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Von Kaffee, Cookies und Kakao

von

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VII

Die Weihnachtsdekoration, die schon seit längerem impertinent um deine Aufmerksamkeit buhlt, kommt dir vollkommen deplaziert vor in deinem Leben. Draußen hat sich Regen in Schnee verwandelt, der wie ein weißer Flaum auf Fenstersimsen, Autodächern und Straßenlaternen glitzert. Doch in deinem Inneren ist alles unverändert trist geblieben. Es ist zehn Tage her, seit Alfred abends aus dem Laden gestürmt ist.

Zehn Tage, seit du ihm einen Kakaosmiley auf die Wange gemalt hast.

Zehn Tage, seit er dir gesagt hat, er würde nicht vergessen, sich einen Arzttermin geben zu lassen. Aber ob er es getan hat, weißt du nicht...

Von ihm fehlt wie so oft jede Spur und es macht dich krank. Dir tut das Herz weh und obendrein der Kopf; Schmerz hockt in all deinen Gliedern, macht die Tage lang und schwer und lässt dich abends völlig erschöpft ins Bett fallen. In den Sekunden, die du vor Einbruch des Schlafes noch bewusst erlebst, siehst du Alfreds Gestalt, die im Nichts verschwindet.
 

Er ist krank – er weiß es und er braucht Hilfe.
 

Ob es daheim Probleme gegeben hat?

Du weißt es nicht. Genauso wenig weißt du, wie es ihm geht und was der Arzt, bei dem er hoffentlich war, gesagt hat. Du hängst schon wieder in der Luft und begreifst einfach nicht, warum das so ist. Es ist keine angenehme Schwerelosigkeit. Es kommt dir eher wie ein unaufhaltsamer Sturz vor: tief hinab ins Dunkle, ohne dass du den Boden erkennen kannst. Es ist furchtbar...

Denkt Alfred eigentlich jemals daran, dass er dir mit seiner sporadischen Präsens wehtut? Du willst ihm keinen Vorwurf machen, aber du findest, er könnte sich ruhig mal wieder blicken lassen. Er weißt doch, dass es dich gibt. Er muss doch auch gespürt haben, was da zwischen euch aufgekeimt ist.

Oder etwa nicht?

Ist das vielleicht das Problem? Eigentlich solltest du dir mehr Sorgen um seine Gesundheit machen. Uneigentlich machst du dir aber auch sehr große Sorgen um das, was du fühlst und um das, was er womöglich nicht fühlt...
 


 

Du wirfst dir ein Aspirin ein, bevor du deine heutige Schicht antrittst und dir dann die schwarze Schürze mit den drei dezenten Weihnachtssternchen, die den Schriftzug des Cafés umgarnen, umbindest. Es ist Freitag und du kannst bald die Tage bis zum Fest zählen. Dank Internetshopping hast du bereits alle Geschenke für die wichtigen Leute in deinem Leben beisammen. Selbst hast du gar keine Wünsche geäußert. Natürlich, da gibt es das eine oder andere Buch, das du gerne lesen würdest, und all solche Kleinigkeiten, aber deine wahren Wünsche sind nicht mit Materiellem zu erfüllen.

Deine wahren Wünsche kreisen um einen jungen Mann, den du hörst und den du riechst, obwohl er gar nicht in deiner Nähe ist. Deine Erinnerung macht ihn so real. Lässt ihn immerfort bei dir sein und bis spät abends unter Hochspannung stehen. Du bleibst sogar absichtlich nach Ladenschluss noch ein paar Minuten länger. Löschst das Licht und schaust auf die Straße hinaus, falls er spät dran sein sollte. Doch er taucht nicht auf. Es drückt dir die Luft aus den Lungen, wann immer du es realisierst und dich letztlich entkräftet nach Hause schleppst. Zu müde bist, um zu weinen und zu traurig bist, um es zu verstecken oder morgens vorm Spiegel zu überschminken.
 

