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The Fall of Ideals

von

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The Fall of Amity

Jesse schob seine Sonnenbrille in sein inzwischen schulterlanges, schwarzes Haar zurück, nahm seine Tasche aus seinem alten, aber zuverlässigen Gleiter, und machte sich auf den Weg in die Ankunftshalle des Dakota-Raumflughafens. Er trug enge, dunkle Jeans und ein tailliertes Hemd wie die meisten modebewussten Männer im Neuen Grenzland.

Endlich würde sich sein Wunsch nach Rache erfüllen.
 

Er bahnte sich seinen Weg durch die Menschenmassen und war froh, wenn er das hektische Treiben auf dem intergalaktischen Raumflughafen hinter sich lassen konnte. Obwohl er schon vor fast einem Jahr von der Phantomzone in die menschliche Dimension geflohen war, hatte er sich noch nicht wieder komplett eingewöhnt und vieles war ihm nach wie vor fremd.

Als er ein Bistro passierte, bemerkte er einmal mehr, wie sehr er den Duft von frisch gebrühtem Kaffee vermisst hatte. Es war ein Geruch, den er fest mit dieser Dimension und den Menschen verband; fast fühlte es sich so an, als käme er nach Hause, aber nur fast. Ein Zuhause gab es für ihn schon lange nicht mehr. Es gab nur die Rache, die ihn antrieb, und das Ziel lag klar vor ihm.
 

In den ersten Monaten seiner Rückkehr hatte Jesse sich in zwielichtigen Gegenden außerhalb jeglicher Gesetzbarkeit aufgehalten, wo er inmitten der vielen undurchsichtigen Gestalten nicht auffiel. Dort war es am einfachsten, wieder in dieser Dimension Fuß zu fassen. Schon damals, nach seiner Kündigung beim Kavallerie-Oberkommando, war es ihm gelungen, in diesem Moloch unterzutauchen und seinen Verfolgern zu entkommen. Damals war er in dieser Stadt an die Outrider geraten, jetzt sollte sie sein Portal zurück ins Neue Grenzland sein.

Jesse nahm alle möglichen frag- und unwürdigen Jobs an, um sich die zum Überleben notwendigen Finanzen zu verschaffen. Er lebte äußerst sparsam, denn er wollte nicht ewig in diesem Drecksloch sein Dasein fristen, das sich kaum von den Gegebenheiten zuletzt in der Phantomzone unterschied.

Irgendwann war er an einen Typen geraten, mit dem er eine kurze Zeit zusammen arbeitete, bis dieser vor seinen Augen erschossen wurde. Jesse überlegte nicht lange und nahm dessen Identität an, die seine Fahrkarte heraus aus dieser Hölle war.

In seinem neuen Job als Privatdetektiv besaß er sogar ein eigenes Haus in einem Vorort von Yuma City - wenn auch nur angemietet - und baute sein Geschäft aus. Doch hier, in der Metropole des Neuen Grenzlandes, wurde er immer wieder an das Kavallerie-Oberkommando und die Star Sheriffs erinnert und irgendwann blitzte ein kleiner Funke nach Rache in Jesse auf, der sich schnell zu einem Flächenbrand entwickelte und seine ganzen Gedanken einnahm. Anfangs wehrte er sich dagegen, denn er wollte die Vergangenheit endlich hinter sich lassen und ein normales Leben führen. Egal wie sehr er sich bemühte, es gelang ihm nicht, die Flammen zu löschen. Sie zerrten ständig an ihm und fraßen ihn von innen heraus auf. Überreizt gab er schließlich seinem nervenzerstörenden Drang nach und arbeitete wochenlang Tag und Nacht an einem Plan und den Vorbereitungen, den er ab heute endlich in die Tat umsetzte.
 

Auf einem der vielen Flachbildschirme am Flughafen lief gerade die Vorschau für den in drei Tagen stattfindenden Dakota Grand Prix, dem ersten Ziel seiner Reise.

Ein leichtes Lächeln der Vorfreude stahl sich auf seine Miene und seine Schritte wurden ausladender, als er auf die Leihwagenshops am Ende des langen, gläsernen Gangs zusteuerte. Er wählte zielstrebig Yuma Car Rent aus und mietete einen kleinen Jeep, der für seine Zwecke völlig ausreichte.

Eine Stunde später parkte er vor einem Hotel und begab sich zur Rezeption, um einzuchecken. Es war keine Fünf-Sterne-Unterkunft, sondern ein schlichteres, etwas außerhalb der Innenstadt gelegenes Hotel. Jesse musste Vorsicht walten lassen: Zwar hatte ihn bisher niemand erkannt, trotzdem fühlte er sich immer beobachtet, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte.

„Jason Barista“, sagte er zu dem jungen Mann hinter dem Tresen, „ich habe ein Zimmer gebucht.“

„Herzlich willkommen in unserem Hause, Mr. Barista“, begrüßte dieser ihn höflich und legte ihm ein Notepad vor. „Dürfte ich Sie bitten, Ihre Daten zu überprüfen und zu unterschreiben?“

„Natürlich.“

Wenige Momente darauf hielt er eine Schlüsselkarte in den Händen und ging auf sein Zimmer im dritten Stock. Der Raum war klein und zweckmäßig eingerichtet, aber bot alles, was Jesse brauchte.

Er stellte seine Tasche auf der niedrigen Kommode ab und betrachtete sich im Spiegel, der darüber hing. Seine blauen Augen waren genauso kalt und unnachgiebig wie damals. Sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen wies ein paar verblasste Narben auf und einige, sich ankündigende Falten.

„Er wird dich trotzdem erkennen, Jesse!“, sagte er zu seinem Spiegelbild und wandte sich ab. Es war nicht mehr nötig, unkenntlich zu sein. Soweit er herausgefunden hatte, war er für tot erklärt worden, die Akte „Jesse Blue“ schon bald nach dem letzten Gefecht geschlossen worden, und er war aus dem Gedächtnis der meisten Menschen verschwunden. Daher drohte ihm nicht sonderlich viel Gefahr hier in der menschlichen Dimension, allerdings hatte er nicht vor, deshalb leichtsinnig zu werden.

Vier würden ihn allerdings niemals vergessen, dessen war er sich sicher.

Wegen ihnen war er hier.
 

Jesse griff nach der Karte und machte sich auf den Weg, seinen alten Widersacher Fireball zu treffen. Er wusste, wo er zu finden war.
 

Etwas später stand Jesse in einer großen Halle und betrachtete den in Jeans und weißes Hemd gekleideten Shinji „Fireball“ Hikari, der gerade ein Interview gab.

‚Er hat sich kaum verändert’, stellte er fest. ‚Aber auch an ihm haben die Jahre ihre Spuren hinterlassen.’ Nach mehr als dreizehn Jahren fühlte es sich seltsam an, seinen ehemaligen Feind nur ein paar Meter live und in Farbe von sich entfernt stehen zu sehen und seine Stimme zu hören; sein Blick wurde regelrecht magnetisch angezogen. Wellen des Hasses stiegen in ihm auf und Jesse ballte die Hand in seiner Hosentasche zur Faust.

‚Einmal habe ich dich gefangen und du hast nicht mal mit der Wimper gezuckt, als ich dich erschießen lassen wollte. Zugegeben, das hat mich wirklich beeindruckt. Diesmal wirst du nicht so leicht davonkommen, das verspreche ich dir!' Jesse wandte sich abrupt ab, als ihm schwindelig wurde. Er brauchte dringend einen Moment Abstand. Mit so einer heftigen Reaktion seinerseits auf das tatsächliche Wiedersehen mit seinem Feind hatte er nicht gerechnet, und er durfte auf keinen Fall die Kontrolle verlieren. Wenn das geschah, wäre sein Vorhaben schon gescheitert, ehe es überhaupt richtig angefangen hatte. In ein paar Schritten Entfernung lehnte er sich sich bemüht teilnahmslos gegen eine Säule, um das Reportergedränge aus sicherer Entfernung zu betrachten und sich zu beruhigen. Er musste Fireball, der inzwischen einen eigenen Formel 1-Rennstall besaß, wie Jesse schon bald nach seiner Rückkehr nach Yuma aus den Nachrichten erfahren hatte, abfangen und ihn persönlich sprechen, und dazu brauchte er unbedingt einen kühlen Kopf.

Etliche Male hatte er hin- und herüberlegt, wie er den Kontakt herstellen sollte. Er hätte ihn anrufen können oder eine E-Mail schreiben, aber das war nicht sicher genug. E-Mails konnten gelöscht und Briefe weggeworfen werden. Und via Hypercom – diese Möglichkeit schied von vornherein aus. Fireball hätte ein solches Gespräch wahrscheinlich einfach als schlechten Scherz abgetan.

Ein persönliches Treffen war der einzige Weg, der die Chance bot, seinen Plan umzusetzen. Jesse war bereit, alles auf diese eine Karte zu setzen, um danach endlich seinen Frieden zu finden.

Plötzlich brach ein Tumult in der Reportermasse aus.

„HEY! ICH HAB WAS GEFRAGT!“, brüllte einer der Reporter.

„WARTEN SIE! WIR SIND NOCH NICHT FERTIG!

„SIE FEIGLING!“

Jesse sah Fireball wutentbrannt davon stapfen, dicht gefolgt von den aufgebrachten Journalisten.

‚Verdammt! Er darf mir nicht entkommen!’ Jesse nahm sofort die Verfolgung auf. Niemand beachtete ihn, da sich der Großteil der Aufmerksamkeit auf die Presseleute fokussierte.

Er eilte durch einen Nebenausgang hinaus und sah Fireballs Schopf mit der gleichen Frisur, die er vermutlich schon seit seiner Geburt trug, in einem Taxi verschwinden. Seine Haare standen schlimmer ab als zu Beginn des Interviews.

'Mist!' Jesse rannte zu seinem Jeep und verfolgte es, während die Medienbluthunde fluchend und ratlos hinter dem Taxi herstarrten. Zum Glück war er schon immer ein hartnäckiger Jäger gewesen, der sich nicht so leicht abschütteln ließ.

Die Fahrt führte quer durch Dakota City hinein ins Stadtzentrum und endete vor dem Sheraton Hotel. Während Fireball zahlte und anschließend im Eingang verschwand, parkte Jesse schnell und folgte ihm. Nach wie vor war Fireball eine Berühmtheit im Formel 1 – Zirkus, aber hier in diesem Edelhotel schienen sich auf den ersten Blick keine Reporter aufzuhalten.

Jesses Herzschlag beschleunigte sich und er biss die Zähne zusammen. Würde alles wie geplant verlaufen? Wie würde er reagieren, wenn sie sich gegenüber standen? Unzählige Male hatte er sich diese Situation ausgemalt und keine der durchspielten Varianten ähnelte dem Szenario, in dem er sich jetzt befand.

Kaum betrat er das Hotel, sah er Fireball vor dem Fahrstuhl stehen, dessen Türen sich gerade öffneten.

'Jetzt oder nie!' Jesse passte den Moment so ab, dass er gerade so durch den Spalt schlüpfen konnte. Fireball drehte sich von dem Lärm erschrocken um und wurde augenblicklich aschfahl im Gesicht, als er sich dem schlimmsten Geist aus seiner Vergangenheit gegenüber fand.

„Jesse!“, zischte er feindselig und seine Hand schnellte an seine Hüfte, um den Blaster zu greifen, den er schon lange nicht mehr trug.

„Hallo Fireball“, begrüßte Jesse ihn wie einen alten Freund, darum bemüht, den üblichen Spott aus seiner Stimme herauszuhalten und sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgeregt er selbst war.

Fireballs Hand zuckte zum Notrufknopf, aber Jesse war schneller und hielt Fireball am Handgelenk fest.

„Du willst mich doch wohl nicht vom Hotelpersonal rauswerfen lassen?“, amüsierte er sich und fand dadurch zu seiner Selbstsicherheit zurück. „Früher hättest du das höchstpersönlich erledigt!“

„Kannst du gerne haben!“ Fireball, dem seine vorige Aktion scheinbar etwas peinlich war, ballte seine Hand zur Faust und zielte auf Jesses Wange, die er mit voller Wucht traf. Jesse fing sich an der verspiegelten Wand ab und stieß sich sofort wieder ab. Fireball hatte schon sein Handy gezückt und war im Begriff, eine Taste zu drücken, als Jesse erneut das Handgelenk zu fassen bekam und den Arm auf den Rücken verdrehte. Mit der freien Hand nahm er das Telefon und drängte Fireball gegen die Wand, um ihm die Bewegungsfreiheit zu nehmen und weitere Angriffe zu unterbinden.

„Hör zu, Fireball. Können wir das für einen Augenblick mal sein lassen? Ich muss dringend mit dir reden!“

„Du willst reden?“, giftete Fireball Jesses Spiegelbild an. „Irgendwie kann ich nicht glauben!“

Jesse seufzte ergeben und lockerte vorsichtig seinen Griff. Sofort riss Fireball sich los und fuhr wütend zu ihm herum.

„Was soll das, verdammt?“, zischte er.

„Wirklich, Fireball, es ist so wie ich sage. Ich bin unbewaffnet und brauche ein paar Minuten deiner Zeit.“ Er hielt beide Hände nach oben, so dass Fireball sich davon überzeugen konnte.

„Sind dir die Gesprächspartner ausgegangen, dass du auf ein Kaffeekränzchen vorbei schaust oder was?“ Fireball zog seine Augenbrauen skeptisch zusammen und durchbohrte ihn mit seinen Blicken.

