit zurück sein und Aya wollte noch etwas Zeit haben, um sich zu beruhigen.

Doch als Aya in ihre Straße einbog und auf das Haus zuging, in dem sie aufgewachsen war, fiel ihr auf, dass im Wohnzimmer Licht brannte. War ihre Mutter doch schon daheim? Sie sollte heute doch Spätschicht haben. War etwas passiert? Mit einem unguten Gefühl im Magen kramte Aya ihren Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Haustür.

Es war erstaunlich still. Normalerweise lief irgendwo Musik oder es waren Geräusche aus der Küche oder einem anderen Raum zu hören. Nicht so an diesem Abend. Die Stille senkte sich schwer auf Ayas Herz. Sie schloß die Tür hinter sich und zog ihre Schuhe aus.

"Mama?"

Aya stellte ihre Schuhe beiseite und hielt dann verwundert inne. Da stand das Paar ihrer Mutter und noch eins. Eines, das Aya nicht kannte. Mädchenschuhe.

"Mama?"

Aus dem Wohnzimmer hörte sie nun leise Stimmen, aber keine Antwort. Das ungute Gefühl in Ayas Magen wurde drängender. Eine leichte Übelkeit begann in ihr aufzusteigen. Sie ging auf den Flur und um die Ecke zum Wohnzimmer.

Ihre Mutter saß am Tisch, das Gesicht Aya zugewandt. Ihr gegenüber und mit dem Rücken zu Aya saß ein Mädchen mit langen braunen Haaren und einer Schuluniform mit schwarzem Rock und roten Strümpfen. Es sah aus wie...

"Aya!" Ihre Mutter lächelte und winkte ihre Tochter zu sich. "Komm her, ich möchte, dass du deine Cousine begrüßt."

Das Mädchen drehte sich um. Es lächelte und stand auf, um sich zu verbeugen. Ayas Übelkeit verstärkte sich.

"Mado", hauchte sie und hatte das Gefühl, in einen unsinnigen Traum abgeglitten zu sein, aus dem sie nicht mehr erwachen konnte. Sollte dies alles denn nie ein Ende haben? Was hatte sie bloß verbrochen?

"Ihr kennt euch schon?" Ayas Mutter sah die beiden Mädchen erstaunt an. "Na, um so besser. Aya, setz dich doch. Möchtest du einen Tee?"

Sie schüttelte den Kopf. Von ihr fernhalten sollte sie sich. Sie hatte es versprochen. Hatte es Taro versprochen. Sie war ihr nur einmal begegnet. Sie hatte versucht, Taro umzubringen. Und nun stand sie in ihrem Haus, redete mit ihrer Mutter und sollte ihre Cousine sein. Was war das für ein Spiel? Was passierte mit ihr? Ihr Kopf schmerzte. Etwas hämmerte mit voller Wucht gegen ihre Schläfen.

"Was willst du hier?"

Mados Lächeln gefror. "Ich wollte euch besuchen, Cousine."

"Cousine? Du bist nicht meine Cousine. Ich kenne dich nicht, ich habe dich erst einmal in meinem Leben gesehen und das war vor ein paar Stunden auf der Straße. Als du versucht hast, Taro zu töten." Plötzlich setzte etwas in Aya aus. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie begann zu schreien. "Warum hast du das getan? Warum wolltest du ihn töten? Warum wolltest du Taro töten?"

Mado stand wie versteinert da und sagte nichts. Sie sah sehr ernst aus und hatte die Hände zu Fäusten geballt, als wolle sie auf Aya losgehen. Soll sie nur, dachte Aya, soll sie mich nur schlagen. Meine Mutter wird sie rauswerfen und dann wird sie nie wiederkommen. Soll sie doch sehen, was sie davon hat. Doch Mado tat nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil: Sie setzte sich ruhig wieder an ihren Platz und trank ihren Tee.

Aya konnte es nicht fassen. Hier stand sie, völlig aufgelöst, wütend und verzweifelt und alles, was sie als Antwort bekam, war das? Sie schluchzte und wollte auf Mado losgehen, wollte - wenn nötig - alles aus ihr herausprügeln. Aber mitten in der Bewegung stockte sie. Sie sah das Gesicht ihrer Mutter. Und dann hörte sie ihre Worte.

"Taro ist hier?" fragte sie und in ihre Augen trat ein Ausdruck, der zwischen Entsetzen und unbändigem Zorn lag.

"Ja. Schon seit einiger Zeit." Mado nahm wieder einen Schluck von ihrem Tee. "Wir haben schon öfter versucht, ihn zu stellen, aber er ist stark. Vielleicht etwas zu stark. Beinahe hätte er Katsumi auf dem Gewissen gehabt."

"Aber sie beherrscht die Alte Macht!"

"Ja. Es hat ihr nichts gebracht. Er hat sie so übel zugerichtet, dass sie ins Koma gefallen ist. Gestern hat sie die Augen wieder geöffnet, aber es wird noch lange dauern, bis sie sich wieder erholt hat." Mado warf einen flüchtigen Blick auf Aya. "Es ist nun an der Zeit."

Ayas Mutter nickte. Und plötzlich war sie nicht mehr die Frau, die Aya an ihrem ersten Schultag fast zur Schule hatte schleifen müssen, die an ihrem Bett gesessen hatte, wenn sie krank war. Sie war nicht mehr die, die Ayas Ehrgeiz angestachelt hatte, wenn wichtige Prüfungen anstanden, die abends spät nach Hause kam und noch in das Zimmer ihrer Tochter geschlichen kam, um nachzusehen, ob alles in Ordnung sei. Von einer Sekunde auf die andere hatte sich die fürsorgliche Frau in eine völlig Fremde verwandelt. Es lag eine Kälte in ihrem Blick, die zuvor niemals da gewesen war.

"Dann muß es so sein." Sie stand auf und ging auf Aya zu. "Du wirst morgen dieses Haus verlassen. Mado wird hier bleiben und dich morgen früh mitnehmen."

"Was?" Aya blickte verwirrt zwischen ihrer Mutter und Mado hin und her. Das konnte doch alles nicht wahr sein! War das zu fassen? "Das ist doch ein Scherz?"

"Hör zu, Aya. Dein ganzes Leben bis zu diesem Augenblick ist unbedeutend. Vergiß die unwichtigen Dinge. Vergiß deine Schule, deine Freunde, dein Heim, deine Gewohnheiten. Ab morgen wirst du für deine Bestimmung leben. Und nur noch dafür. Alles andere zählt nicht mehr. Mado wird dich zur Odoroki High mitnehmen, ihrer Schule. Dort wirst du leben und tun, was zu tun ist." Ihre Mutter drehte sich um und ging zu der kleinen Kommode neben dem Fenster zum Garten.