Im Radio werden die erfolgreichsten Weihnachts-Hits aller Zeiten gespielt, zu denen sich deine Lippen partout nicht bewegen wollen. Sie streiken, so ohne Alfred. Sie sehnen sich nach ihm und nach seiner Stimme, so wie sich all deine Sinne nach Alfred sehnen.

Es tut weh.
 

Du willst nicht wissen, wie dein Gesicht aussieht, als eine halbe Stunde vor Feierabend die Türe aufgeht und dein Hals plötzlich so trocken wird wie die Sahara. In einem hellen, langen Wintermantel betritt ein dir durchaus bekannter junger Mann den Laden. Um den Hals trägt er einen karierten Schal. Seine Schritte sind langsam, aber zielorientiert, bis er vor dem Tresen steht und dir höflich zunickt.

„Abend.“
 

Du grüßt automatisch zurück, während in deinem Hinterkopf ein ganzes Sammelsurium an Fragen ausbricht und in Rekordgeschwindigkeit durch deine Gedanken prescht. Wo ist Alfred? Warum ist er nicht hier? Ist alles okay bei ihm? War er beim Arzt? Hat er mit seiner Familie gesprochen? Was ist passiert?
 

Wenn du nur wüsstest, was passiert ist...!
 

„Wenn ich einen Marzipan Creamy Kakao nehme, können wir dann kurz reden? Also natürlich nur, wenn du gerade einen Moment Zeit hast. Ich weiß ja, du bist hier bei der Arbeit und hast sicher viel zu tun...“, schlägt dir schüchtern geräusperte Höflichkeit entgegen.
 

Du musst schwer schlucken, ehe du ein heiseres „Ja, klar, gar kein Problem“ heraus manövrierst. Dein Gast lächelt, so ähnlich wie Alfred lächeln kann. Die Form der Lippen ist identisch, aber die individuelle Ausprägung eine andere.
 

Warum steht Alfreds Bruder hier und möchte mir dir sprechen?
 

So schnell wie irgend möglich bereitest du ihm die Spezialität der Saison mit Marzipanstückchen und Mandelsirup zu. Dann schiebst du ihm die Tasse rüber und er scheint nicht zu wissen, ob er stehen bleiben oder Platz nehmen soll.
 

„Setzen wir uns doch“, schlägst du deswegen vor und verweist auf den Tisch hinten rechts. Der Tisch, an dem du so oft mit Alfred gesessen hast. Deine Beine fühlen sich merkwürdig weich an, regelrecht knochenlos, als du zum Tisch rübergehst und die fremden Schritte hinter dir hörst. All die Fragen sind dir aus dem Kopf den Hals hinunter geflossen und haben dort einen steinharten Knoten gebildet. Du kannst schlecht atmen und bist froh, als du endlich sitzt. Deine Finger sind eiskalt, gleichzeitig schwitzt du wie verrückt.
 

„Ich bin Matthew. Ich bin wegen meinem Bruder hier: Alfred.“
 

Du nickst stumm und er fährt langsam fort.
 

„Es ist so... er weiß nicht, dass ich hier bin.“ Als sei es ein Verbrechen, macht sich Matthew in seinem Mantel klein. Seine Stimme ist leise und wird um ein Haar vom Radio verschluckt. Vor ihm schmelzt die dicke Schicht Sahne auf dem Kakao. Die mit einer Schablone und Kakaopulver auf die Sahnehaube gestäubte Schneeflocke beginnt ihre Konturen zu verlieren.
 

„Geht es ihm nicht gut?“, hörst du dich hohl fragen. Als Matthews Blick betroffen in seine Tasse stürzt, wird dir speiübel.
 

Die beiden sind sich rein äußerlich verblüffend ähnlich, aber ihre Ausstrahlung macht komplett andere Menschen aus ihnen. Dabei könnte man ihre Gesichter wohl problemlos ineinander fügen. Trotzdem beschleicht dich in keiner Sekunde der Verdacht, mit Alfred zu sprechen. Matthew hat eine stille, aber sehr gefestigte Persönlichkeit. Nicht übereifrig, nicht verloren. Seine Stimme ist fein und dünner als Alfreds. Doch Matthew weiß, was er sagen möchte, selbst wenn es ihm schwer zu fallen scheint, die Worte auszusprechen.
 