„Wenn du es so ausdrücken willst, von mir aus. Es gibt einfach nicht sonderlich viele, denen ich mich anvertrauen kann.“

„Anvertrauen?“, wiederholte Fireball ungläubig und beobachtete Jesse, als der Fahrstuhl seine Fahrt verlangsamte und eine Entscheidung forderte. Die Tür glitt nach dem sanften Anhalten auf und für einen Moment bewegte sich keiner der beiden, fixierte aber den jeweils anderen.

„Dafür bin ich wohl der Falsche“, entschied Fireball stur und wollte den Lift verlassen, doch Jesse blockierte ihm mit seinem ausgestreckten Arm den Weg. Wollte Fireball wirklich einfach so gehen und ihn ignorieren? Das war keine normale Reaktion, die er von einem Star Sheriffs erwartet hätte.

„Du bist genau der Richtige dafür. Es gibt niemanden sonst. Fireball, ich bitte dich nur um fünf Minuten“, wiederholte er eindringlich ohne Fireball anzusehen. Jesse bat nie, und Fireball wusste das ebenfalls.

Mit zusammengekniffenen Augen sah er Jesse an, als könne er ihn durchschauen. „Ich hab Besseres zu tun als dir, einem Verräter, zuzuhören! Nenne mir einen Grund, was ich davon hätte, hm? Einen verdammt guten Grund!“

„Hier geht es um Größeres und Wichtigeres als um ein Kaffeekränzchen, bei dem wir über unsere Vergangenheit plaudern. Was hast du schon zu verlieren?“, war Jesses Gegenfrage, wobei er den dunklen Blick so ruhig wie möglich erwiderte. Die verletzenden Worte prallten einfach an ihm ab.

„Danke, kein Interesse. Die Vergangenheit ist für mich abgeschlossen. Und jetzt lass mich vorbei!“ Fireball schob den Arm weg, aber Jesse stellte sich ihm wieder in den Weg.

„Ich muss darauf bestehen. Es geht um die Sicherheit des Neuen Grenzlandes.“

„Damit hab ich nichts mehr zu tun. Die Star Sheriffs sind dafür verantwortlich, solltest du das vergessen haben. Geh zu ihnen, wenn du ein Problem hast.“

„Das kann ich nicht, und besonders nicht in diesem Fall.“ Jesse sah sich um. „Können wir die Details vielleicht woanders besprechen?“

„Bist du taub, oder was? Ich sagte, dass ich nichts damit zu tun habe!“

„Und ich sage, dass du das hast! Du wirst es verstehen, wenn du mich erklären lässt. Höre mir wenigstens zu. Nichts weiter will ich von dir. Was ist schon dabei?“

Jesse sah Fireball unnachgiebig an, was diesen zögern und überlegen ließ.

„Mal angenommen, ich gehe darauf ein … Woher weiß ich, dass das keine Falle ist oder du mir irgendwelche Märchen auftischst?“ Fireball sprach die Frage aus, mit der Jesse ebenfalls gerechnet hatte.

„Woher weiß ich, dass du nicht sofort das Oberkommando rufst, um mich zu verhaften?“, entgegnete Jesse und hielt kurz das Handy hoch. Er beugte sich ein wenig nach vorne. „Fünf Minuten“, wiederholte er eindringlich. „Ohne Star Sheriffs, Outrider, Kopfgeldjäger und unbewaffnet. Und keine Märchen.“

Fireball antwortete nicht sofort und forschte intensiv nach verräterischen Anzeichen in Jesses Miene. Endlich hatte er seine Prüfung beendet und nahm sein Handy aus Jesses Hand, was er diesmal widerstandslos zuließ.

„Ich habe kapiert, dass du nicht lockerlässt, bis wir unser Gespräch haben, ob freiwillig oder nicht. Da ich aber keine Lust darauf habe, gekidnappt zu werden-“

„Ich würde nie...“

„Still, Jesse!“, unterbrach Fireball ihn mit einer forschen Handbewegung. „Ich werde dir zuhören. Aber nicht jetzt, ich habe gerade anderes zu tun. Sei um 21 Uhr im Finnegan’s, dann reden wir! Keine Outrider, Star Sheriffs oder sonst wer. Nur wir beide. Für fünf Minuten!“ Er schob Jesse beiseite und verließ den Lift, ohne sich noch einmal umzudrehen.
 

Kaum war die Fahrstuhltür geschlossen, merkte Jesse, dass ihm die Knie weich wurden und er ärgerte sich darüber. Es war ein Zeichen von Schwäche, und er, Jesse Blue, würde nie wieder schwach sein! Die Erinnerungen an die grausamen Jahre nach dem Krieg, als er schwach geewesen war, hatte er tief in seiner Seele vergraben.

Hastig betätigte den Knopf, fuhr hinunter in die Lobby und verließ das Hotel mit großen, festen Schritten.
 

Fireball erging es nicht anders. Die Begegnung mit dem tot geglaubten Jesse Blue hatte ihn zutiefst erschüttert. Er hatte wahrlich schon genug andere Sorgen und jetzt tauchte dieser Verräter auf, von dem jeder dachte, er sei zusammen mit seinen Outrider-Freunden auf ewig verschwunden!

‚Verdammt! Warum hab ich mich überhaupt auf ihn eingelassen!’, verfluchte er sich selbst und holte sein Handy hervor. Er ging seine Kontakte durch, fand Saber und legte seinen vor Aufregung zitternden Finger auf die Anruftaste, drückte sie aber nicht. ‚Was soll ich nur tun? Ich hab eigentlich schon genug andere Probleme mit dem Rennstall … aber verdammt, was will Jesse ausgerechnet von mir? Der sollte doch tot sein … und ist es nicht. Verdammt! Das kann nichts Gutes bedeuten, da bin ich mir sicher! Andererseits … er war schon irgendwie komisch, völlig untypisch für ihn. Was könnte er nur wollen - ausgerechnet von mir? Ich soll genau der Richtige sein. Der Richtige für was?’

Fireball legte sein Handy beiseite und ging zur Minibar, wo er sich einen Whisky einschenkte, den er in einem Zug hinunterkippte. Den zweiten trank er langsamer und stellte sich an die bodentiefen Fenster, um die Aussicht über Dakota City zu genießen. Weit in der Ferne hinter der flirrenden Hitze befand sich die Rennstrecke, die jetzt sein Leben war und gleichzeitig seine größten Probleme beinhaltete.

Gedankenverloren zündete er sich eine Zigarette an, die er aus seiner Hemdtasche gezogen hatte, versank in Erinnerungen an alte Zeiten und sann über sein aktuelles Leben nach.

‚Es scheint ihm wirklich wichtig zu sein, mit mir zu sprechen. Was sorgt er sich auf einmal um die Sicherheit des Neuen Grenzlandes? Sowas von ihm zu hören klingt sehr dubios und absurd! Ob er was plant? Neugierig macht mich das schon und vielleicht bringt micht das Treffen mal auf andere Gedanken, anstelle des ganzen Mists, mit dem ich mich hier beschäftigen muss? Eigentlich hat er recht und es ist wohl wirklich nichts dabei, wenn ich mir einfach mal anhöre, was er zu sagen hat. Wir haben sogar einen Waffenstillstand. Falls ich merke, dass er ein falsches Spiel treibt, wüsste ich wahrscheinlich sogar, was er vorhat und kann ihm Saber und die Star Sheriffs auf den Hals hetzen, damit die sich um das Problem kümmern. Oder … selbst wenn er mich entführen wollte, ist es mir eigentlich auch egal, dann würden sich meine Probleme in Luft auflösen.'

Fireball nahm einen weiteren Zug und lächelte leise vor sich hin. 'Kein schlechter Gedanke.'
 


 

Das Finnegan’s befand sich mitten im Vergnügungsviertel von Dakota City. Jesse hatte Glück und fand einen Parkplatz in einer Seitenstraße in der Nähe des Pubs, so dass seine Fluchtmöglichkeiten nicht sonderlich eingeschränkt waren, sollten sie notwendig werden. Unzählige Menschen waren auf den Straßen unterwegs, um in Diskos, Restaurants, Kneipen oder eine der vielen Spielhöllen zu gehen. Jesse fühlte sich in diesen Massen nicht sonderlich wohl und er studierte die Passanten. Waren hier vielleicht schon Star Sheriffs undercover unterwegs? Oder Kopfgeldjäger?

Auch die Hausdächer checkte er soweit ihm möglich war, und prägte sich die Straßen ein. Ein seltsames Gefühl des Ausgeliefertseins überkam ihn, und bevor die Paranoia Überhand nehmen konnte, trat Jesse in die irische Kneipe.

Laute folkloristische Musik schlug ihm entgegen. Hier drin war es noch voller als draußen auf der Straße.

Es war bereits kurz nach neun, also sollte der Rennfahrer schon hier sein. Die Gäste schienen sich ebenso wenig um seine Anwesenheit zu kümmern wie die Leute auf der Straße wie Jesse erleichtert feststellte. Dennoch blieb er wachsam, während er nach seiner Verabredung suchte. Er drängte sich weiter in den Laden hinein und erspähte den ehemaligen Star Sheriff an einem Tisch in der hinteren Ecke, ein halb ausgetrunkenes Bier vor sich und seine Hand grüßend gehoben. Nur daran erkannte Jesse die Person als Fireball, der seine Haare unter einer Baseballkappe versteckte und ein weites, grasgrünes Kapuzensweatshirt trug. Seine Augen lagen im Dunklen. Erst jetzt dämmerte es Jesse, warum er so verkleidet war und er grinste schief.

Fireball hob sein Glas und deutete erst darauf, dann auf die Theke, womit er ihn daran erinnerte, dass in einem irischen Pub nach alter Tradition immer noch Selbstbedienung war. Das hatte Jesse nach so langer Zeit einfach vergessen.
 

Nicht viel später setzte sich Jesse mit zwei frisch gezapfen Bieren zu Fireball an den Tisch und schob ihm eins davon zu. Ein Zeichen, dass er es ernst mit dem Waffenstillstand meinte.

Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätten sich direkt am Ausgang platziert, aber er stellte fest, dass er sogar von hier aus alles gut sehen hatte. Außerdem gab es ein Hintertürchen, aber Fireball schien sich an ihre Abmachung gehalten zu haben und keine Vorkehrungen zu seiner Festnahme getroffen zu haben. Das beruhigte ihn etwas.

„Auf alte Zeiten!“ Jesse hob das Glas und Fireball stieß seins lässig dagegen.

„Also, was willst du mir anvertrauen?“, kam Fireball sofort ohne Umschweife zum Thema, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. „Sorry, aber dass ausgerechnet du von sowas sprichst, halte ich für einen schlechten Scherz.“ Er taxierte ihn genau, während er ein Zigarettenpäckchen hervorholte und sich eine davon anzündete.

„Du rauchst?“

„Offensichtlich. Willst du mir jetzt einen Vortrag darüber halten wie gesundheitsschädlich das ist? Denk dran – deine Zeit läuft“, erwiderte Fireball kühl und deutete auf eine imaginäre Armbanduhr.

„Keineswegs, ich bin doch nicht dein Kindermädchen“, schmunzelte Jesse und hob abwehrend eine Hand. Dass Fireball noch nicht lange rauchte, bemerkte er an den nicht sehr routinierten Bewegungen, wie er das Feuerzeug nahm und den Rauch einatmete. Er sah sehr abgespannt aus und Jesse kannte seit seinen Recherchen den Grund dafür. Ebenfalls wusste er, dass Fireball aufgrund eines Rennunfalls nicht mehr selbst fahren konnte und daher ein eigenes Team gegründet hatte. Das hatte es einfach gemacht ihn zu finden. Darüber hinaus rechnete Jesse sich bei ihm die besten Chancen aus, dass er ihm zuhören würde. Colt dagegen hätte ihn mit Sicherheit und ohne mit der Wimper zu zucken sofort ins Jenseits befördert. Und Saber schied aufgrund der Umstände von vorneherein aus, genauso wie April, die Saber immer schon zu nahe stand und die ohnehin nicht Teil seiner Pläne war. Diverse Möglichkeiten hatte er durchgespielt und jetzt hing alles davon ab, wie gut die Zahnräder seines Plans ineinander griffen.

„Ich will nur, dass du mir zuhörst“, sagte Jesse und senkte seine Stimme auf ein vertrauliches Level, um unerwünschte Mithörer auszuschließen. „Lassen wir die alten Zeiten mal beiseite. Inzwischen bin ich wieder hier im Neuen Grenzland gelandet, im Untergrund natürlich, wie du dir bestimmt denken kannst.“

„Wo auch sonst?“, nickte Fireball, unterbrach aber nicht weiter.

„Ich bin jetzt ein Detektiv und mit den Aufträgen, die ich kriege, halte ich mich einigermaßen über Wasser und verfolge damit meine wahre Absicht. Ich beobachte die Tätigkeiten der Outrider und der Star Sheriffs, um es nicht noch einmal zu einem Krieg kommen zu lassen.“

„Warum solltest du das tun? Bist du etwa unter die Weltverbesserer gegangen?“ Fireball hob zynisch eine Augenbraue.

„Wenn du es so nennen willst, von mir aus. Ich weiß, dass du mir nicht einfach so glauben wirst und dass es schwierig wird, dich zu überzeugen.“

„Quasi unmöglich, aber versuche es ruhig“, lächelte Fireball spöttisch abwartend.