Aya wollte etwas sagen, sie wollte schreien und weinen und diskutieren. Aber sie konnte keinen Ton herausbringen. Ihre Kehle war zugeschnürt, in ihrem Mund hatte sie einen bitteren Geschmack. Was geschah, verfolgte sie nach außen mit albtraumhafter Gleichgültigkeit, nach innen zerrissen sie Fragen und Erkenntnisse, ohnmächtige Wut und hilflose Trauer. Sie konnte gar nichts tun. Alles war ihrer Kontrolle entglitten.

"Das hier gebe ich Mado mit." Ihre Mutter nahm ein schwarzes Bündel aus der obersten Schublade der Kommode. "Sie wird es dir geben, wenn du bereit dafür bist. Alle Fragen, die du hast, werden dir beantwortet werden. Aber nicht von mir. Es gibt jemanden, der die alleinige Pflicht hat, dich über alles zu unterrichten."

Aya schluckte. Noch immer konnte sie nichts sagen. Sie starrte ihre Mutter an, die nun nicht mehr ihre Mutter zu sein schien. So schnell. Warum ging das alles bloß so schnell?

"Erfülle deine Aufgabe, Aya."

Das waren die letzten Worte, die Aya vor ihrem Abschied von ihrem alten Leben von ihrer Mutter hörte. Und ihre Augen, diese kalten Augen, begleiteten sie in die schwarze Stille, in die sie nun fiel. So erschöpft war sie, dass sie das Dunkel mit offenen Armen empfing. Geborgenheit fand sie nur noch in der Einsamkeit der Ohnmacht.
 

Die Ödnis. Irgendwann war Aya aus der Dunkelheit in das Land ihrer Träume gezogen worden. Und dort saß sie nun am Rand eines gewaltigen Felsplateaus, ließ die Beine von dem Stein baumeln, auf dem sie saß, und starrte in den leeren Himmel. Die Stille um sie herum war bedrückend, aber immer noch leichter zu ertragen, als alles, was in den letzten Stunden um sie herum geschehen war. Wie ein Häufchen Elend kam sie sich vor, machtlos gegen ihre Umwelt und nur sicher in sich selbst. Sicher in ihren Träumen, wo alles so vertraut und ewig gleich war.

Ewig gleich...

Aya runzelte die Stirn und sah in das Tal hinunter, das sich unter ihr erstreckte. Sie wusste nicht, was ihren Blick so anzog, denn dort unten gab es nichts als Geröll. Steine über Steine, an denen absolut nichts interessantes war. Und trotzdem...

Langsam stand sie von ihrem Platz auf und trat ein paar Schritte vor. Sie kam dem Rand des Plateaus, das gefährlich steil abfiel, nun beunruhigend nah, aber das kümmerte sie im Moment eher wenig. Sie wollte wissen, was es war, das ihren Blick auf sich zog. Was verbarg sich dort unten im Tal?

Noch einen Schritt nach vorn und noch einen... Immer noch war nichts zu erkennen. Aya wurde nun langsam schwindelig. Sie musste nach unten, um des Rätsels Lösung zu finden. Ihr Blick wanderte am Rand des Felsplateaus entlang. Keine Möglichkeit, um nach unten zu kommen. Also musste sie klettern. Das war gefährlich, sicher. Aber wozu war dies ein Traum?

Aya ließ sich auf die Knie hinunter und schwang ein Bein in die Leere hinter dem Abgrund. Das andere folgte nach kurzem Zögern. Sie suchte mit der rechten Hand nach Halt. Ihr linker Fuß rutschte ab. Aya schrie auf, klammerte sich mit beiden Händen verzweifelt am Fels fest. Nun wurde ihr klar, was für eine dumme Idee das alles gewesen war. Sie würde abstürzen und sterben. Wenn die Dinge aus ihren Träumen Wirklichkeit werden konnten, dann war sie selbst vielleicht auch ein bizarres Stück Realität in ihren Träumen. Und wenn dem so war, konnte diese fatale Lage sie umbringen.

Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, versuchte Aya, sich wieder nach oben zu ziehen. Es gelang ihr nicht. Sie suchte mit den Füßen nach Halt, um ihre Arme zu entlasten, aber sie fand nur Leere. Sie verrenkte sich beinahe den Hals, um unter sich vielleicht einen Felsvorsprung oder etwas ähnliches zu finden, auf dem sie stehen konnte. Doch das einzige, was sie sah, war ein Kreis aus schwarzen Monolithen unten im Tal. In der Mitte des Tals.

Für einige Sekunden vergaß Aya ihre missliche Lage und starrte den Steinkreis an. Der war zuvor nicht da gewesen. Sie war sich hundertprozentig sicher. Sieben Monolithen, in einem perfekten Kreis angeordnet... Das wäre ihr doch aufgefallen.

Ein stechender Schmerz durchfuhr ihre linke Hand. Aya blickte wieder nach oben und sah Blut von ihren Händen die Arme hinabfließen. Es musste etwas geschehen, sonst wäre sie verloren. Sie versuchte weiter, einen Halt zu finden, irgendeinen Halt, der zumindest fürs erste Sicherheit versprach. Aber nichts dergleichen fand sich. Ihre Kräfte schwanden. Und als sie schon loslassen wollte und hoffte, noch vor dem Aufprall aufzuwachen, packte jemand ihre Handgelenke und zog sie nach oben. Ihre Knie schlugen sich am Gestein blutig und auch ihre Ellbogen waren aufgeplatzt. Doch als sie über den Rand des Abgrunds gezogen wurde und wieder festen Boden unter sich spürte, waren die Schmerzen plötzlich gar nicht mehr so schlimm.

Sie holte ein paar Mal tief Luft und versuchte, die Scham über ihre eigene Dummheit und ihren Leichtsinn zu verdrängen. Und dann fiel ihr ein, dass der einzige, der außer ihr in dieser Welt existierte, Taro war. Sie unterdrückte ein Lächeln und hinter geschlossenen Lidern sah sie sein Gesicht. Wenn sie ihn wenigstens sehen konnte... Wenn sie ihn fragen konnte, was eigentlich geschah, was bloß los war mit ihr und der Welt... Vielleicht würde sie einiges besser verstehen.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Augen.
 

"Mado?"

Aya erwachte in ihrem Zimmer und das erste, was sie sah, war das Gesicht des braunhaarigen Mädchens über sich. Es hatte fast nachtschwarze Augen.