„Er ist im Moment die meiste Zeit Zuhause und...“ Er schüttelt leicht den Kopf und sucht einen neuen Ansatzpunkt.  „Letzte Woche hat er mich gefragt, ob ich ihn zu einem Termin begleiten würde. Als ich gefragt hab, was für ein Termin, sagte er, ein Arzttermin...“
 

An einer Seite der Tasse rinnt geschmolzene Sahne herab. Du kriegst keinen Ton raus, sondern wartest lediglich auf weitere Ausführungen.
 

„Weißt du, Alfred war schon immer etwas aufgekratzt. Naja, manchmal auch etwas mehr, aber seit letztem Jahr hab ich so ein ganz komisches Gefühl bekommen. So ein Gefühl, dass er irgendwie anders geworden ist. Ich mein, er hat mir plötzlich nachts um halb vier die Decke weggezogen und wollte mit mir spontan vor der Schule picknicken gehen, obwohl es in Strömen regnete und all solche Geschichten. Ich hab gedacht, er ist übergeschnappt...“ Matthews Auflachen ist kurz, heiser und hat einen schuldbewussten Charakter. Seine Schultern scheinen sich unter dem dicken Mantel noch weiter nach vorn zu neigen. Die Worte kommen holprig, wie bei einem Geständnis.

„Er hat damals tagelang kaum geschlafen und wenn er nicht Zuhause irgendwelche komischen Sachen abgezogen hat, war er unterwegs und hat sonst was gemacht. Ich weiß nicht, wo er sich rumgetrieben hat. Einmal kam er sogar verprügelt nach Hause und als ich ihm helfen wollte, ist er komplett ausgetickt. Er ist nicht mal in die Schule gegangen in der Zeit! Ich wusste nicht, ob ich es unseren Eltern sagen soll, weil...Alfred ist doch mein Zwillingsbruder und da haut man sich nicht gegenseitig in die Pfanne. Aber ich hatte irgendwann einfach die Nase voll von ihm und seinem unmöglichen Verhalten...“
 

Wieder ist da das entschuldigende Lachen, was sich in Form eines traurigen Lächelns auf Matthews Gesicht manifestiert. Zwillinge sind sie also. Kein Wunder, dass die Ähnlichkeit so frappierend ist...
 

„Früher hatte Alfred auch immer viele Freunde, viel mehr als ich. Er war echt beliebt, aber das hat sich irgendwie geändert im Laufe des letzten Schuljahres. Als er plötzlich so merkwürdig drauf war und wegen allem sofort ausgeflippt ist. Das hat keiner ausgehalten. Das war, als würde er sich gar keine Gedanken darüber machen, was er eigentlich sagt oder tut. Wenn er Zuhause so war, haben unsere Eltern ihm immer gesagt, er soll sich mal am Riemen reißen und sich nicht so aufspielen, und er soll sich auf die Hinterbeine stellen, damit er das Schuljahr noch schafft.“
 

Matthews Aufmerksamkeit wechselt unregelmäßig zwischen dir und seiner Tasse. Jetzt greift er langsam zu dem silbernen Serviettenständer, zupft eine Serviette hinaus und hebt seine Tasse ein Stückchen an, um die Serviette hinunter zu schieben. Ihm ist nicht entgangen, dass die Sahne davonläuft. In dir keimt der Verdacht auf, dass er nicht vorhat, seinen Kakao jemals zu trinken. Stattdessen seufzt er lautlos und betroffen:

„Er ist irgendwann auch wieder ruhiger und normaler geworden. Aber dann ging plötzlich gar nichts mehr...“
 

„Als hätte man den Stecker gezogen...“
 

„Ja, genau. Er hat kaum mehr was gemacht, außer zu schlafen oder den ganzen Tag im Internet zu surfen. Er ist nicht mehr rausgegangen und ihn hat irgendwie so gar nichts mehr interessiert. Nicht mal Kino oder Videospiele. Und nachts, da hab ich ihn oft gehört, wenn er... Er war so traurig. Das-das hat mir Angst gemacht.“ Als werde Matthew sich plötzlich der Tragweite seines letzten Satzes bewusst, schlingt er alle zehn Finger um seine Tasse und nimmt nun doch einen langen Schluck. Die Angst soll gehen. Du kannst das verstehen. Du hast auch Angst um Alfred...
 