„Als ihr Nemesis besiegt habt, war ich nicht mehr gerne gesehen in der Phantomzone. Und-“

„Ein tragisches Schicksal, mir kommen die Tränen.“

Jesse überging die Provokation, indem er innerlich auf Durchzug schaltete und fuhr in seiner Geschichte fort, die er Fireball auftischen wollte: „-sie machten mich für die Niederlage und das folgende Elend verantwortlich. Ich war schwer verletzt und habe … überlegt. Jedenfalls wollte ich nicht mehr bei den Outridern bleiben. Sie hatten immense Verluste erlitten, an denen sie bis heute zu nagen haben. Natürlich brauchten sie einen Verantwortlichen, und dafür sollte ich herhalten. Sie wollten mir ans Leder, also musste ich untertauchen, und das geht nun mal nach wie vor am besten hier im Neuen Grenzland.“

„Soweit so gut, Jesse, das ist ja alles sehr rührend. Deine fünf Minuten sind gleich um, also komm besser zum Punkt. Was willst du von mir?“ Fireball nahm einen letzten tiefen Zug aus seiner Kippe und drückte sie dann im Aschenbecher aus.

„Ganz einfach: ich brauche deine Hilfe. Ich bin auf etwas gestoßen und es sieht verdammt danach aus, dass das Neue Grenzland dabei ist, einen neuen Krieg anzuzetteln - mit Saber Rider als Anführer.“

„WAS?“ Fireball sprang aufgebracht hoch, packte Jesse am Kragen und drohte ihm mit der Faust. „Das würde Saber niemals tun! Bist du nur hergekommen, um mich zu verarschen?“

„Nein. Dazu ist die Lage zu ernst“, erwiderte Jesse mit zusammengebissenen Zähnen und festem Blick. Langsam, aber bestimmt zog er Fireballs Hand weg und rutschte von seinem Stuhl auf die Eckbank zu Fireball heran, wobei er ihn dazu drängte, sich wieder zu setzen. Die Musik war zwar laut genug, aber eine handgreifliche Auseinandersetzung würde einige Aufmerksamkeit auf sie ziehen, worauf Jesse keinen Wert legte.

„Hör endlich auf, von dem großen, ehrenhaften Helden Saber Rider zu träumen! Diese Zeiten sind vorbei!“

„Niemals!“, widersprach Fireball heftig und seine Augen blitzten wütend, aber er ließ das Hemd los und senkte seine Stimme. „Er ist der Präsident des Neuen Grenzlandes! Sein Ziel ist es, das Neue Grenzland zu schützen und nicht, neue Gebiete zu erobern! Und die Outrider sind von uns geschlagen worden. Sie waren jetzt schon dreizehn Jahre lang ruhig, sie werden sicher nicht noch einmal angreifen!“

Angesichts dieser Naivität musste Jesse unwillkürlich lächeln. „Du solltest es eigentlich besser wissen, Fireball. Die Outrider sind sogar schon einmal nach fünfzehn Jahren wiedergekehrt und haben den Menschen das Leben schwergemacht. Warum sollte Saber kein Interesse daran haben, das Neue Grenzland dimensionsübergreifend zu vergrößern? Imperialismus war schon immer ein gutes Geschäft.“

„Weil Saber sowas nicht machen würde! Es ist nicht sein Stil!“

„Würdest du dafür deine Hand ins Feuer legen? Saber hat sich mit den Jahren verändert, so wie du, so wie ich!“

„Sag du mir einen Grund, warum er das tun sollte!“

„Ich kenne seine Gründe nicht. Aber ich habe genug Beweise, die sehr dafür sprechen.“ Jesse griff in seine Hosentasche und legte einen kleinen USB-Stick auf den Tisch, den er zu dem ehemaligen Star Sheriff schob.

„Was soll das sein?“

„Sieh dir diese Unterlagen an und denke mal nicht daran, wer ich bin oder war. Du kannst die Daten alle von den öffentlichen Sendern, Zeitungen und im Internet abrufen und überprüfen. Ich habe die jeweiligen Quellen angegeben.“ Jesse erkannte den inneren Zwiespalt, der in Fireball tobte und entschied, dass es Zeit war, zu gehen. Der Köder war ausgelegt, Fireball musste ihn nur schlucken; das war der kritische Teil seines Plans.

„Ich melde mich morgen Nachmittag bei dir. So lange betrachte ich unseren Waffenstillstand als verlängert.“ Unschlüssig, ob er wirklich gehen sollte, da Fireball keinerlei Reaktion zeigte, sondern nur mit verkniffener Miene den Stick betrachtete, nahm Jesse einen weiteren Schluck seines Bieres. Schließlich erhob er sich, es war alles gesagt, was gesagt werden musste und außerdem waren die fünf Minuten vorbei.

„Gib mir bis Sonntag. Sonntag nach dem Rennen“, erwiderte Fireball und nahm die Daten an sich.

„Gut. Dann also bis Sonntag.“
 


 

Während Fireball sich um seinen Grand Prix kümmern musste und hoffentlich die Daten auf dem USB-Stick lesen würde, blieb Jesse nichts anderes übrig, als die Zeit bis Sonntag abzusitzen. Zwei Tage boten genug Gelegenheit, in denen er sich allerlei neue Szenarien ausmalen konnte.

‚Was wird Fireball mit dem Stick machen? Wird er ihn lesen? Überprüfen? Ihn gleich wegwerfen? Oder die Star Sheriffs alarmieren?’ Selbst als er sich an die hoteleigene Bar setzte, um die lauten Gedanken zum Schweigen zu bringen, verfolgten sie ihn auch hier und die Nacht wurde ebenfalls nicht besser. Immer wieder schreckte er hoch, weil er dachte, jemand käme, um ihn zu verhaften. Darunter mischten sich die Alpträume, die ihn lange nach dem Krieg begleitet und erst mit der Zeit nachgelassen hatten. Aber Jesse hatte dem ehemaligen Star Sheriff weder seinen Decknamen noch seinen genauen Aufenthaltsort verraten, was eine gewisse Sicherheit versprach. Er musste sich selbst eingestehen, dass er langsam paranoid wurde und die Umsetzung seines Plans schon jetzt stärker als gedacht an seinen Nerven zerrte. Oder war er einfach mehr aus der Übung als er je für möglich gehalten hatte? Überschätzte er sich selbst?
 

Nach einer wenig erholsamen Nacht und einer halbwegs erfrischenden Dusche am Morgen konnte er seine Pläne nicht weiter vorantreiben. Schon früher hatte er Warten gehasst und das hatte sich auch nach all den Jahren nicht geändert. Seine Gedanken hielten nicht still und daher beschloss Jesse, sich ein wenig die Beine zu vertreten.

Als er aus dem Hotel trat, setzte er seine Sonnenbrille auf und lief ohne Ziel drauflos. Er kam an einem Kiosk vorbei, der einige Zeitungsständer vor seinen Laden gestellt hatte. Ein Titelbild mit der dazugehörigen Schlagzeile stach ihm direkt ins Auge, da sie Fireball betraf. Neugierig trat er näher und nahm die VIPs Inside heraus, ein typisches Klatschmagazin, das die großen und kleinen Probleme der Stars in der Öffentlichkeit breittrat.

‚Na sieh mal einer an!’, dachte er amüsiert, zahlte und steckte das zusammengerollte Heft in seine Gesäßtasche. Nicht viel weiter fand er einen geeigneten Platz, um die Zeitschrift in Ruhe zu lesen: ein Café, das dazu einlud, an einem der verschnörkelten weißen Tische und Stühle unter freiem Himmel Platz zu nehmen und die Sonne zu genießen. Aufgrund des Rennens waren die Wettersatelliten bis morgen noch auf Sonnenschein programmiert, da so mehr Besucher an die Rennstrecke gelockt wurden.

Kurzentschlossen setzte er sich an einen freien Tisch. Irgendwo gemütlich einen Kaffee zu trinken gehörte nicht zu der Art von Vergnügen, das er sich sonst gönnte. Vergnügen lenkten vom Ziel ab, machten nachlässig und unkonzentriert. Da er zum Nichtstun verdammt war, machte Jesse heute eine große Ausnahme.

Die meisten Getränke, die auf der Karte standen, sagten ihm nichts, denn sie trugen irgendwelche Fantasienamen und ließen nicht erkennen, was sich dahinter verbarg.

„Was darf ich dir bringen, Süßer?“, flirtete die hübsche Kellnerin mit der flippigen Kurzhaarfrisur, die vielleicht eine Studentin war und sich nebenher etwas verdiente. Zu einer anderen Zeit wäre Jesse auf ihre Avancen eingegangen, aber jetzt wollte er die Zeitschrift lesen, die ihn brennend interessierte.

„Einfach einen Kaffee. Schwarz, bitte.“

„Schlechter Tag, hm?“, stellte sie Augen zwinkernd fest, legte ihren Kopf schief und tippte die Bestellung in ihr Pad ein.

„So ist es“, antwortete er schlicht, blieb aber kurz an ihrem Namensschild hängen, auf dem in verschnörkelter Schrift „Shari“ zu lesen war.

„Es ist viel zu schön, um schlecht gelaunt zu sein“, meinte sie grinsend und eilte federnd hinein, um das Gewünschte zu holen.

Jesse schaute ihr kurz irritiert nach und griff nach seiner Zeitschrift, um das Titelbild ausführlicher zu betrachten: ‚Alles über den Hikari-Rosenkrieg – Das Ende zwischen Caroline und Shinji’, prangte passend in roter Schrift über der Seite. Dazu gab es eine schlecht arrangierte Collage von Fireball und seiner Frau, zusammengestellt aus unterschiedlichen Fotos, auf denen sie mit zur Story passenden Mienen abgebildet waren - Fireball brüllend und zornig gestikulierend, seine Frau traurig mit ihren beiden Töchter im Arm. Damit war klar, wer der Böse war.

Jesse wusste zwar, dass Fireball verheiratet war, mit einer hübschen Frau namens Caroline, und dass er zwei Töchter hatte; neu für ihn war, dass seine Ehe kurz vor dem Aus war. Das hatte keine der Sportzeitschriften erwähnt, die er für seine Pläne zu Rate gezogen hatte. Er verspürte einen Anflug von Ärger, dass ein einfaches Klatschmagazin so viele wichtige Informationen - wenn auch sehr einseitig und übertrieben - enthielt, die er dringend benötigt hätte! Mit diesem Wissen hätte er sein Vorhaben ganz anders planen können. Wieso war er nicht auf diese Idee gekommen?

Jesse wischte seinen Unmut beiseite und betrachtete Caroline eingehender. Sie war außergewöhnlich schön, mit hellbraunen, modern geschnittenen Haaren und dunklen Augen. Die beiden Töchter waren vier und sieben Jahre alt, wie Jesse wusste, und auf dem Bild schmiegten sie sich mit traurigen Gesichtern an ihre Mutter. Ihre Namen hatte er allerdings vergessen.

„Der Hikari ist ein Arsch!“, stellte die Kellnerin fest, die Jesse gerade die Bestellung brachte und dabei einen Blick auf das Heft geworfen hatte. „Lässt einfach seine Frau alles machen und kümmert sich kein bisschen um seine beiden Mädchen! Hauptsache sein Formel 1–Team bleibt im Rennen, wobei die von Anfang an nur Versager waren und noch nicht mal einen einzigen Grand Prix gewonnen haben!“ Schwungvoll stellte sie die Tasse ab und verschüttete dabei die Hälfte.

„Glaubst du etwa alles, was diese Zeitungen schreiben?“

Shari sah ihn eine Sekunde verwirrt an und setzte ein zuckersüßes Lächeln auf. „Nein, aber es macht Spaß über andere zu lästern, gerade wenn sie auf dem Titelblatt sind. Solltest du auch mal versuchen, Schnuckiputz!“ Mit einem Zwinkern ließ sie ihn wieder allein, denn ein anderer Gast verlangte nach ihrer Aufmerksamkeit. Jesse schüttelte innerlich den Kopf und musste unwillkürlich grinsen, als er sich wieder den Seiten widmete.

‚Wenn mein Plan geglückt ist, komme ich wieder hierher‘, nahm er sich vor, schlug endlich die Seite über den Rosenkrieg auf und begann zu lesen. Lange brauchte er nicht, doch der Artikel beinhaltete neue Informationen, die weitere Recherche und ein Umdisponieren seines Vorhabens verlangten. Die Zeitschrift umriss in groben Zügen Carolines und Fireballs Kennenlernphase bis zur Hochzeit und der Geburt der ersten Tochter, Fiona, und schilderte anschließend ausführlicher den weiteren Verlauf der Beziehung. Caroline war früher einmal Model gewesen und schließlich als Boxenluder auf den Rennstrecken gelandet, wo sich die beiden zum ersten Mal trafen. Zu der Zeit war Fireball selbst noch Rennen gefahren bis er einen schlimmen Unfall gehabt hatte, bei dem er sich komplizierte Brüche und Verbrennungen an den Beinen zugezogen hatte. Die Unfallursache konnte bis heute nicht nachgewiesen werden und blieb im Verborgenen. Das Magazin lobte Caroline in den Himmel, weil sie sich während seiner Genesung rührend um ihn gekümmert hatte. Fireball und Caroline verliebten sich, heirateten und bekamen Fiona. Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter, Alyssa, kehrte Fireball mit neuer Hoffnung in den Rennzirkus zurück, aber nicht als Fahrer, sondern mit einem eigenen Team, in das viele Sportler und Sponsoren ihre Hoffnungen legten. Aber das Hikari-Team war nicht mit Glück gesegnet und versagte immer wieder. Mal war es der Motor, mal ein generell zu langsames Auto, mal die Fahrer selbst, die ihre Leistungen nicht erbrachten. Die Pechsträhne riss einfach nicht ab und deshalb stand Fireball heute kurz vor der Pleite. Seine Frau warf ihm vor, ihr Geld aus dem Fenster zu werfen und sich nicht um die Familie zu kümmern. Vor ein paar Wochen hatte sie die Scheidung eingereicht. Selbstverständlich schlug die Zeitschrift in die gleiche Kerbe und stellte Fireball als undankbaren Egoisten dar.