"Bist du endlich aufgewacht?" Mado nahm Aya einen kalten Lappen vom Kopf und legte die Hand auf ihre Stirn. "Zumindest scheinst du kein Fieber mehr zu haben. Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass ich dich zur Schule tragen muß."

"Schule?" Aya setzte sich auf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Sie lag in ihrem Zimmer und Mado war bei ihr. Zuvor hatte sie geträumt, einen schrecklichen Traum, den sie lieber so schnell wie möglich wieder vergessen wollte. Und davor...

Aya hatte das Gefühl, als würde sie in eiskaltes Wasser geworfen. Ihr schlaftrunkenes Hirn hatte einige Zeit gebraucht, um die Ereignisse des gestrigen Tages wieder abzurufen. Wahrscheinlich hatte es schon damit angefangen, all das Schreckliche zu verdrängen. Und nun war auf einen Schlag alles wieder da.

"Was ist?" Mado runzelte die Stirn. "Du bist so blaß. Geht es dir noch nicht wieder besser?"

"Besser?" Aya lachte höhnisch auf und schob sich rückwärts über das Bett von Mado weg. Plötzlich bekam sie Angst. Dieses Mädchen war wie ein Dämon, den sie nicht los wurde. "Mir ging es noch nie so schlecht!" Es war, als müsse sie diese Worte hervorwürgen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Schule... Diese Verrückte hatte etwas von Schule gesagt. Und Aya nahm an, dass sie damit dieses verfluchte Internat meinte, vor dem Taro sie gewarnt hatte.

Mado lächelte. Sie stand auf und ging zu einem Stuhl hinüber, der am Fenster stand. Über der Lehne hing eine Schuluniform. Die der Odoroki High. Neben dem Stuhl stand eine gepackte Reisetasche. "Glaub mir, das legt sich." Sie sprach ganz ruhig, als sie die Uniform von der Lehne nahm und sie Aya brachte. "Jedem von uns ging es am Anfang so. Du wirst bald unter deinesgleichen sein. Und du wirst dich besser fühlen als je zuvor."

"Meinesgleichen?" Aya rutschte noch ein Stück zurück. Sie musste aufpassen, denn nun hatte sie die Bettkante erreicht. "Was redest du denn da? Geh einfach weg und laß mich in Ruhe! Damit wäre ich schon mehr als zufrieden."

Mado schüttelte den Kopf. "Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Du wirst es bald verstehen."

"Ich will gar nichts verstehen, hörst du? Das... das ist doch alles völlig absurd!" Nun sprang Aya aus dem Bett. "Geh weg und komm nicht wieder! Ich will meine Ruhe haben. Und zwar ab sofort!" Sie ging mit energischen Schritten um das Bett herum und öffnete ihre Zimmertür. Mado sah ihr beinahe gleichgültig hinterher und machte auch keinerlei Anstalten, sie aufhalten zu wollen. Das verdutzte Aya, befriedigte sie aber auch gleichzeitig ungemein. Sie musste sich beherrschen, nicht laut loszulachen. Wahrscheinlich hätte Mado sie dann für völlig verrückt und unzurechnungsfähig erklärt. Und gerade das wollte Aya vermeiden. Nein, ihr klarer Verstand war jetzt alles, was sie noch hatte.

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln warf Aya die Tür hinter sich ins Schloß, zögerte und öffnete sie dann noch einmal einen Spalt. "Ich gehe jetzt ins Badezimmer. Und wenn ich zurückkomme, will ich dich hier nicht mehr sehen!" Rumms - die Tür war wieder zu und Aya rannte ins Bad, wo sie als erstes die Tür hinter sich abschloß.

"Mein Gott", hauchte sie und lehte sich gegen die kühlen Fliesen an der Wand. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie ballte sie zu Fäusten und atete ein paar Mal tief durch, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Eigentlich war ihre Situation lächerlich. Lächerlich, weil so etwas gar nicht passieren konnte! Das geschah in schlechten Filmen, in Büchern, in Träumen - überall, aber doch nicht in der Wirklichkeit! Und doch lief dieses Mädchen in ihrem Haus herum, wollte sie mitnehmen auf eine fremde Schule und hatte augenscheinlich auch schon Ayas Sachen eingepackt.

Ich glaube, ich werde wirklich verrückt. Aya stieß sich von der Wand ab und ging zum Waschbecken hinüber. Bestimmt ist das alles nur ein Traum. Einer, aus dem ich nicht wieder erwacht bin. Wie diese andere Welt, die mir auch so wirklich erscheint, wenn ich sie im Traum sehe. Eine andere Stimme meldete sich aus dem Dunkel ihres Geistes. Aber wenn du in dieser fremden Welt bist, dann weißt du immer, daß es nur ein Traum ist. Und jetzt...

Aya drehte den Kaltwasserhahn am Waschbecken auf und hielt ihre Hände in den Wasserstrahl. Die Kälte betäubte ihre Finger und ließ sie erschaudern. Entschlossen spritzte sie sich das Wasser ins Gesicht.

Ich muß aufwachen! Ich träume! Ich träume!

Das Wasser prickelte auf Ayas Haut und vertrieb die Schwere aus den Lidern. Sie keuchte, als sie die Kälte nicht mehr ertragen konnte, stellte das Wasser ab und griff nach einem Handtuch. Als sie sich abgetrocknet hatte, blickte sie in den Spiegel und stöhnte leise. Das ist kein Traum. In einem Traum würdest du niemals so schrecklich aussehen.

Die nächste halbe Stunde verbrachte Aya damit, sich zu waschen. Als sie sich anziehen wollte, fiel ihr Blick auf die Tür. Dort hing - an einem Haken - ihre Schuluniform. Und in diesem Moment beschloß sie, sich nicht unterkriegen zu lassen. Gut, es waren eine Menge Dinge geschehen und nun stand eine Verrückte in ihrem Zimmer, die sich sehr penetrant in ihr Leben einmischte. Aber das war noch lange kein Grund, sich unterkriegen zu lassen. Sie würde ihr altes Leben weiterleben und irgendwann wäre alles wieder in Ordnung. Und wenn nicht... Aya pustete sich eine Strähne ihres rotbraunen Haares aus dem Gesicht. Und wenn nicht, dann würde sie zumindest herauszufinden versuchen, was in aller Welt hier vorging!

Entschlossen nickte Aya und zog sich an.
 

Mado war natürlich nicht gegangen. Sie saß auf Ayas Bett, als diese in ihr Zimmer zurückkam, und warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Wieso hast du deine alte Schuluniform angezogen? Ich hab dir doch gesagt, daß du mit mir kommst."

Aya reagierte nicht auf ihre Worte. Sie nahm sie sehr wohl wahr und sie versetzten ihr auch einen kleinen Stich, aber nach außen hin blieb sie völlig ruhig. Sie nahm ihre Schultasche und verließ das Zimmer. Mado folgte ihr - mit der Reisetasche in der Hand. "Du hast das hier vergessen."

Wortlos verschwand Aya in der Küche, um sich ihr Essen für die Schule zu machen. Sie war schon etwas zu spät dran, um selber noch frühstücken zu können. Aber ansonsten würde es noch reichen, um nicht zu spät zum Unterricht zu kommen. Sie bereitete sich ein paar Sandwiches und vermied es tunlichst, in Mados Richtung zu sehen, die mit verschränkten Armen in der Küchentür lehnte.

"Ist das eine neue Taktik?" Sie klang beinahe gelangweilt. "Willst du mich ignorieren? Ich habe dir doch schon gesagt, daß alles nicht so schlimm ist. Es wird bald alles in Ordnung sein."

Aya beschäftigte sich ausführlich mit dem Käse. Nein, sie würde nicht reagieren. Sollte Mado reden, so lange sie wollte. Irgendwann würde sie es leid sein und gehen. Zumindest hoffte Aya das.

"Was versprichst du dir denn davon?" Mado warf genervt die Arme in die Luft, als Aya sich an ihr vorbei aus der Küche drängte. Sie lief ihr bis ins Obergeschoß hinterher, wo sich das Schlafzimmer ihrer Mutter befand. Aya blieb vor der Tür stehen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und wieder zitterten ihre Hände. Was gestern abend geschehen war, das kam nun wieder in ihr hoch. Ihre Mutter, die sie so kalt angesehen hatte, die mit so distanzierter Stimme gesprochen hatte. Sie hatte sich verstoßen gefühlt. Aber es war doch sicher nicht so gemeint gewesen. Sicher nicht. Oder?

Zitternd streckte sie die Hand nach der Klinke aus. Jeden Morgen verabschiedete Aya sich von ihrer Mutter. Es würde sicher alles sein wie immer. Bestimmt... Sie würde im Bett liegen, die ersten Sonnenstrahlen würden wie Finger aus Licht in das Zimmer reichen, der Duft nach Lavendel würde im Raum hängen wie ein zarter Schleier. Als sie die Klinke berührte, kroch ihr die Angst die Kehle hinauf. Und was, wenn nicht?

"Tu es nicht." Mado legte Aya sanft eine Hand auf die rechte Schulter. "Sie wird nicht da sein. Nichts wird mehr so sein, wie es war."

Aya, immer noch fest entschlossen, ihren Schatten zu ignorieren, drückte die Klinke hinunter. Mado verstärkte den Druck ihrer Hand. "Bitte nicht." Beinahe flehend klang ihre Stime. Aya war versucht, auf sie zu hören, schüttelte sie dann aber doch ab und öffnete die Tür.

Eine eiskalte Hand schien nach ihrem Herzen zu greifen, als Aya in das Zimmer blicket. Ihre Mutter war nicht da. Es war gar nichts mehr da. Der Raum war leergeräumt, das Fenster so schmutzig, daß kaum noch Licht hindurchfiel und von der Wand blätterten Farbe und Putz ab. Aya schlug die Tür zu und stolperte zurück. Sie wäre gefallen, hätte Mado sie nicht festgehalten. Wimmernd stand sie auf dem Flur, starrte auf die Tür, hinter der sich ihr dieses grauenhafte Bild gezeigt hatte, und verstand nicht, was das bedeuten sollte. Nichts von all dem hier verstand sie.

"Es tut mir leid." Mado strich Aya übers Haar und lächelte traurig. "Ich wünschte, ich hätte das verhindern können."

Aya starrte Mado an, als würde sie das Mädchen zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Ihr Herz schlug schwer in ihrer Brust und die Angst legte sich wie tausend Ketten um ihren Körper. Sie war nicht fähig, sich zu bewegen oder auch nur ein Wort zu sprechen. Grauenhaft war das. Zu grauenhaft, um es wahr sein zu lassen. Sie wollte es nicht akzeptieren. Konnte es nicht. Doch anscheinend...

"Komm mit mir." Mado sah Aya in die Augen. Tränen standen darin und ein Ausdruck von tiefem Entsetzen. "Hier hast du kein Heim mehr. Aber bei uns wirst du ein neues finden."

Aya sah wieder zur Tür. Hatte sie wirklich alles verloren? Alles, was einmal wichtig gewesen war - war das alles weg? Auf einmal begann sie zu weinen. Hemmungslos und wie irr. Sie ließ alles heraus, was sich seit dem gestrigen Tag in ihr angestaut hatte. All die Wut, die Verzweiflung und die Angst. Es konnte nicht alles vorbei sein, das durfte es nicht!

Mado wollte Aya in die Arme nehmen, doch die schrie auf, riß sich los und stürzte die Treppe hinunter. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal, schnappte sich im Laufen ihre Schultasche, schlüpfte in ihre Schuhe und rannte wie von Furien gehetzt auf die Straße.

Sie lief so lange, bis ihre Lunge wie Feuer brannte, ihre Beine schmerzten und schwarze Punkte vor ihren Augen zu tanzen begannen. Erst dann verlangsamte sie ihren Lauf und lehnte sich erschöpft an eine Straßenlaterne.

Nein. Nein! Die Stimme in ihrem Kopf klang verzweifelt. Das kann nicht sein. Es kann sich doch nicht einfach alles in Luft auflösen!

Sie ging weiter. Sehr viel langsamer diesmal. Ihr Kopf schmerzte.

Und was willst du jetzt tun, kleines Mädchen? Aya runzelte die Stirn. Sie wußte es nicht genau. Sie wollte irgendwo hin, wo sie sich wohl und sicher fühlen konnte. Das Bild des verlassenen Zimmers erschien vor ihrem inneren Auge. Es hatte beinahe gewirkt, als ob noch nie jemand darin gewohnt hätte. Noch nie... Aber wenn das so war, wieso hatte sie das in all den Jahren, die sie in diesem Haus lebte, nie bemerkt? Und was hatte es dann mit ihrer Mutter auf sich? Vielleicht hatte Mado ihr ja auch Drogen verabreicht? Aya schüttelte den Kopf. Es war seltsam, aber das konnte sie sich nicht vorstellen.