‚Interessant…’
 


 

Als das Rennen am Sonntag bei schönstem Sommerwetter auf Hochtouren lief, fuhr Jesse zum Sheraton Hotel, um dort auf Fireball zu warten. Er selbst hatte schon ausgecheckt, denn später würde er diesen Planeten sowieso verlassen. Dann würde sich zeigen, ob der Köder erfolgreich war oder ob er auf Plan B ausweichen musste.

In der hoteleigenen Bar ließ sich Jesse am Tresen nieder. Da ganz Dakota vom Formel 1-Fieber befallen war, wurde das Rennen auch hier auf einem Flachbildschirm übertragen. Die Lautstärke war nicht aufdringlich, so dass Unterhaltungen möglich waren. Die Bar wurde vornehmlich von Reicheren und Businessleuten eingenommen, weshalb Jesse für heute ein etwas edleres Outfit ausgewählt hatte, bestehend aus einer dunklen, teuren Jeans, einem weißen Hemd und schwarzem Sakko. Seine Haare hatte er zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. So konnte er sich unauffällig unter die anderen Gäste mischen und fiel nicht weiter auf. Er ließ sich einen Kaffee bringen und wartete auf das Ende des Rennens, das nicht mehr lange dauern konnte.

„Wo ist denn das Hikari-Team?“, erkundigte er sich beim Barkeeper, als er Fireballs Namen nirgends in den eingeblendeten Zeiten entdecken konnte.

„Der ist raus“, kommentierte einer der Männer an den Tischen hinter Jesse, der dessen Frage gehört hatte. Jesse drehte sich auf seinem Barhocker um und sah auf den älteren Mann herab, dem gegenüber ein etwa gleichaltriger saß.

„Wie das denn?“

„Ehrlich gesagt wundert mich das nicht. Wie hätte er denn gewinnen sollen? Seine Motoren sind Schrott und seine Fahrer woanders besser aufgehoben, wenn Sie mich fragen!“, fachsimpelte der Erste. „Ich ärgere mich nur um mein damals investiertes Geld, dabei hatte ich mir anfangs so viel von seinem Team versprochen.“

„Seine Motoren sind ausgefallen, der eine in Runde zwölf, der andere vor ungefähr zehn Minuten“, fügte der andere hinzu. „Heute hatte er von den Sponsoren seine letzte Chance bekommen; die hat er wohl vergeigt.“

„Hikari war außer sich vor Wut. Ich möchte nicht wissen, welche Worte in der Box gefallen sind“, kicherte der Erste.

„Besonders nett werden sie wohl nicht gewesen sein“, grinste Jesse. „Naja, was soll‘s. Ich hatte Geld auf Hikari gewettet, jetzt habe ich wohl verloren.“ Jesse zuckte mit den Schultern und wandte sich ab, denn er wollte keine tiefgründigen Sport- und Investitionsthemen diskutieren. Wenigstens würde er nicht mehr lange auf Fireball warten müssen, jetzt, wo das Team ausgefallen war.

Er angelte sich eine der herumliegenden Tageszeitungen, die Dakota Post, um die Zeit bis dahin zu überbrücken. Dabei behielt er den Eingang aus den Augenwinkeln unter Beobachtung, um den ehemaligen Star Sheriff nicht zu verpassen.
 

Zwei Stunden und drei Tassen Kaffee später, als Jesse gerade einen Artikel über Saber Rider las, der als Präsident des Neuen Grenzlandes mit Sitz in Yuma ein neues Studienzentrum der Star Sheriffs auf dem eisigen Planeten Horist eröffnete, trat Fireball in die Lobby; sein Gesicht sprach Bände.

Eilig legte Jesse einen Geldschein auf den Tresen. Er wartete nicht auf das Wechselgeld, sondern ging gleich zu dem Ankömmling, der vor dem Fahrstuhl stand.

„Hast du dir die Daten angesehen?“

Fireball musterte ihn mit einem langen, müden Blick. Sein zerknittertes Hemd und Jackett spiegelten komplett den Zustand wider, in dem er sich befand.

„Ja, hab ich“, antwortete er und atmete tief durch, wobei er sich durch sein Haar strich. „Gib mir noch ’ne Stunde und warte einfach hier.“ Auch in seiner Stimme war die Erschöpfung zu hören. „Keine Angst, ich hole schon nicht die 7. Kavallerie“, fügte er hinzu, bevor er in den Lift stieg, und Jesse stehen ließ. Dem blieb nichts anderes übrig, als sich wieder an die Bar zu setzen und zu warten.
 

Oben angekommen war Fireballs erster Griff der zur Zigarette und zur wieder aufgefüllten Whiskyflasche. Wieder starrte er aus dem bodentiefen Fenster in die Ferne wie schon zwei Tage zuvor.

‚Jetzt ist es endgültig, ich hab alles verloren - meine Frau, meine Kinder und jetzt auch noch mein Team. Und dabei habe ich alles getan, um uns ein schönes Leben zu ermöglichen. Übrig bleibt ein Haufen voller Schrott.’ Er nahm einen tiefen Zug und atmete den Rauch langsam durch die Nase wieder aus, als sein Blick zu Jesses USB-Stick glitt, der auf dem Tisch lag. Gestern Abend hatte er sich die darauf befindlichen Daten bis spät in die Nacht angeschaut und selbst im Netz recherchiert, anstatt eine Strategie für das heutige Rennen auszuarbeiten.

‚Selbst wenn ich mich um die Strategie gekümmert hätte, hätte es am Ausgang des heutigen Rennens nichts geändert, wenn wir mal ehrlich sind!’, dachte er bei sich. ‚Erst recht hätte es mir weder Caroline oder meine Kinder wiedergebracht! Was soll ich also noch hier?’ Fireball stellte das leere Glas auf den Tisch und nahm den kleinen Speicher in seine Hand.

‚Dass Saber zu so etwas in der Lage sein soll … oder ist es doch nur eine Finte von Jesse? Andererseits sind die Daten nachprüfbar, wenn man sucht und in die Details geht … Soll ich ihm wirklich vertrauen?’ Er legte den Stick wieder beiseite, schenkte Whisky nach und schaltete den Fernseher ein. Gerade lief ein Interview mit Caroline, die über sein heutiges Versagen herzog und in neuerliches Gejammer über sein Verhalten ihr und ihren Kindern gegenüber ausbrach. Hastig wechselte Fireball den Sender und bemerkte wie sich ihm alles zuschnürte.

Was sie der Presse erzählte entsprach in keinerlei Hinsicht der Wahrheit, doch hatte sie die Reporter mit ihrem hübschen Äußeren und ihrem schauspielerischen Talent, auf das er selbst auch hereingefallen war, so beeinflusst, dass sie ihr an ihren sinnlichen Lippen hingen und ihr einfach alles glaubten. Klatsch war immer gut fürs Geschäft, die Leute wollten Dramen hören und sie war sich nicht zu schade, sich dafür herzugeben. Als ihre Trennung noch frisch war, hatte er dies beobachtet und nicht weiter kommentiert, aber ihre Lügengeschichten wurden immer dreister, und sein Nervenkostüm immer dünner, je feindlicher sich die Medien ihm gegenüber verhielten.

Nicht einmal mit anwaltlicher Hilfe konnte er gegen ihr Auftreten ankommen und ihm taten seine beiden Mädchen leid, die Caroline ihm vorenthielt und gegen ihn verwendete. Er hielt es für besser, sich vor der Presse nicht zu ihrer Beziehung zu äußern, was diese nicht davon abhielt, ihm falsche Worte und Verdächtigungen in den Mund zu legen. Der Flut der Verleumdungen gegen ihn konnte er nicht mehr Herr werden. Machtlos stand er dem gegenüber wie sein Ruf in den Schmutz gezogen wurde. Der jüngste Champion aller Zeiten und einstiger Held des Neuen Grenzlandes am Ende seiner glanzvollen Karriere. Ein Versager. Ein Lügner. Ein elender Egoist – alles Schlagzeilen, die auf diversen Magazinen prangten. Wenn die Titel schon solche Lügen verbreiteten, was stand dann erst in den Artikeln selbst?

Fireball wurde übel und schwindelig, wie schon etliche Male zuvor seit ihr Rosenkrieg öffentlich eskalierte. Sorgen, Streit und Schlafmangel bescherten ihm seit Monaten ein Stresslevel, der ihn immer tiefer in eine Dauergereiztheit zog. Nach der heutigen Niederlage fühlte sich Fireball ausgebrannt, leer und elend. Vorhin hatte er obendrein herausgefunden, dass Caroline einen neuen Lover am Start hatte - ausgerechnet Nicolas Alvarado, den Spitzenfahrer des Führungsteams. Dieser Typ gab ihr genug Prestige, Ruhm, Aufmerksamkeit und Sicherheit, was er ihr seit seinem Unfall vor ein paar Jahren nicht mehr in dem ihr vorschwebenden Umfang hatte bieten können. Auch das hatte sie ihm vor ein paar Wochen einmal ins Gesicht geschrien; nur vor der Presse vermied sie solche Aussagen tunlichst!

Seine Hand zitterte stark, als er ein weiteres Glas mit Whisky füllte und er seinen Zorn zu ertränken versuchte.

Die Scheidung lief auf die Zielgerade zu und „Dank“ Caroline konnte jeder Einwohner der Vereinten Planeten daran teilhaben. Kaum stellte sie eine neue Forderung, erschien am nächsten Tag ein riesiger Bericht in sämtlichen Klatschblättern und in den meistbesuchten Onlineseiten, wofür sie bestimmt ein hübsches Sümmchen kassierte. Sie wollte ihn fertig machen und er hatte keine Kraft mehr, dagegen zu halten. Die Kinder waren ihr das beste Druckmittel, das sie schamlos einsetzte, denn sie wusste genau wie viel ihm Fiona und Alyssa bedeuteten. Leider spielte Caroline die Mädchen gegen ihn aus und deshalb wollten sie ihn weder sehen noch mit ihm telefonieren. Wie hatte er sich nur so in ihr täuschen können?

Wieder glitt sein Blick zu dem kleinen Teil auf dem Tisch.

‚Vielleicht sind Jesses Daten echt, vielleicht ist es nur einer seiner hinterhältigen Pläne. Es will einfach nicht in meinen Kopf, dass Saber einen Krieg plant. Das ist total absurd!‘ Fireball trat an den Tisch, nahm den Stick abermals in die Hand und drehte ihn nachdenklich hin und her.

‚Andererseits scheint was dran zu sein … oder zumindest ist irgendwas oberfaul. Es könnte eine gute Idee sein, mich an Jesse zu hängen, ihm auf die Finger zu schauen und so vielleicht herauszufinden, was er vor hat. Außerdem hab ich gerade eh nichts Besseres vor und es ist bestimmt eine gute Abwechslung, mal wieder was anderes zu sehen und zu tun. Zu verlieren habe ich schließlich nichts, ist ja nichts mehr übrig von meinem Leben.‘ Fireball stieß ein verächtliches Schnauben aus und legte den Datenträger wieder beiseite. ‚Könnte fast ein bisschen witzig sein. Schon einmal wurde ich von der Rennstrecke geholt, um für das Wohl des Neuen Grenzlands zu kämpfen. Man sagt ja, dass sich Geschichten wiederholen; ob das bei mir auch zutrifft?‘

Ein weiteres Mal schenkte er sein Glas voll und trat wieder ans Fenster, um zur Rennstrecke in der Ferne zu schauen. Neuer Zorn wallte in ihm hoch und er wollte nichts sehnlicher, als sein zerstörtes Leben hinter sich zu lassen.

„Komm schon, früher hast du dir nie irgendwelche Action entgehen lassen! Auf ins Vergnügen!“, prostete er seinem schwachen Spiegelbild im Fenster zu und trank den Whisky in einem Zug.

Jetzt, wo er sich entschieden hatte, wollte er keine Zeit mehr verlieren.

Nach einer Dusche zog er eine dunkle Cargohose und ein Sweatshirt an und packte seine Sachen. Den USB-Stick steckte er in die Hosentasche und ging nach unten in die Bar.

„Lass uns von diesem elenden Planeten abhauen und woanders quatschen“, forderte er Jesse auf.

„Du kommst mit?“, fragte Jesse überrascht, fast schon entsetzt, nach.

„Was anderes macht wohl keinen Sinn, oder hast du ein Problem damit?“

„Äh … nein, natürlich nicht“, wiegelte Jesse ab und überlegte fieberhaft. Das sah sein Plan eigentlich nicht vor, aber Fireball, schien fest entschlossen. Würde er einen Rückzieher machen, wenn er ihm das auszureden versuchte? Höchstwahrscheinlich. Er könnte misstrauisch werden; nicht, dass er das jetzt schon nicht wäre, aber so hätte Jesse eine gewisse Kontrolle über ihn und sein Plan wäre nicht gefährdet. Jesse musste einsehen, dass ihm zumindest für den Moment nichts anderes übrig blieb als Fireball mitzunehmen, was ihm ziemliche Bauchschmerzen bereitete.

„Was ist?“, hakte Fireball stirnrunzelnd nach.

„Ich gehe davon aus, dass sich unser Waffenstillstand auf unbestimmte Zeit verlängert“, versuchte Jesse so unbekümmert wie möglich zu reden, ohne dass Fireball spürte, wie unangenehm ihm seine Begleitung war.