Irgendwann erwachte sie aus ihren wirren Gedanken und begann, ihre Umgebung wieder bewußt wahrzunehmen. Sie erschrak beinahe, als sie sah, wohin sie ihr Weg geführt hatte. Ihre Schule erhob sich vor ihr - groß und hell im Licht des frühen Morgens. Rings um Aya herum strömten Schüler dem Tor zu. Sie redeten und lachten und plötzlich fühlte Aya sich ganz klein und unwichtig. Sie trat ein paar unsichere Schritte auf das Schulgelände zu und hielt dann inne. Ein paar Meter von ihr entfernt stand Ikuko bei einigen Mädchen und unterhielt sich angeregt mit ihnen. Sie wirkte sehr fröhlich und schien den gestrigen Streit mit ihrer Freundin schon vergessen zu haben.

Aya wollte auf sie zugehen. Sie wollte es wirklich, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sie konnte es nicht. Stand nur da und starrte die fröhlichen Mädchen an.

Warum bewegst du dich nicht? Aya beobachtete, wie Ikuko laut zu lachen begann. Sie ist deine beste Freundin. Du wirst bei ihr in Sicherheit sein.

Irgendetwas in Aya bewegte sich. Emotionen, die sie sehr lange tief in sich versteckt hatte und von denen sie nicht wußte, was sie eigentlich bedeuteten.

Ikuko sah in ihre Richtung. Ayas Herz blieb beinahe stehen, als sich ihre Blicke trafen. Und plötzlich war die Barriere weg. Sie ging zu ihr hinüber und lächelte verhalten. "Iku-chan... Hallo. Ich... Kann ich mit dir reden?"

Ikuko runzelte verwirrt die Stirn. Nein, sie wirkte nicht böse, nicht wütend oder beleidigt, sondern einfach nur zutiefst irritiert. Das Gespräch der anderen verstummte. Aya hatte das Gefühl, im Auge eines Wirbelsturms zu stehen. Die Stille legte sich schwer auf ihr Herz.

"Und worüber sollten wir zu reden haben?"

Was war das nur für eine Distanz in Ikukos Stimme? Sie war wohl immer noch wütend. Aber da war mehr. In ihrem Blick, in der Art, wie sie den Mund verzog...

"Über gestern. Es tut mir leid. Bitte, können wir darüber nicht... in Ruhe reden?" Aya beobachtete die anderen Mädchen aus den Augenwinkeln. Nanami, ein schüchternes Mädchen, das mit Aya in eine Klasse ging, starrte sie mit offenem Mund an. Und auch die anderen glotzten, als wäre sie verrückt geworden.

"Und was war gestern?" Ikuko sah das Mädchen neben sich an. Das zog die Schultern hoch und schüttelte den kopf.

"Sei doch nicht so nachtragend, Iku-chan." Aya fühlte sich immer unwohler. Was war denn bloß los?

"Entschuldige, aber ich glaube, du hast da ein kleines Problem. Ich kenne dich nicht. Keine Ahnung, woher du meinen Namen weißt. Tu mir einen Gefallen und geh zurück in die Anstalt, aus der du ausgebrochen bist." Sie und die Mädchen begannen schallend zu lachen und entfernten sich Richtung Schulgebäude.

Aya hatte das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Sie sah den anderen hinterher und wußte, daß Ikuko es ernst meinte. Sie würde niemals solche Dinge sagen, nicht einmal im größten Zorn. Sie meinte es ernst. Sie kannte Aya nicht. Erschüttert und hilfos starrte sie nach oben zu den Fenstern, hinter denen ihr Klassenzimmer lag. Sie waren geschlossen und die Morgensonne spiegelte sich in ihnen. Und doch glaubte Aya, ein Dutzend neugieriger Gesichter zu sehen, die zu ihr hinunter starrten. Und plötzlich wußte sie, daß sie hier keinen Platz mehr hatte. Jedes bißchen Wut, das sie noch vor kurzem zu empfinden fähig gewesen war, verflog von eienr Sekunde auf die andere, alle Angst wurde hinfortgespült von einer Welle der Hilflosigkeit, die Aya in ihrem Leben noch nie so verspürt hatte.

Sie senkte den Kopf und vergoß die letzten Tränen, die noch übrig waren, für ihr vergangenes Leben. Dann drehte sie sich um und wunderte sich eigentlich kaum, daß Mado am Schultor stand. Sie hielt Ayas Reisetasche in der Hand. Wie ein Geist bewegte Aya sich auf sie zu, wissend, daß sie nun eigentlich der einzige Halt für sie war. Vielleicht das einzige Wesen auf dieser Welt, für das sie noch real war.

"Das hätte nicht geschehen müssen." Mado empfing Aya mit einem traurigen Lächeln. Da lag kein Hohn in ihrer Stimme, kein Tadel - nichts, außer Mitgefühl. "Es wäre vielleicht einfacher gewesen, wenn du das hier nicht erlebt hättest."

Aya verstärkte den Griff um ihre Schultasche. "Warum?" Die Frage kam leise, beinahe war sie nur ein Flüstern, das vom Wind fortgetragen wurde.

"Es ist dein Schicksal." Mado seufzte. "Unser aller Schicksal. Würdest du noch etwas von Wert auf dieser Welt besitzen, würde man dir außer bei uns noch Liebe und Freundschaft entgegenbringen, wärst du wahrscheinlich nicht bereit, zu uns zu kommen. Das wäre niemand und das ist kein Vorwurf. Jemand hat es so geregelt, daß alle vergessen. Und daß es dir auch leichter fällt, zu vergessen. Du mußt frei sein. Frei für deine Aufgabe."

"Ich habe keine Aufgabe." Ayas Kopf war so leer von jeglichen Gedanken, daß sie das Gefühl hatte, leicht wie eine Feder zu sein. "Bestimmt keine, die du meinen könntest." Sie seufzte. "Ich habe doch nicht einmal mehr ein Leben."

"Doch. Du hast alles in deinem Herzen. Aber alles, was war, ist nun unwiderbringlich verloren und du solltest nicht mehr daran hängen. Ich weiß, daß es sich unmöglich anhört. Aber..." Mado zögerte, so als würden ihr die nächsten Worte sehr schwer fallen. "Es geht, Aya. Du kannst es schaffen. Ich weiß, wovon ich rede."

"Hast du das auch erlebt?"

"Ja. Vor langer Zeit. Ich weiß, wie es ist."

Aya nickte. "Bring mich bitte weg von hier." Sie fühlte, wie Mado sie am Arm nahm und mit ihr die Straße hinunterging. Ihre Füße bewegten sich, ohne daß sie groß etwas dazu tun mußte. Es kostete sie keine Anstrengung mehr, von all dem Abschied zu nehmen, was sie bisher gekannt hatte. Ihr Herz war leer und sie warf keinen Blick mehr zurück.
 

Als die Bahn anhielt und Mado mit Aya nach draußen trat, begann es zu regnen. Mado flüchtete unter ein Vordach und winkte Aya, ihr zu folgen. Auf einer Bank stellte sie die Reisetasche ab und zog eine Jacke heraus, die sie Aya reichte. Es war die gleiche, die Mado auch trug.

"Zieh sie an. Ich möchte nicht, daß du krank wirst."

Aya wollte etwas erwidern, wollte sagen, daß sie kein kleines Kind war, nickte aber nur und zog die Jacke an. Sie paßte ihr genau. Ein merkwürdiges Kribbeln überlief ihren Rücken. In was für ein Spiel war sie da bloß hineingeraten? Plötzlich tauchte Taros Gesicht vor ihr auf. Es schien schon so lange her zu sein, daß sie ihn getroffen hatte, und doch war es erst gestern gewesen. Er hatte sie gewarnt. Ein bitteres Lächeln huschte über Ayas Gesicht. Es hätte alles anders kommen können. Wenn sie nur verstehen würde, was hier vorging...

"Ist alles in Ordnung?" Mado hatte sich die Tasche wieder über die Schulter geworfen und sah Aya besorgt an. Sie wirkte sehr erwachsen.

"Alles klar."

Seite an Seite gingen sie weiter. Keines der beiden Mädchen sprach ein Wort und das Schweigen lag wie eine schwere Last auf ihnen. Ein paar Mal setzte Mado dazu an, etwas zu sagen, doch immer wieder ließ sie es sein, nachdem sie einen Blick auf Ayas verschlossenes Gesicht geworfen hatte. So setzten sie ihren Weg fort - durch einen Stadtteil, den Aya nicht kannte.

In diesem Straßengewirr finde ich niemals mehr allein zurück, dachte Aya einmal. Im nächsten Moment fiel ihr dann ein, daß es ja gar keinen Ort gab, an den gehen konnte. Warum habe ich keine Angst?

Irgendwann blieb Mado stehen. Aya bemerkte es zu spät und ging noch einige Schritte weiter, ehe auch sie anhielt. Müde blickte sie sich um.

Sie befanden sich nun weit außerhalb des Stadtzentrums. Um sie herum gab es überall Grünanlagen und nur wenige Häuser waren in der Straße zu finden. Vögel zwitscherten in Bäumen und Büschen, auf dem Gehweg standen zwei alte Frauen und unterhielten sich leise. Wo die Straße einen scharfen Knick nach rechts machte, lag ein gewaltiges Anwesen. Es war ein riesiges Landhaus, ja, beinahe ein kleines Schloß. Im mittelalterlichen Stil - wie Burgen aus Europa - erbaut, stand es mächtig und imposant auf der Kuppe eines kleinen Hügels. Obwohl sämtliche Wände weiß waren, lag eine merkwürdige Dunkelheit über dem Haus. Wie der Schatten eines Riesen. Das Gelände um den Bau herum war wie ein Park gestaltet - ein wunderschönes Fleckchen Erde, wie Aya eingestehen mußte. Allerdings eingezäunt. Geschützt von schwarzem Stahl, der vorn an der Einfahrt ein riesiges Flügeltor bildete. Dahinter lag eine lange Auffahrt aus weißem Kies. In der Ferne sah Aya Jugendliche. Sie trugen die Schuluniformen der Odoroki High.

"Das ist...?" Aya war seltsam gefesselt von dem Anblick. Eine ihr unerklärliche Erregung begann sie zu erfassen und sie bemerkte, wie sie von einem Fuß auf den anderen trat. Es war, als würde sie etwas rufen. Etwas, das sich in diesen Mauern befand.

Mado ging an ihr vorbei auf das große Tor zu. "Ja", sagte sie und schob den rechten Flügel auf. "Das ist die Odoroki High, deine neue Schule und... dein neues Zuhause." Die letzten Worte hatte sie sehr leise gesprochen.

"Es ist wunderschön." Immer noch gebannt von dem Anblick setzte Aya sich wieder in Bewegung und folgte Mado durch das Tor. Sie schritten die Auffahrt hinauf. Leise knirschte der Kies unter ihren Schritten.

"Wie lange steht dieses Haus schon?"

Mado runzelte die Stirn. "Ich glaube, das weiß niemand so genau. Auf jeden Fall sehr lange. Es gibt Gewölbe unter der Schule, die schon sehr alt und verfallen sind. Niemand geht dort freiwillig hinein. Es soll sogar schon vorgekommen sein, daß Schüler nicht mehr aus dem Dunkel zurückgekehrt sind." Sie winkte abwertend mit der rechten Hand. "Aber das Haus über den Gängen ist bestimmt schon ein Dutzend Mal teilweise neu aufgebaut und renoviert worden. Ich glaube nicht, daß es in den oberen Gemäuern noch sehr viel Altes gibt." Ein verschwörerisches Zwinkern folgte diesen Worten. "Außer den Lehrern natürlich."

Aya sah zu den Türmen hinauf, die links und rechts vom Eingang erbaut waren. Sie wirkten wirklich nicht besonders alt.

Mado schien froh zu sein, daß das Schweigen beendet war. Sie erzählte Aya eine Menge Dinge über das Haus und seine Vergangenheit, auch über die Anlage, die das Gebäude umgab. Aya hörte ihr nicht richtig zu. Zwar quittierte sie die Erklärungen gelegentlich mit einem leichten Nicken, doch keins von Mados Worten drang wirklich in ihr Ohr. Zu sehr beschäftigte sie dieses Kribbeln in ihr, das immer stärker wurde, je näher sie der Schule kamen.

Als sie den Eingang ereichten, versiegte Mados Redefluß plötzlich. Aus der hohen Tür, die wie das Tor an der Einfahrt über zwei gewaltige Flügel verfügte, schob sich eine junge Frau. Ihr Haar hatte sie streng nach hinten gekämmt und ihre Kleidung - ein eng anliegendes graues Kleid - verstärkte den Eindruck von Strenge noch mehr. Die Arme waren vor der Brust gekreuzt. Die Mundwinkel hatte sie leicht nach unten gezogen und ihr Blick war nicht besonders freundlich.

"Mado Hiramatsu." Die Stimme der Frau war eiskalt. Sie bedachte Aya nur mit einem kurzen Seitenblick, doch der allein reichte schon aus, um ihren Nacken prickeln zu lassen. "Wirklich schön, daß du auch wieder auftauchst."