„Klarokowski. Ich werde dich schon nicht in eine Falle locken und ich habe niemandem von deiner Rückkehr erzählt, keine 7. Kavallerie gerufen und auch keine Kopfgeldjäger oder sonst wen. Mach dir also nicht ins Hemd deswegen.“

„Es ist wohl kein Geheimnis, dass ich genauso skeptisch dir gegenüber bin wie du mir. Deswegen wirst du mir die Frage gestatten, woher dein Sinneswandel kommt?“

„Ich habe meine Gründe und die möchte ich lieber für mich behalten. So gut kennen wir uns jetzt auch wieder nicht, dass ich dir alles erzähle. Wir werden uns schon irgendwie ein bisschen gegenseitig vertrauen müssen, wenn wir zusammenarbeiten wollen. Ich für meinen Teil werde mich bemühen. Meinst du, du kannst das auch?“

„Natürlich“, log Jesse schnell, der wusste, dass er ein Problem damit haben würde, schließlich hatte er jahrelang niemandem mehr außer sich selbst vertraut, aber das konnte er Fireball schlecht auf die Nase binden. „Lass uns gehen. Mein Auto steht draußen.“ Er legte einen Schein auf den Tresen, dann verließ er das Hotel gemeinsam mit dem ehemaligen Star Sheriff. Fireball setzte sich auf die Beifahrerseite, nachdem er sein Gepäck in den Kofferraum gestellt hatte.

„Wie geht’s jetzt weiter?“

Eine gute Frage. Wie um alles in der Welt sollte er einen neuen Stützpunkt aus dem Ärmel zaubern, er war doch kein Zauberer! Er biss sich auf die Zähne und musste sich regelrecht dazu zwingen, die Antwort zu geben.

„Am besten fliegen wir zu meinem Haus, besprechen die Fakten und dann denken wir über das weitere Vorgehen nach.“ Jesse wurde fast schlecht, bei der Vorstellung, den ehemaligen Star Sheriff bei sich zu Hause zu haben.

„Du hast ein Haus? Woher denn?“

„Ich bin eben nicht so der WG-Typ“, versuchte er locker zu wirken. „Ich habe es von einem Bekannten übernommen. Es ist in einem Vorort von Yuma City.“

„Ausgerechnet auf Yuma! Ein Wunder, dass dich noch keiner geschnappt hat, obwohl du dich öffentlich zeigst.“

„Ich habe gehört, dass ich tot bin, schätze, das ist die beste Tarnung, die es gibt, oder?“ Jesse rang sich ein schiefes Grinsen ab.

„Da hast du wohl recht“, gab Fireball ebenfalls grinsend zu. „Seit wann bist du überhaupt zurück im Grenzland?“

„Schon ein paar Jahre“, log Jesse. „Ehrlich gesagt wäre es lieber gewesen, alleine zu arbeiten. Allerdings sind diese Tatsachen, auf die ich gestoßen bin, mehr als beunruhigend. Je mehr ich nachforsche, umso mehr kommt ans Tageslicht. Ich brauche jemanden, der das alles mit analysieren kann und einen weiteren Zeugen, der hoffentlich auf dasselbe Ergebnis kommt. Deshalb habe ich dich kontaktiert.“

„Du hättest ebenso Colt oder April ansprechen können. Oder einen anonymen Hinweis an den Geheimdienst senden. Oder an eine renommierte Zeitung. Es gibt hunderte Möglichkeiten.“

„Was glaubst du, wie ernst anonyme Hinweise genommen werden? Gerade in so einer prekären Angelegenheit? Selbst wenn, würden sie direkt an den Geheimdienst gemeldet werden, der direkt Saber untersteht. Es wäre ziemlich sinnlos, diesen Weg einzuschlagen, dazu ist die Situation zu gefährlich. Hätte ich eine offizielleren Weg eingeschlagen, hätte ich meinen Namen nennen müssen und wäre mit Sicherheit überprüft und beschattet worden. Selbst mit meiner neuen Identität wäre ich schneller vorm Kriegsgericht gelandet als du bis drei zählen kannst, und Saber könnte so weitermachen wie bisher.

Was Colt angeht. Ich habe darüber nachgedacht und auch nach ihm gesucht, konnte aber seinen Aufenthaltsort nicht ausfindig machen. Ein Treffen mit ihm wäre aussichtslos gewesen, zumal ich nicht glaube, dass er mir überhaupt zugehört, sondern mich gleich über den Haufen geschossen hätte. Und April … sie will ich nicht mit in diese Angelegenheit hineinziehen. Du warst nicht nur am einfachsten zu finden, sondern du bist auch der Einzige, bei dem überhaupt die kleinste Chance bestand, dass er zuhören und sich die Daten ansehen würde.“

„Verstehe…“ Fireball nickte. „Wahrscheinlich wäre ich auch auf diese Überlegungen gekommen. Ich kann trotzdem nicht glauben, dass Saber einen neuen Krieg planen soll.“

„Ich finde es auch seltsam, aber du musst zugeben, dass seine geheimen Aktionen nur diesen einen Schluss zulassen. Ich werde dir alles zeigen, was ich bisher herausgefunden habe und bin schon sehr gespannt, deine Meinung dazu zu hören.“
 

Sie kamen am Raumhafen an und kaum eine halbe Stunde später startete Jesse seinen Gleiter in Richtung Yuma. Jesse bemerkte, dass Fireball gedankenversunken aus dem Fenster sah und er nicht mehr der Optimist zu sein schien, der er früher war. Die privaten Gründe, wegen denen er mit ihm kam und die er ihm nicht verraten hatte, waren genau die, die in sämtlichen Klatschzeitungen breitgetreten wurden. Jesses Überlegungen waren goldrichtig gewesen. Sein Plan lief ganz gut an und schien unter einem guten Stern zu stehen.
 


 

Am nächsten Morgen landete Jesse den Gleiter vor seinem Bungalow. Sie waren in Fortuna Hills, einem weitläufigen Vorort von Yuma City angekommen.

„Jason Barista, Detektiv“, las Fireball auf dem Namensschild neben der Haustür, als Jesse den Code eingab, um die Tür zu öffnen. „Wie bist du denn auf den Namen gekommen? Ich hätte wetten können, dass du dich jetzt Jesse Black nennst, passend zu deiner neuen Haarfarbe.“

„Sehr witzig, Fireball, wirklich. Bist du etwa unter die Clowns gegangen? Wenn man eine neue ID braucht, fragt man nicht lange, sondern nimmt, was man kriegen kann“, antwortete Jesse kurz angebunden, stellte seine Reisetasche im Flur ab und schaltete das Licht ein.

„Schon gut, reg dich ab. Hab ganz vergessen, dass man in der Phantomzone keine Späße versteht.“

Fireball bekam einen ersten Eindruck von Jesses jetzigem Leben. Die Einrichtung war spartanisch, aber durchaus geschmackvoll. Ein paar Bilder hingen an der Wand, Fotos von berühmten modernen Hochhäusern, die eine architektonische Meisterleistung waren. Interessierte sich Jesse wirklich für so etwas?

‚Schon komisch, bei ihm zu Hause zu sein’, dachte er, als er Jesse ins Wohnzimmer folgte, das zum Arbeitszimmer umfunktioniert worden war. Ein moderner, weißer Schreibtisch mit einem schwarzen Ledersessel dahinter und zwei Stühlen davor nahm die Mitte des Raumes ein, der mit hellem Laminat ausgelegt war. Ein passender weißer Aktenschrank stand in einer Ecke, daneben war ein großes Whiteboard angebracht, auf dem alte Notizen und ein paar Fahndungsfotos angepinnt waren.

An der dem Schreibtisch gegenüberliegenden Wand war ein Flachfernseher befestigt. Eine Couch und ein kleiner Tisch fanden ebenfalls Platz in dem Raum, von dem aus man in den Garten gelangen konnte. Fireball sah, dass das Gras und die Sträucher dringend geschnitten werden mussten, aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte sich Jesse bei diesen Tätigkeiten nicht vorstellen. Er merkte, dass sich seine Lippen unwillkürlich kräuselten, als er es dennoch tat.

„Unterhalten wir uns“, schlug Jesse vor, als er seinen Laptop auf den Schreibtisch stellte, auf dem ein paar Notizen seines letzten Falles lagen. „Übrigens wäre es mir sehr recht, wenn du mich in der Öffentlichkeit mit meinem Decknamen anreden würdest.“

„Geht in Ordnung, Mr. Barista“, erwiderte Fireball abwinkend, der ins Wohnzimmer gefolgt war und sich dort umsah. „Sag mal, hast du vielleicht einen Kaffee?“

Jesse funkelte ihn kurz an und überlegte, ob Fireball ihn abermals wegen seines neuen Namens auf den Arm nehmen wollte. Der schien diesmal allerdings nichts dergleichen beabsichtigt zu haben, denn er schaute sich interessiert im Zimmer um. Deshalb antwortete Jesse so ruhig wie möglich: „Nebenan in der Küche. Pulver ist im Kühlschrank, die Maschine steht auf der Arbeitsfläche.“

Fireball runzelte die Stirn, dann ging ihm ein Licht auf. Wie konnte er so dreist sein und von Jesse verlangen, ihn zu bedienen? Das war ja geradezu lächerlich und er konnte sich wohl schon geehrt fühlen, dass er ihm im Pub ein Bier serviert hatte. Fireball schmunzelte und ging in die Küche, die klein und schmal war, aber alles beinhaltete, was man brauchte, und setzte den Muntermacher auf. ‚Na, dann will ich aber mal nicht so sein und koche einen für ihn mit. Den kann er sicher gut gebrauchen. Obwohl er sich nichts anmerken lässt, muss er nach dem langen Flug verdammt müde sein.

Wer hätte schon gedacht, dass ich mal bei Jesse zu Hause zu sein würde und seine Schränke nach Tassen und Löffeln durchwühle? Wenn ich das Colt oder Saber erzähle, halten die mich glatt für verrückt.’
 

„Also, woher hast du all diese Informationen?“, fragte Fireball, als er mit zwei dampfenden Tassen zurückkehrte und sich auf einen der beiden Stühle setzte. Während des Flugs von Dakota nach Yuma hatte zumindest er ein wenig geschlafen und fühlte sich einigermaßen ausgeruht. Jetzt wollte er ein paar Antworten. Er schob Jesse eine der beiden Tassen zu, was diesen zu überraschen schien, doch er nahm sie und lehnte sich in seinen Sessel zurück.

„Ich hab sie nach und nach gesammelt. Alles fing mit einem meiner Fälle an, bei dem ich auf Unregelmäßigkeiten gestoßen bin. Eine Mandantin wollte, dass ich ihren Mann beschatte, weil sie glaubte, dass er sie betrügt. Das Übliche halt“, erklärte Jesse Schulter zuckend. „Das sind die meisten meiner Aufträge. Also beschattete ich ihn und es stellte sich heraus, dass er keine Affäre hatte, sondern sich regelmäßig mit Saber Rider traf. Ihr Mann ist ein Forscher der Gentechnik, der Saber regelmäßig neue Ergebnisse lieferte. Dr. Philipp Chang, vielleicht sagt dir der Name sogar was?“

„Nie gehört“, verneinte Fireball. „Wer soll das sein?“

„Offiziell ein renommierter Wissenschaftler, der Heilmittel für diverse neuronale Erbkrankheiten erfunden hat. Jetzt arbeitete er an geheimen Forschungen zur Herstellung von genetisch veränderten Nahrungsmitteln und deren Auswirkungen. Dafür hat er ein Schweigegeld in oberer sechsstelliger Höhe erhalten und zwar jährlich.“

„Schweigegeld? Wie hast du das herausgefunden?“

„Sie hat mir das Geld gezeigt, das er in bar in seinem Tresor hatte. Glaub' mir, Changs Verdienst ist zwar nicht schlecht, aber das Geld in seinem Tresor war ein Vielfaches davon. Sie wunderte sich, woher es kam und ich forschte weiter. Die Nummern auf den Geldscheinen führten auf Umwegen zu Saber und das hat mich dazu veranlasst, ihn weiter unter die Lupe zu nehmen. Also grub ich weiter und stieß auf eine Ader, die sich immer weiter verzweigte und Ausmaße annahm, die selbst ich niemals erahnen konnte.

Saber hat einige seltsame, geheime Dinge am Laufen und er achtet penibel darauf, dass seine Geschäftspartner nichts voneinander wissen. Teilweise nutzt er seine Kontakte, um sich in der Öffentlichkeit beliebt zu machen und lenkt so von seinen dunklen Machenschaften ab.“

„Zum Beispiel?“, unterbrach Fireball und zündete eine Zigarette an. Erst dann bemerkte er, dass er sich wie zu Hause aufführte und sah Jesse fast entschuldigend an. „Darf ich?“

Als Antwort schob Jesse ihm einen Aschenbecher hin, den er aus seiner Schreibtischschublade gezogen hatte.

„Du hast davon gehört, dass die letzte Kyrilliummine geschlossen worden ist, weil sie angeblich einsturzgefährdet und das Mineral giftig ist?“

„Klar. Da gibt doch jetzt ein Naturschutzprojekt, wenn ich nicht irre.“

„Richtig, und auch das hat Saber initiiert. Das nennt man wirkungsvolle Public Relations. Seltsamerweise lässt sich nicht eindeutig nachweisen, dass Kyrillium wirklich giftig ist. Es gibt Anhaltspunkte dafür, die genauso gut von anderen Staubpartikeln im Untertagebau herrühren könnten. Früher wurde dieses Erz zur Herstellung von hochwirkungsvollen Solarzellen hergestellt, also für zivile Zwecke. Mittlerweile braucht man es nicht mehr, da es effizientere Methoden zur Stromgewinnung gibt. Was aber kaum einer weiß, wenn Kyrillium in einem bestimmten Verhältnis mit anderen Seltenen Erden vermischt wird, dann erhält man ein hochexplosives Gemisch, dass schon in kleinen Mengen ganze Städte auslöschen kann.“

„Und weiter?“

„Der Abbau wird still und heimlich fortgeführt, das Gebiet um die Mine ist weiträumig abgesperrt und wird bewacht! Warum macht Saber das, wenn er keinen Krieg führen will?“

„Vielleicht will er das Material einfach nur vernichten, damit niemand gefährdet wird?“, vermutete Fireball.