"Yoshida-sensei..." Mado wurde blaß. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. "Es tut mir leid, daß ich mich so verspätet habe."

"Das sollte es auch." Frau Yoshidas Gesicht glich einer wächsernen Maske. "Du kennst die Regeln dieser Schule. Und gerade von dir hätte ich am wenigsten erwartet, daß du sie verletzt."

Mado sah zu Boden. "Es war ganz bestimmt keine Absicht. Direktor Toki hat mich beauftragt, die neue Schülerin zu bringen. Und es war... etwas umständlich, sie hierher zu bringen."

Frau Yoshidas Blick zuckte zu Aya. Diese hatte das Gefühl, als wären die Augen dieser Frau eisige Nadeln, mit denen sie ihr Gehirn durchbohren konnte. "So." Sie nickte. "Du bist also die Neue. Ein eigenes Köpfchen hast du, was? Keine Sorge, das wird sich schnell ändern." Sie schwieg eine Weile und drehte sich dann um. "Folgt mir. Ich bringe euch zum Direktor."

Als Frau Yoshida in den Schatten der Eingangshalle verschwunden war, warf Aya einen langen Blick auf Mado. Die brauchte eine Weile, ehe sie sich wieder so weit gefaßt hatte, daß sie den Blick erwidern konnte.

"Vor ihr mußt du dich in acht nehmen", sagte sie leise. "Sie kennt keine Gnade. Wenn du die Regeln verletzt, verletzt sie dich."

Aya glaubte Mado aufs Wort.
 

Der Direktor, ein schlanker Mann in mittleren Jahren mit sorgfältig gestutztem Schnauzer, saß an seinem Schreibtisch und kratzte sich nachdenklich am Kinn, als Frau Yoshida und die beiden Mädchen eintraten. Er schien über etwas sehr Wichtigem zu brüten und die Ankömmlinge gar nicht zu bemerken. Aya sah sich aufmerksam um.

Das Zimmer, in dem das Büro lag, war nicht gerade ein Muster an Geschmack. Ein riesiger Schreibtisch stand in der Mitte des Raumes und auf ihm lag stapelweise Papier. Rechts von der Tür befand sich ein Kamin und darüber hing ein Porträt des Direktors. Der Rest des Raumes war gefüllt mit Kartons, in denen sich Ordner befanden. In der hintersten Ecke, halb vesteckt hinter einem Wandteppich, konnte Aya eine alte Holztruhe entdecken, die mit einem schweren Schloß gesichert war. Alles in allem machte der Raum einen recht freundlichen, wenn auch äußerst unordentlichen Eindruck.

Frau Yoshida räusperte sich umständlich. Als der Direktor immer noch nicht reagierte, zog sie verärgert die Brauen zusammen, sagte aber nichts weiter. Ein paar Minuten verstrichen in drückendem Schweigen, bis der Direktor endlich seufzte, den Kopf schüttelte und das Papier, über dem er gebrütet hatte, zur Seite schob.

Aya zuckte zusammen, als sein Blick sie traf. Etwas in ihr bäumte sich auf, als würde ein gewaltiges Sehnen sich regen, als würde sie auf diesen Mann zugezogen. Ihr wurde schwindlig und sie mußte sich beherrschen, sich nichts anmerken zu lassen. Für einen Moment fühlte sie sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggerissen werden. Sie spürte, wie ihr alle Farbe aus dem Gesicht zu weichen begann. Ihre Hände zitterten.

Der Direktor wandte seinen Blick den anderen beiden Besuchern zu. Aya spürte, wie sich ihr Inneres entkrampfte und sie wieder normal zu atmen begann. Die anderen schienen nichts bemerkt zu haben.

"Direktor Toki", begann Frau Yoshida mit eisiger Stimme, "ich habe diese beiden hier gerade auf dem Schulgelände angetroffen." Ihre Augen funkelten kalt. "Sie haben nicht nur den Unterricht geschwänzt, nein, sie sind auch gerade erst eingetroffen!" Als wäre diese Tatsache allein schon Grund genug für eine mittlere Katastrophe, fletschte sie leicht die Zähne. Wie ein Raubtier.

Mado hatte die Hände zu Fäusten geballt, ließ sich aber ansonsten nichts von ihrer Erregung anmerken. Sie sah den Direktor an, der zu lächeln begonnen hatte.

"Ist schon gut, Frau Yoshida." Seine Stimme war sehr sanft und freundlich, doch es lag trotzdem eine unbestimmbare Distanz darin. "Es gab einen Grund dafür."

"Trotzdem darf ein Schüler nicht den Unterricht versäumen." Frau Yoshida schien nicht hinnehmen zu wollen, daß sie im Unrecht war. Sie erinnerte Aya an eine Spinne, die ihre Beute bereits im Netz zappeln sieht.

"Wenn man auf meinen Auftrag hin handelt, schon." Direktor Toki winkte nun ungeduldig mit der rechten Hand. "Ich habe einiges mit den beiden Damen zu bereden. Vielen Dank, daß Sie sie hergebracht haben, aber nun würde ich es doch vorziehen, mit ihnen allein zu sein."

Frau Yoshida zögerte und schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich dann aber lautlos um und verließ den Raum. Die Tür ließ sie lauter als nötig hinter sich ins Schloß fallen.

"Verzeiht." Der Direktor deutete auf zwei Stühle, die links neben der Tür in einer Nische standen. Mado und Aya zogen sie an den Schreibtisch und setzten sich. "Frau Yoshida ist ein wenig unwirsch, was solche Sachen anbelangt. Sie mag es nicht, wenn man ihre Autorität untergräbt." Er lehnte sich zurück. "Aber manchmal übersieht sie einfach, daß ich hier das Sagen habe."

Aya fühlte sich unwohl. Ihr Herz schlug etwas schneller, als es eigentlich gesollt hätte. Der Direktor musterte sie interessiert. "Du hast sie also gefunden, Hiramatsu."

Mado nickte. Jetzt, wo Frau Yoshida fort war, wirkte sie vollkommen ruhig und entspannt. "Ja. Es war nicht ganz so leicht, wie ich gehofft hatte. Aber doch nicht so schwierig, wie Sie befürchtet hatten." Sie zögerte einen Moment. "Ich denke, er hat sie noch nicht beeinflussen können."

"Gut. Dann sind wir ja noch rechtzeitig gekommen. Ich bin zufrieden mit dir, Hiramatsu."