„Könnte sein. Es finden sich allerdings nirgends Aufzeichnungen darüber, wohin das Erz gebracht wird oder dass es beseitigt wird, sollte dein Vorschlag zutreffen. Die Spuren verlaufen ins Nichts wie ein Fluss, der plötzlich versickert. Stattdessen gibt es an anderer Stelle Aktivitäten für einen erhöhten Kauf von Seltenen Erden. Glaubst du etwa an Zufälle?“ Jesse schien keine Antwort von ihm zu erwarten und redete weiter. Er führte weitere Beobachtungspunkte auf und schaltete später seinen Rechner ein, um alles zu belegen. Fireball hörte größtenteils schweigend zu.
 

„Ich brauch mal ’ne Pause“, sagte er ein paar Stunden später. Sein Kopf rauchte von den vielen Informationen und er war nicht mehr in der Lage, Jesse bei seinen komplexen Ausführungen noch weiter zu folgen. Deshalb stand er auf, um in den Garten zu gehen und einen Moment Ruhe zu finden.

Jesse streckte sich auf seinem Stuhl aus und beobachtete Fireball mit einem leichten, spöttischen Grinsen. Sein Plan schien wirklich zu funktionieren und seine detaillierten Vorbereitungen zahlten sich ebenfalls aus, obwohl diese Dinge, die er über Saber herausgefunden hatte, nicht erfunden waren. Das spielte ihm gerade wunderbar in die Hände.

‚Fireball, im Grunde bist du wohl immer noch so naiv wie damals’, sagte er in Gedanken zu ihm, während er ihm zuschaute, wie er im Garten auf und ab ging und dabei eine Kippe nach der anderen rauchte. ‚Ich muss mich wohl bei deiner Ex bedanken, dass sie dir wegen eurer Trennung die Entscheidung, dich mir anzuschließen, erleichtert hat! Dieses Mal werde ich derjenige sein, der euch alle am Ende besiegt!’

Jesse streckte sich und stand auf, um seine Tasche auszuräumen und sich auch ein wenig Ruhe zu gönnen. Nach dem stundenlangen Monolog war seine Stimme heiser geworden und es war nach dem langen Flug doppelt anstrengend für ihn gewesen, sich an alle Einzelheiten zu erinnern. Aber Fehler durften ihm nicht passieren. Das Netz, das er wob, musste stabil sein.
 

Nichts ahnend von Jesses dunklen Plänen, versuchte Fireball, Herr seiner Gedanken zu werden und alles unter einen Hut zu bringen.

‚Ja, es war meine Idee, mit ihm zu gehen!’, rief er sich in Erinnerung. Er fühlte sich wieder seltsam schwindelig, zwang sich aber, weiter seine Spuren durch das hohe Gras zu ziehen. ‚Aber alle von Jesses Daten waren nachprüfbar, so wie er gesagt hat. Auch wenn ich es nicht wahr haben will, die Zeichen lassen sich nicht leugnen und es könnte wirklich sein, dass Saber einen Krieg vorbereitet. Am besten und einfachsten wäre es, wenn ich ihn einfach anrufe und frage. Andererseits wäre er dann gewarnt, wie Jesse schon gesagt hat. Verdammt, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll!’ Beinahe wütend zog er jetzt seine Kreise. ‚Vielleicht ist es wieder einmal nicht unbedingt eine meiner besten Ideen oder ich war mal wieder zu vorschnell mit meiner Entscheidung. Statt mir hier Gedanken um so etwas zu machen, sollte ich mich lieber darum kümmern, die Scheidung hinter mich zu kriegen und meine beiden Kinder zu sehen! Sollen sich doch die Star Sheriffs um Jesse kümmern’, mahnte er sich und strich fahrig durch seine Haare. ‚Aber welche Möglichkeiten hab ich schon? Caro hetzt Fiona und Alyssa gegen mich auf und die beiden scheinen mich inzwischen regelrecht zu hassen.’ Als er sie letztes Mal besuchen wollte, hatten die beiden sich eng an ihre Mama gepresst und sie fest umklammert. Klar und deutlich hatten sie ihm zu verstehen gegeben, was sie von ihm hielten und dass sie ihn nie wieder sehen wollten.

Fireball seufzte resigniert. ‚Wäre ich damals nur bei den Star Sheriffs geblieben. Dann wäre ich heute vielleicht selbst Captain eines Schiffes und säße jetzt nicht in dieser verdammten Zwickmühle.’ Er ging in die Hocke und pflückte einen längeren Halm ab, den er nachdenklich in seinen Fingern drehte. ‚Ich sollte zusehen, dass ich endlich mein Leben auf die Reihe kriege und einen Schlussstrich unter den ganzen Rennzirkus ziehen, mit allem, was damit zu tun hat! Aber mal angenommen, Jesse hat recht und das Neue Grenzland ist tatsächlich in Gefahr? Davor kann ich wohl schlecht die Augen verschließen und mich nur um meine egoistischen Angelegenheiten kümmern, die im Vergleich dazu eher belanglos erscheinen. In was hab ich mich da nur wieder hineinbugsiert?'

Fireball sah hinüber zum Haus, wo Jesse hinter dem Schreibtisch saß und arbeitete.

'Ob ich beides unter einen Hut kriegen kann? Es wäre absolut verantwortungslos von mir, ließe ich Jesse aus den Augen. Ich muss einfach bei ihm bleiben und ihn beobachten. Solange Saber nicht in Gefahr ist und Jesse ihn nicht ins offene Messer laufen lassen will, passiert ja nichts und ich kann eigentlich getrost mitmachen, als Erinnerung an alte Zeiten. Schade nur, dass ich mit ihm auf Tour bin und nicht mit meinem alten Team. Die würden sich an meiner Stelle ihrer Verantwortung bewusst sein, also warum mache ich mir überhaupt so einen Kopf?' Fireball erhob sich und warf zornig den Halm beiseite.

'Ich muss einfach beides schaffen! Zeit, einige Dinge zu klären.'
 

„Jesse“, rief er, als er mit entschlossenen Schritten ins Haus zurückkehrte.

„Was ist?“, sah Jesse von seinem Laptop auf.

„Erstmal will ich ein paar Antworten.“

„Ich habe schon darauf gewartet“, erwiderte Jesse amüsiert und lehnte sich entspannt zurück, als Fireball sich setzte.

„Wenn unsere Partnerschaft“, Fireball machte bei dem Wort Anführungszeichen in der Luft, „funktionieren soll, denke ich, habe ich das Recht dazu, ob es dir schmeckt oder nicht. Es versteht sich von selbst, dass ich ehrliche Antworten erwarte.“

„Wie sagtest du doch gleich? Wir werden uns schon irgendwie ein bisschen gegenseitig vertrauen müssen, wenn wir zusammenarbeiten wollen? Du hast deine Geheimnisse und ich darf keine haben oder wie stellst du dir das vor? Aber gut, von mir aus, ich bin also auf dem Prüfstand. Du sollst sehen, dass ich deines Vertrauens würdig bin. Was willst du wissen?“

„Zuerst will ich wissen, wie du entkommen bist. Wir alle dachten, du wärst tot!“ Das war etwas, was Fireball brennend interessierte. Immer wieder hatte er über Jesses Schicksal nachgedacht. Er war der Meinung, dass er den Tod verdient hatte, und trotzdem hatte er sich Szenarien ausgemalt, wie es gewesen wäre, wenn Jesse damals nicht übergelaufen wäre. Ob der Krieg dann viel früher beendet gewesen wäre? Wäre Jesse Teil einer Star Sheriff-Elite-Einheit geworden oder sogar ins Ramrod-Team geholt worden? Fragen, die wohl auf ewig unbeantwortet blieben.

Unwillkürlich fuhr Jesses rechte Hand an seine linke Seite und für nicht mal eine Sekunde sah Fireball Schmerzen auf dem Gesicht seines Gegenübers.

„Ich war nie tot“, knurrte Jesse. „Vielleicht freut es dich aber zu hören, dass ich schlimmste Verbrennungen und Verletzungen davongetragen habe. Die Mönche von Moai haben mich gefunden und wieder hergerichtet, weiß der Teufel warum.“

Selbst wenn Jesse mit Absicht verschwieg wie lange seine Heilung gedauert hatte, konnte sich Fireball ungefähr ausmalen, was er durchgemacht haben musste. Er fragte sich, wie schlimm die Spuren waren, die er davongetragen hatte und die bestimmt heute noch zu sehen waren. Fireball schluckte trocken und fixierte Jesse wieder.

„Glaube es oder lass es - es liegt mir fern, mich über deine Verletzungen zu freuen. Wir haben getan, was getan werden musste, nachdem der Waffenstillstand gebrochen und ein Frieden unmöglich geworden war. Das weißt du genauso gut wie ich. Aber wir sitzen hier nicht zusammen, um die alten Geschichten aufzuwärmen, sondern um einen neuen Krieg zu verhindern, falls sich deine mysteriösen Andeutungen als wahr erweisen. Kann ich also weitermachen?“

Jesse schien Fireballs Äußerung nicht zu schmecken, vertiefte die Diskussion aber nicht und machte er nur eine kurze Handbewegung, um seine Zustimmung zu signalisieren.

„Die Phantomzone existiert also noch“, fuhr Fireball fort, worauf sein Gegenüber nickte. „Wie bist du von dort geflohen?“

„Mit einem alten Gleiter, den ich heimlich auf Vordermann gebracht habe, damit mir der Dimensionssprung gelang. Ich glaube, Saber forscht an einem Antrieb, mit dem er solche Sprünge machen kann. Bisher war nur noch nichts zu finden.“

„Dazu später“, winkte Fireball ab. „Ich bin noch nicht fertig. Wie sieht es in der Phantomzone aus?“

„Es ist dunkel, kalt und karg.“

„Weiche mir nicht aus!“, zischte er verärgert. „Was machen die Outrider? Rüsten sie auf? Planen sie etwas? Können sie in unsere Dimension springen? Wer hat überlebt? Nemesis? Wer noch? Solche Sachen will ich wissen! Lass deine Spielereien oder ich bin gleich wieder weg. Du hast mich um Hilfe gebeten, nicht umgekehrt!“

„Schon gut, schon gut!“, lenkte Jesse ein, „alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab.“ Er fuhr sich durch die Haare und wirkte etwas betroffen dabei, wie Fireball zufrieden feststellte.

„Die Tritonmaterie ist komplett zerstört und es herrscht totales Chaos. Du kannst dir bestimmt denken, dass ich das anfangs nicht verfolgen konnte. Als ich die Phantomzone endlich verließ, war sie noch in der Wiederaufbauphase. Sie haben wenig Energie, wenig Nahrung, kaum Technik, dafür umso mehr Machtkämpfe und Krankheiten. Ich habe nicht den Eindruck gehabt, dass die Outrider soweit sind, schon wieder ans Aufrüsten zu denken, falls sie das überhaupt jemals tun werden. Sie haben selbst so viele Jahre nach dem Krieg zu viele eigene Probleme, mit denen sie sich beschäftigen. Im Prinzip geht es ums nackte Überleben.“

„Kein Wunder, dass du da abgehauen bist. Klingt ja nicht gerade rosig. Gibt es einen Nachfolger für Nemesis?“

„Sogar einige. Dark war einer von ihnen, Calibos und Orat. Es gab andere dazwischen, die sich nicht so lange halten konnten, und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wer es jetzt ist.“

Fireball beugte sich vor und betrachtete Jesse eindringlich. „Springst du nicht manchmal zurück, um nachzusehen?“

„Wenn du wissen willst, ob ich ein Spion bin: nein. Ich habe mit der Phantomzone abgeschlossen. Wie du schon festgestellt hast, lebt es sich hier angenehmer als dort.“

„Das hat dich damals auch nicht davon abgehalten, überzulaufen!“, bemerkte Fireball trocken.

„Du kennst die Gründe dafür genau!“, erwiderte Jesse im selben Tonfall und hielt dem bohrenden Blick stand.

„Ich verstehe dein Interesse nicht, den Krieg, den Saber angeblich plant, zu verhindern. Vielleicht hast du die Güte, es mir zu erklären?“

„Ein Krieg im Leben ist genug, findest du nicht, Fireball? Oder sehnst du dich etwa danach? Ich für meinen Teil möchte so etwas nicht noch einmal erleben und das meine ich verdammt ernst!“, antwortete Jesse nachdrücklich und beugte sich nun nach vorne, um ihn zu mustern. „Sind deine Fragen jetzt beantwortet?“

Fireball forschte in Jesses Augen, konnte aber keine Spur von Unwahrheit darin erkennen.

„Fürs Erste bin ich zufrieden“, bestätigte er und stieß einen kleinen, erschöpften Seufzer aus. Jesse schien seiner Sache sehr sicher zu sein und hatte souverän jede einzelne Antwort gegeben.

„Gut. Wenn wir schon dabei sind, will ich auch ein paar Antworten von dir.“

„Okay, von mir aus. Das ist nur fair.“

„Ich war überrascht, als ich erfahren habe, dass du wieder in deinen alten Job zurückgekehrt bist. Wie kommt‘s, dass du nach allem, was gewesen war, und als Held des Neuen Grenzlands den Star Sheriffs den Rücken gekehrt hast?“

Fireball spürte wie sich seine Augen zusammenzogen. War das nur eine Testfrage, um ihn auf die Probe zu stellen? Schließlich war dies ein offenes Geheimnis und so ziemlich jeder kannte diesen Teil seiner Vergangenheit, denn sein Leben stieß eben als jener Held des Ramrod-Teams auf großes öffentliches Interesse und es war ein Leichtes für Jesse, seine Geschichte zu überprüfen. Deshalb konnte Fireball nur mit der Wahrheit antworten.