Mado nickte und sah Aya an. Auf ihrem Gesicht lag ein leichtes Lächeln, aber in ihren Augen stand Besorgnis. Aya konnte sich gut vorstellen, warum. Die beiden redeten hier über sie, als wäre sie gar nicht anwesend. Oder als wäre sie zu dumm, um zu begreifen. Vielleicht bist du das sogar. Die Stimme in ihrem Kopf sprach leise, aber eindringlich. Die Fragen, die Aya sich stellte, verwirrten und verunsicherten sie. Was hatte Mado gemeint, als sie gesagt hatte, sie wäre noch nicht beeinflußt worden? Und von wem hatte sie da geredet? Weshalb war diese Sache geplant gewesen? War sie eine Trophäe, die man in irgendeinem kranken Spiel gewonnen hatte? Verlange nach Antworten. Wer sind sie, daß sie mit dir machen können, was sie wollen? Du bist Mado bis hierher gefolgt, du bist zu ihnen gekommen. Jetzt sind sie an der Reihe. Wut. Das war es, was in ihre aufzusteigen begann. Ihre Hände schlossen sich fest um die Sitzfläche des Stuhls, auf dem sie saß.

"Was geht hier vor?" Ihre Stimme zitterte. Sie begann, die Kontrolle über sich zu verliren. Etwas, das sie doch so unbedingt hatte vermeiden wollen.

Direktor Toki sah sie an, als hätte eine Puppe, die jahrelang leblos im Regal gesessen hatte, plötzlich angefangen zu sprechen. Einen winzigen Moment lang wurde sein Blick hart, dann entspannten sich seine Züge und er lächelte.

"Das ist eine gute Frage. Und eine, die zu Recht gestellt wird." Er hob den rechten Zeigefinger, als wolle er Aya ermahnen. "Aber es gibt keine leichte Antwort darauf."

Aya zog die Brauen zusammen. Man verwehrte ihr ständig Antworten. Das, was sie am meisten begehrte, was sie brauchte, um verstehen zu können, um nicht den Verstand zu verlieren, lag außerhalb ihrer Reichweite. Noch. Sie würde sich darum kümmern. "Es ist mir egal, ob die Antwort leicht ist oder nicht. Ich möchte nur endlich einmal eine hören!" Ihre Stime war schärfer geworden, als sie beabsichtigt hatte.

Mado und der Direktor tauschten einen besorgten Blick. Nach einem kurzen, aber intensiven Schweigen seufzte der Leiter der Odoroki High schließlich tief. "Aya. So ist doch dein Name, oder?"

Ein Nicken als Antwort.

"Aya, es gibt so vieles, was ich dir erklären müßte. Und sicher ebenso vieles, das du nicht begreifen würdest. Ich meine damit nicht, daß du dumm wärst, nein, ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil. Du bist sicher sehr intelligent und nicht zuletzt darum bist du unsere Hoffnung für die Zukunft. Eine von vielen, doch sicher die wertvollste."

Aya verstand nun gar nichts mehr. Verstrickte sich denn jeder in dieser Sache immer nur in merkwürdigen Geschichten, die für sie überhaupt keinen Sinn ergaben?

"Ich werde dir sicher beizeiten einiges erklären. Aber ich denke, für heute wird es erst einmal genug sein. Außerdem gehe ich davon aus, daß sich deine Zimmergenossin und deine Klassenkameraden um dich kümmern werden. Von ihnen wirst du einiges erfahren. Dinge, die ich dir nicht besser erklären könnte."

Aya wolte den Mund aufmachen, doch der Direktor hob die rechte Hand. "Ich bin ein beschäftigter Mann. Morgen werde ich mir Zeit für dich nehmen, falls du das möchtest. Heute jedoch solltest du erst einmal deine Fragen zurückstellen und dich in deinem neuen Zuhause umsehen. Es wird dir sicher gefallen."

Mit diesen Worten beugte sich Direktor Toki wieder über seinen Schreibtisch und schien nicht gewillt zu sein, seinem Besuch noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Aya fühlte sich plötzlich sehr schwach. Als Mado aufstand und den Stuhl an seinen Platz zurückstellte, tat Aya es ihr gleich und ging mit müden Schritten zur Tür. In was war sie da bloß hineingeraten?

"Ach ja." Direktor Toki sah nicht auf, als Aya gerade hinausgehen wollte, richtete seine Worte aber dennoch an sie. "Da wäre noch etwas. Willkommen an der Odoroki High! Du wirst bald merken, dass diese Schule anders ist als andere. Doch keine Sorge, man gewöhnt sich recht schnell daran."

Aya schloß die Tür und sah den langen Gang hinunter, der tiefer ins Gebäude führte. Er wirkte alt und irgendwie... falsch.

Mado warf Aya einen traurigen Blick zu, faßte sie dann am Arm und zog sie hinter sich her, die verschiedenen Gänge und Treppen des Gebäudes hinauf.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Ho-chan
2004-06-23T12:03:34+00:00 23.06.2004 14:03
Warum hab ich das hier nie kommentiert? o.O
Dabei gefällt mir die Story bisher so gut, wirklich ich möchte auch mal so gut schreiben können wie du.. *lächel*
Von: abgemeldet
2002-07-22T08:49:48+00:00 22.07.2002 10:49
Yo, ich schließe mich der Deed an: der Anfang ist so was von Klasse!!! Muß aber gestehen, daß ich bis jetzt nur die 1 Seite gelesen habe, ich komme nämlich gerade aus dem Bett, meine Brille liegr wer weiß wo und irgendwie wollen meine Augen sich noch nicht so ganz an das grelle Licht des PC's gewöhnen. ^ ^;
Werde aber auf jeden Fall so schnell wie möglich weiterlesen!
Und wenn du mal Lust hast, schau mal bei meiner Fanfic vorbei.
Gruß, Annica
Von: abgemeldet
2002-04-22T19:32:00+00:00 22.04.2002 21:32
Also meine Süße,

ich fühle mich äußerst geehrt, für diese Glanzleistung den ersten Kommentar abgeben zu dürfen! Die anderen sind doch alle blöde, wenn sie das gelesen haben und es nicht mal für nötig halten, so einen guten Anfang zu honorieren! Ich finde, er ist echt klasse geworden! Ich habe Dir das zwar schon im Brief geschrieben, aber ich habe eine richtige Gänsehaut beim Lesen bekommen und habe mich das eine oder andere Mal dabei ertappt, wie ich mich leicht nervös umgesehen habe. Wer weiß, wer plötzlich so vor einem steht :-) Also mein Yumimon, weiter so, ich zähl auf Dich!

Deine Deedo


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