„Caroline, meine Frau, bat mich damals darum. Sie hatte Angst, mich zu verlieren, wenn es wieder Krieg gäbe. Da wir andere Pläne hatten, stimmte ich zu, denn ich wollte nicht, dass meine Kinder ohne ihren Vater aufwuchsen, so wie ich.“ Er schluckte hart und bemerkte wieder den Druck in seiner Brust, wie häufig in letzter Zeit, seitdem der Rosenkrieg ausgebrochen war. „Nach dem letzten Gefecht hatten wir alle uns eine Auszeit genommen“, erzählte Fireball, und Jesse wusste, dass das „Wir“, das Fireball jetzt benutzte, ihn, Saber, Colt und April umfasste, nicht Fireball und Caroline.

„Als nach einiger Zeit wieder Normalität im Neuen Grenzland eingekehrt war und die Star Sheriffs nicht mehr so dringend gebraucht wurden, nahm ich wieder an Rennen teil, weil mir die Action fehlte. Trotzdem war ich aber immer noch Teil der Star Sheriffs und fühlte mich auch so, bis Caroline mich vor die Wahl stellte. Hätte ich gewusst, dass sie nur meinen Ruhm und mein Geld wollte, hätte ich damals anders entschieden! Jetzt zeigt sie ihr wahres Gesicht!“ Obwohl Fireball leise sprach, konnte Jesse den Zorn in seiner Stimme bemerken. Fireball war blass und presste seine Fingernägel in die Handballen, was Jesse zu einem Stirnrunzeln verleitete. „Glaube mir, wenn ich könnte, würde ich den Krieg mit der Phantomzone gegen den tauschen, den ich jetzt führe.“

„Ich habe immer gedacht, du würdest mit April zusammen sein“, bemerkte Jesse leichthin.

„April?“, wiederholte Fireball verblüfft und winkte ab. „Weißt du, wenn man Tag und Nacht zusammenhängt, dann sieht man manchmal Dinge, die unter normalen Umständen gar nicht dagewesen wären. So war es auch bei uns; wir passten nicht zusammen und das haben wir zum Glück relativ schnell gemerkt. Also ließen wir es wieder sein“, antwortete Fireball ehrlich. „Wie stehst du inzwischen zu ihr? Bist du etwa immer noch in sie verknallt?“ Ein wenig Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, als er Jesse breit angrinste.

Jesse grinste zurück: „Ach, sie war nur eine Schwärmerei aus verletztem Stolz, weil ich sie nicht haben konnte. Nichts weiter, ich bin schon lange über sie weg.“

„Hast du eine neue Freundin?“

„Nicht, dass es dich was angehen würde, aber nein. Außerdem stelle ich jetzt die Fragen.“

„Jaja, schon okay“, wiegelte Fireball ab.

„Wo wir schon beim Thema sind, wird deine Frau dich nicht suchen?“

„Sie ist froh, wenn sie über mich herziehen kann und meinen Kindern und sämtlichen Reportern Lügengeschichten über mich erzählen kann“, antwortete Fireball mit unterdrücktem Zorn in der Stimme. „Es ist höchst unwahrscheinlich, dass sie mich suchen wird.“

„Ich verlasse mich auf deine Einschätzung. Was ist mit deinen Fans und den Reportern? Besteht die Gefahr, dass sie dir auflauern oder dich verfolgen?“

Fireball schnaubte verärgert. „Als Fans würde ich die Leute, die an meiner Person interessiert sind, nicht mehr bezeichnen. Ich betrachte sie inzwischen als meine neuen Feinde. Man muss selbstverständlich damit rechnen, dass sie immer auf ein Foto aus sind, schließlich verdienen sie ihr Geld damit. Ist das ein Problem für dich?“

„Ich weiß eben gerne, auf was ich mich einstellen muss.“

„Deswegen ziehe ich mich oftmals etwas anders an, wenn ich mich in der Öffentlichkeit aufhalte und keinen Bock auf Paparazzi oder Interviews habe. Meine Tarnung sozusagen. Ich bin inzwischen ziemlich gut darin, im Gegensatz zu dir. Mit deinen schwarzen Haaren erkennt man dich trotzdem.“

„Schon vergessen – ich bin tot. Ich muss mich nicht tarnen, ich will einfach nicht auffallen“, knurrte Jesse.

„Das sind ja ganz neue Töne von dir. Früher musstest du immer im Mittelpunkt stehen“, provozierte Fireball Jesse.

„Das wird mir langsam zu doof“, schnaubte Jesse und ging in die Küche, wo er sich ein Glas Wasser einschenkte. Wieso fiel es ihm so schwer, so gelassen zu bleiben wie früher, als er über allen Dingen stehen und lästige Fragen einfach so an ihm abprallten lassen konnte? Er hörte, dass Fireball ihm folgte und trank genervt einen Schluck.

„Hör zu Jesse, ich hab es nicht so gemeint. Ich will dir nicht zu nahe treten, aber ich will eben wissen, woran ich bei dir bin. Die Vergangenheit kann ich nicht so einfach vergessen. Ich bin jedenfalls nicht grundlos mit dir mitgekommen und will mit eigenen Augen sehen, ob das stimmt, was du über Saber herausgefunden hast. Deshalb höre ich dir zu und versuche, dir zu vertrauen, obwohl es mir zugegebenermaßen nicht leicht fällt. Aber vielleicht ändert sich das ja mit der Zeit.“ Fireball fuhr sich verlegten durch seine Haare und fixierte Jesse, der sich inzwischen zu ihm umgedreht hatte.

„Im Moment verläuft mein Leben jedenfalls nicht gerade so wie ich mir das vorstelle und ich muss dringend einige Dinge geradebiegen. Dinge, die ich die ich nicht auf die lange Bank schieben kann.“

„Zum Beispiel?“, unterbrach Jesse und lehnte sich möglichst lässig an die Küchenzeile, um seine innere Anspannung zu überspielen. Fireball war trotz seiner aktuellen Situation so ehrlich und offen zu ihm, dass es fast lächerlich war. Er vertraute ihm, einem Ex-Verräter, mehr als seiner einstigen großen Liebe.

„Allem voran meine Scheidung“, antwortete Fireball missmutig. „Deshalb will ich so schnell wie möglich mein Haus verkaufen und meine Habseligkeiten dort wegholen. Es gehört zwar mir, aber ich will es am besten noch vor dem Gerichtstermin loswerden, von mir aus für einen Interconti, damit sie nichts davon hat! Wenn ich den ganzen Mist hinter mir habe, will ich da sowieso nicht mehr wohnen.“ Seine Augen blitzten zornig, als er das sagte.

„Willst du mir damit etwa sagen, dass du schon wieder aussteigen willst, wo du gerade erst Hals über Kopf mitgekommen bist?“ Jesses Blick veränderte sich zu einer dunklen Warnung.

„Nein. Aber vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dass ich beides unter einen Hut bringen kann. Was denkst du?“

„Das geht nicht!“

„Wieso denn nicht? Was spricht dagegen?“

„Wir müssen intensive Recherchen und verdeckte Ermittlungen durchführen, sonst kommt uns Saber vielleicht zuvor, sonst war alles umsonst! Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, wieviel Zeit das in Anspruch nimmt?“

„Nein, hab ich nicht“, gab Fireball zu. „Spricht was dagegen, wenn ich die Daten von meinem Haus aus sammle? Was für Daten sind das?“

„Du wüsstest gar nicht, wie du vorgehen und nach was du suchen musst“, bemerkte Jesse sauer.

„Dann zeig es mir oder komm einfach mit!“, schlug Fireball vor. „Sollte doch egal sein, von wo aus wir das machen, oder?“

„Mitkommen?“, wiederholte Jesse perplex.

„Ja, mitkommen. Wenn ich dich vorhin als du mir alles erklärt hast, richtig verstanden habe, wird das meiste doch eh per Computer erledigt, stimmt's?“

„Ja, das ist richtig“, gab Jesse schließlich unwirsch zu. „Könnte funktionieren.“

„Siehst du!“, sagte Fireball erleichtert.

„Wann?“

„So bald wie möglich, damit ich schnell fertig bin. Dazu muss ich nur einige Dinge klären, nur erreiche ich heute niemanden mehr“, stellte Fireball mit einem Blick auf seine Uhr fest. „Spricht was dagegen, wenn ich meinen Laptop an dein Netz hänge?“

„Nein. Meine Leitungen sind sicher, dafür habe ich gesorgt.“
 

Während Fireball seinen Computer holte und aufbaute, griff sich Jesse einen Apfel aus der Obstschale, die auf dem Wohnzimmertisch stand. Seit er wieder hier in der menschlichen Dimension war, verspürte er einen immensen Appetit auf Vitamine und ernährte sich fast nur noch davon. In der Phantomzone gab es dagegen nur synthetische Nährstoffe, die den Körper zwar am Leben erhielten, ihn aber krank und blass erscheinen ließen. Um natürliche Vitamine anzubauen, wie sie in der menschlichen Dimension vorkamen, reichte die dortige Sonnenkraft nicht aus und die künstlichen Sonnen in den Gewächshäusern waren aufgrund des Energiemangels nur ein ungenügender Ersatz. Da auch die Körper der Outrider diese Wirkstoffe zum Leben benötigten, waren chemische Varianten erfunden und hergestellt worden, die als Ersatz dienten, bis man vielleicht eines Tages wieder zu den natürlichen Lebensmitteln zurückkehren konnte.

Aus einer Laune heraus und vielleicht ein bisschen aus Reue, um die angespannte Stimmung zu lockern, nahm Jesse einen weiteren Apfel und hielt ihn Fireball hin: „Falls du Hunger hast.“

„Danke. Den hab ich tatsächlich“, antwortete Fireball überrascht, der auf dem Boden halb unter dem Schreibtisch kniete, um das Stromkabel anzuschließen. Als er fertig war und wieder aufstand, nahm er den Apfel an. „Wollen wir eventuell ‘ne Pizza bestellen?“

„Wir können auch in die Stadt fahren.“

„Ehrlich gesagt mag ich lieber hier bleiben, ich bin inzwischen ziemlich müde“, gestand Fireball, nahm einen Bissen und sah zur Couch. „Kann ich später dort schlafen?“

„Im Nebenraum steht ein Bett, das kannst du nehmen“, erwiderte Jesse und ging in die Küche, um nach einer Karte von einem Pizzalieferanten zu suchen. Irgendwo musste eine sein, die noch übrig war als Jason Barista hier wohnte, aber er fand sie nicht. Die Vorstellung, einen ehemaligen Feind in seinem Haus zu beherbergen, bereitete ihm Bauchschmerzen; rausschmeißen konnte er ihn aber auch schlecht, daher schob Jesse seine Bedenken diesbezüglich rigoros beiseite.

„Du kannst gleich mal testen, ob dein Laptop funktioniert, wir müssen online bestellen“, schlug er vor, als er in den Arbeitsbereich zurückkehrte. „Ich hab keine Karte.“

„Okay“, meinte Fireball und erhob sich vom Boden, um den Rechner zu starten.
 

Bizarr wurde es für Jesses Geschmack ein paar Momente später, als sie nebeneinander sitzend auf den Bildschirm schauten, um ihr Essen auszuwählen. Er war sich sicher, dass es Fireball ähnlich ging. Auch wenn inzwischen mehr als dreizehn Jahre vergangen waren und sich die Zeiten geändert hatten, stand immer noch die Vergangenheit zwischen ihnen und ließ sich nicht so einfach überspielen. Fireball hatte schon im Vorfeld erkannt, dass sie ihre gegenseitige Skepsis ablegen und sich vertrauen mussten, sollte ihre Kooperation funktionieren. Obwohl Jesse das gehört und ihm zugestimmt hatte, wurde ihm erst jetzt richtig bewusst, dass Fireball während ihrer Zusammenarbeit einige private Dinge über ihn erfahren würde, wie zum Beispiel, was er aß oder ob er Langschläfer war oder gerne Musik hörte; eigentlich nichts Weltbewegendes, nur dass da plötzlich jemand in sein Privatleben und fast schon seine Intimsphäre eindrang, die er nach allem, was er in der Phantomzone durchgemacht hatte, lieber nur für sich gehabt hätte.

Umgekehrt würde er ebenso einiges über Fireball erfahren. Aber nun hatte Jesse den Stein ins Rollen gebracht und es gab keinen Weg mehr, ihn aufzuhalten, außer er ließe von seinen Racheplänen ab; das hatte er allerdings nicht vor.

‚Wird sich wohl nicht vermeiden lassen, dass wir uns besser kennenlernen’, dachte er und sein Blick fiel auf seine Hand, die ziemlich verkrampft aussah, so wie er sich fühlte. Jahrelang hatte er sein Leben mit niemandem geteilt und nun würde er mit Fireball gemeinsam zu Abend essen. An sich war es nichts Schlimmes, doch Jesse konnte eine gewisse Scheu nicht leugnen. Vielleicht bemerkte Fireball seine Befangenheit, vielleicht nicht. Jedenfalls klang er ganz locker, als er ihn ansah: „Heute nehme ich eine Pizza Fuoco. Und du?“

‚Was ist schon dabei, wenn er weiß, was ich gerne esse? Ich kann mich wohl schlecht in die Küche zurückziehen, um alleine zu essen?’ Jesse starrte auf die verschiedenen Gerichte, die auf dem Monitor abgebildet waren.

„Wie wäre es mit Nudeln? Die sehen lecker aus!“, schlug Fireball vor. Erriet er etwa, was in ihm vorging?

„Ich nehme nur diesen Salat“, erwiderte Jesse beiläufig und deutete auf das Bild auf dem Monitor. In seinen eigenen Ohren klang seine Stimme gestresst und seine Hand zitterte leicht, als er sie ausstreckte. „Sonst nichts.“

„Okay.“ Fireball wählte die Speisen aus, ließ sich die Adresse von Jesse sagen und schickte die Bestellung los. Dann streckte sich Fireball auf seinem Stuhl aus.

„Ich spüre die Müdigkeit in allen Knochen. Nach dem Essen schlafe ich bestimmt sofort ein. Wo kann ich mich denn aufs Ohr hauen?“

„Komm mit.“ Jesse ging voran in den Flur, von dem aus drei weitere Türen abzweigten. „Hier ist das Bad, das hier ist mein Schlafzimmer und den Raum kannst du dir nehmen.“ Er öffnete die Tür und ließ Fireball eintreten, der seine Tasche geschultert hatte. „Bettzeug ist im Schrank, bediene dich einfach.“

„Danke“, sagte Fireball und grinste ihn an und Jesse merkte ebenfalls, dass sich seine Mundwinkel kräuselten. Die Situation war zu komisch. Aber da er sich unwohl fühlte, ließ er Fireball unter dem Vorwand allein, dass ihm etwas eingefallen war.
 

Der Lieferservice brachte ihr Essen pünktlich und sie aßen schweigend. Danach rauchte Fireball draußen eine Zigarette und genoss die frische Abendluft.

„Hast du was dagegen, wenn ich unter die Dusche springe?“, fragte er, als er ins Wohnzimmer zurückkehrte.

„Mach nur“, winkte Jesse ab und sah kurz von seinem Rechner auf. Fireball zögerte einen Moment und wirkte unschlüssig. „Dann bis morgen“, verabschiedete er sich und verließ den Raum, ehe Jesse etwas erwidern konnte. Hatte er etwa gezögert, weil er nicht wusste, ob er ihm eine gute Nacht wünschen sollte? Unwillkürlich musste er bei dieser Vorstellung lächeln. Fireball hätte auch einfach ohne Grußfloskel gehen können. Aber vielleicht war ihm das eine zuviel und das andere zu wenig. Sein „Dann bis morgen“ war die perfekte Mischung, fand Jesse. Auch er war müde und seine Augen brannten von der Recherchearbeit und auch er würde sich irgendwann hinlegen müssen. Trotz sorgfältiger Planung war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die Möglichkeit bestand, dass Fireball unter dem gleichen Dach wie er schlafen würde. Jahrelang hatte er allein gelebt und er war es nicht gewohnt, jemanden in seiner Nähe zu haben. Selbst wenn er seine Tür abschließen würde, fühlte er sich unsicher, beobachtet und bedroht, dessen war er sich sicher. Im Moment war Jesse dazu nicht bereit, dieses Risiko einzugehen und holte sich einen weiteren, starken Kaffee, um weiterzuarbeiten.
 


 

Es war schon fast neun Uhr, als Fireball am nächsten Morgen aufwachte und mit zerzausten Haaren, in Schlafshirt und Shorts in die Küche ging. Trotz der vielen Informationen hatte er wie ein Stein geschlafen und fühlte sich ausgeruht und gut gelaunt.

Im Haus war es ruhig, nur von draußen drang schwacher, entfernter Straßenlärm herein. Die Sonne erhellte die Räume und er setzte einen Kaffee auf. Solange die Maschine lief, griff er nach seinen Zigaretten, um im Garten eine zu rauchen. Als er das Wohnzimmer betrat, bemerkte er Jesse, der mitten auf seiner Tastatur eingeschlafen war.

‚Sieh mal einer an, du kannst ja richtig unschuldig aussehen’, stellte er schmunzelnd fest und lehnte sich in den Türrahmen, um für einen Moment die ruhigen Atemzüge des anderen zu beobachten. ‚Wahrscheinlich ist es dir unangenehm, wenn du wüsstest, dass ich dich so sehe’, mutmaßte Fireball. ‚Du bist hart zu dir selbst wie zu anderen. Ich vermute, du wolltest die ganze Nacht wach bleiben, weil du Angst hast, dass ich die Star Sheriffs rufe und dich verhaften lasse, während du im Land der Träume weilst. Aber du wirst dich wohl daran gewöhnen, solange unsere Zusammenarbeit besteht. Schön zu sehen, dass auch du nur ein Mensch bist, der Grenzen hat.’ Fireball überlegte wie er sich verhalten sollte. Ihn mit einem flapsigen Spruch á la Colt zu wecken würde die zarten Spinnweben des Vertrauens, die sich gerade bildeten, sofort zerreißen und das wollte er nicht. Plötzlich zischte und brodelte es in der Küche. Fireball bekam einen riesigen Schreck, aber es war nur die Kaffeemaschine, die diese Geräusche von sich gab. Als Jesse sich regte, wandte er sich sofort ab und kehrte kurze Zeit später mit einer Tasse in der Hand zurück.

„Morgen. Kaffee ist gerade fertig geworden“, sagte er beiläufig und ging hinaus in Garten, um endlich seine morgendliche Zigarette zu rauchen. Er merkte, dass Jesse ihm erschrocken hinterher starrte. Heute Nacht würde er wohl im Bett schlafen, denn diese Übernachtungsposition hatte ihm sicherlich einen verspannten Nacken beschert und die Tastatur war als Kopfkissen bestimmt auch nicht der Renner.
 

Jesses Herzschlag beruhigte sich schnell, als er sah, dass Fireball in Schlafklamotten und barfuß herumlief, als wäre es das normalste der Welt. Er fühlte sich scheinbar schon wie zu Hause. Gerädert strich Jesse sein Haar zurück, stand auf und streckte sich. Vielleicht hatte er sich einfach nur zu viele Gedanken gemacht, dass Fireball ihn im Schlaf überwältigen konnte? Was dachte sein „Gast“ jetzt von ihm? Der war jedenfalls ausgeruht.

Leicht verstimmt über sich selbst und seine Paranoia ging er ins Badezimmer, um sich mit einer Dusche zu erfrischen und die peinlichen Tastaturabdrücke auf seiner Wange zu glätten. Danach würde der Tag hoffentlich anders aussehen.
 

Als er eine halbe Stunde später besser gelaunt und einigermaßen wach ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand er Fireball telefonierend vor. Scheinbar war es ein längeres, wichtiges Gespräch, denn Fireball saß am Schreibtisch und er hatte einen Notizblock vor sich liegen, auf dem er einiges aufgeschrieben hatte. Weil Jesse im Moment keine Eile hatte, nahm er sich einen Apfel sowie seinen inzwischen ausgekühlten Kaffee und setzte sich auf die Couch. Er schaltete den Fernseher an, um ein wenig herumzuzappen. Beim Durchschalten der Kanäle, bekam Jesse fast nur die gleichen Berichte über Fireball und sein desaströses Ende im Formel 1-Zirkus, das im Moment Thema Nummer Eins auf allen Sendern war. Selbstverständlich wurden auch Interviews mit den anderen Teams und seiner angehenden Exfrau gezeigt. Jesse sah es sich an.

„Lass mich ausreden, Carl!“, hörte Jesse Fireball sagen. Er klang gereizt. „Ich möchte, dass du das Team für mich auflöst. Ich steige komplett aus dem Rennzirkus aus. Die Wagen können verschrottet werden, sie taugen eh nichts. Saul und Lee sind mit sofortiger Wirkung freigestellt. Stell ihnen eine Kündigung in meinem Namen aus und zahle ihnen ihr Gehalt. Sie können sich was anderes suchen, wobei ich meinen Hintern drauf verwetten könnte, dass Saul eh schon mit dem Harrison-Team angebandelt hat.“ Fireball schwieg einen Moment und Jesse sah aus dem Augenwinkel, dass er einen Haken auf dem Notizblatt machte.

„Mach einfach wie du denkst“, gab Fireball seinem Anwalt freie Hand und krallte seine Finger in seine Haare, die schlimmer als sonst abstanden. Jesse bemerkte, dass er zu ihm hinüber sah und innehielt.

„Was? Moment!“, sagte Fireball er zu seinem Gesprächspartner, ehe er mit forschen Schritten zu ihm kam. „Kannst du den Schrott nicht ausmachen!“, herrschte er ihn an und schaltete im gleichen Moment den TV mit einem kräftigen Schlag auf die Fernbedienung ab. „Die erzählen eh nicht die Wahrheit! Wenn du unbedingt was wissen willst, frag gefälligst mich!“ Er blitzte Jesse wütend und warnend an, dass dieser ja nicht wagen sollte, noch einmal so ein Programm anzuschalten. Erst als Jesse mit einem angedeuteten Schulterzucken reagiert hatte, hob Fireball sein Handy wieder ans Ohr und konzentrierte sich wieder auf sein Gespräch.

„Was hast du eben gesagt, Carl?“ Sein Tonfall war sehr angespannt, und Jesse fiel auf, wie blass Fireball wieder geworden war und dass seine Hände zitterten, als er nach dem Kugelschreiber griff. Er nahm Fireballs Ausbruch gelassen und teilweise amüsiert hin, kaute langsam seinen Apfel, während er dem Telefonat lauschte. Er hoffte, dass Fireballs Nerven nicht noch mehr mit ihm durchgehen würden, im Moment schienen sie nicht gerade belastbar zu sein.

„Ja, auch die Mechaniker und die Konstrukteure. Alle!“, bestätigte Fireball abermals wütend. „Von mir aus können sie was neues gründen, wenn sie unbedingt wollen, das ist mir so was von egal! Nur sollen sie mich aus allem raushalten, klar?“ Wieder folgte ein längeres Schweigen, in dem Carl einiges erklärte. „Setz einfach was auf, wovon du meinst, dass es richtig ist und schick es mir“, bat Fireball müde und verabschiedete sich, nur, um gleich mit dem nächsten zu telefonieren. Diesmal war es ein Makler und das Gespräch dauerte nicht ganz so lange. Fireball vereinbarte einen Besichtigungstermin und atmete ein paar Momente tief durch, nachdem er aufgelegt hatte.

„Ich muss für ein paar Tage weg“, erklärte er ohne aufzusehen.

„War nicht zu überhören und außerdem hast du gestern schon solche Andeutungen gemacht“, erwiderte Jesse. „Da hast du allerdings nicht von ein paar Tagen gesprochen.“

Fireball fixierte ihn einen Moment lang. „Es ist nur so, dass ich dieses … Elend endlich abschließen will. Was denkst du denn wie schnell man ein Haus ausräumen kann? Außerdem warst du einverstanden, dass wir die Recherchen von überall durchführen können und dass du mitkommst, oder hast du das schon wieder vergessen?“

„Richtig, das war ich“, entgegnete Jesse und trat zu ihm. „Aber man kann auch eine Firma beauftragen, die machen sowas, dann hat man selbst keine Arbeit damit.“

„Meinst du, ich hab Lust darauf, dass wildfremde Leute mein Haus ausräumen nach allem, was in derzeit in der Presse los ist? Das wäre ein gefundenes Fressen für die! Außerdem würde Caroline sofort auf der Matte stehen und das zu verhindern wissen. Das ist nicht Sinn der Sache!“

„Hab's schon kapiert. Je schneller du das hinbekommst, umso besser. Es gibt noch etliche Beweise zu finden und auszuwerten, ehe das alles an die Presse geht. Wir dürfen keine Zeit zu verlieren, sonst ist der Krieg schneller da als wir fertig sind!“

„Ich bin nicht dein Sklave, Jesse!“, bemerkte Fireball mit unterschwelligem Zorn, woraufhin Jesse amüsiert lächelte.

„Reizende Vorstellung, aber das hat niemand behauptet. Ich dachte nur, dass du es ernst meinst, als du mitgekommen bist! Aber scheinbar habe ich mich getäuscht und du bist nichts weiter als ein Heuchler!“ Jesses Stimme troff vor Sarkasmus und er merkte, dass er Fireball an der richtigen Stelle getroffen hatte, denn dessen Lippen pressten sich zu einer schmalen Linie zusammen und seine Hand krampfte sich um den Kugelschreiber.

„Ich muss es einfach tun!“, presste Fireball nach ein paar Momenten hervor. „Entweder du kommst mit oder du bleibst hier, deine Entscheidung!“

Jesse biss seine Backenzähne aufeinander. Fireball war in dieser Hinsicht verdammt stur und würde keinen Millimeter davon abrücken.

„Dein Haus ist hoffentlich nicht von Reportermassen umstellt“, sprach Jesse seine einzige Sorge aus.

„Ich kann dich beruhigen. In dieses Wohngebiet kommt man nur mit vorheriger Anmeldung oder in Begleitung. Reporter und Fans haben da keine Chance.“

„Na gut. Mir bleibt eh nichts anderes übrig, als dich beim Wort zu nehmen. Dann lass uns keine Zeit verlieren. Je eher wir dort sind und du anfangen kannst, umso besser!“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Reblaus
2013-01-03T14:48:39+00:00 03.01.2013 15:48
Jetzt nehme ich mir mal kurz Zeit! Muss sein ;-) , ich mag die Ff gerne!

Also vorsichtig wäre ich schon bei Jesse, bisher hat er immer etwas ausgeheckt und Shinji ist derzeit an einem Punkt an dem er weiteren Aerger nicht gebrauchen kann. Ich aber es gut nachvollziehbar , dass man dann gerade sich etwas anderes sucht um abzuschliessen. Ich hoffe mal das das kein Reinfall wird ;-)

Lg Reblaus


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