„Du warst hier mit ihm, als es ihm vor einigen Wochen so schlecht ging.“ Du erinnerst dich, als sei es gestern gewesen. Die beiden, kakaotrinkend am Tisch beim Fenster. Alfred, der nicht einen Blick für dich oder seine Umwelt übrig hatte. Der wie eine Marionette an Fäden dem Gespräch mit seinem Zwilling beiwohnte. Ein hässlicher Anblick, ein toter Anblick...
 

„Ja, ich kann’s nicht ertragen, wenn er kaum spricht und sich im Zimmer verkriecht und so. Ich weiß ja, dass er nicht mehr so viele Leute hat, mit denen er noch weggehen kann. Er geht meistens alleine. Eigentlich immer, wenn ich nicht dabei bin.“
 

Das flaue Gefühl in deinem Bauch schwappt gefährlich hoch und stößt gegen den strammen Knoten in deinem Hals. Alfred hat seinen Bruder und er hat dich – das war’s also. Die restlichen Freunde hat er vergrault.
 

Deine Füße pressen sich hart auf den Boden und versuchen Halt zu finden. Es ist nicht gut. Nichts an all dem ist gut. Selbst wenn du andere Menschen verstehen kannst: niemand hält diese Wechselhaftigkeit aus – erst recht nicht, wenn Alfred ungehobelt ist. Du magst dir nicht vorstellen, was sein Bruder schon alles ertragen musste. Im Gegensatz zu dir war er garantiert schon unzählige Male das „Opfer“ von Alfreds Gereiztheit...
 

Trotzdem sitzt ihr beide jetzt hier und du spürst, dass Matthew seinen Alfred genau so wenig aufzugeben bereit ist wie du. Er kann ihn nicht im Stich lassen. Er konnte es nie. Er liebt ihn, trotz aller Schwierigkeiten. Gestern, heute, morgen.
 

„Sorry, du wunderst dich bestimmt, warum ich dir das alles erzähle.“ Matthew lockert seinen Schal und legt ihn schließlich in seinen Schoß. Die Nervosität ist ihm in Form einer weitläufigen Röte zu Kopfe gestiegen, macht ihn fahrig und hebt seine Stimme.

„Es ist nur so, ich weiß, dass ihr euch kennt und als er mich wegen des Termins gefragt hat, da..da war ich wirklich erleichtert. Weil ich eben immer dieses merkwürdige Gefühl hatte, das was mit ihm nicht stimmt. Aber ich wusste nie, was oder wie ich mit ihm darüber reden soll. Jedenfalls hat er gesagt, dass ihn jemand drum gebeten hat, zum Arzt zu gehen. Ich wusste, dass du das gewesen sein musst. Er hat dich so oft erwähnt und ich hab dich ja dann auch mal gesehen. Aber...“ Matthew bricht abrupt ab und schluckt so laut, dass du es durch den ganzen Raum schallen hörst.

„Er will dich nicht wieder sehen...“
 

Schlagartig entgleisen dir sämtliche Gesichtszüge und entblößen all deine Sympathie, all deine Gefühle und all deine Betroffenheit. Du kannst und willst nicht begreifen, was du da gerade gehört hast: Alfred will dich nicht wiedersehen.
 

Alfred will dich nicht wiedersehen!
 

„A-aber..wieso..?“, bricht es fassungslos aus dir heraus. Die Silben sind so fragil, sie zersplittern an der Luft. Scharfes Glaspulver weht dir in die Augen.
 

Matthew scheint deine Verzweiflung zu reflektieren. Plötzlich ist er aufgeregt.

„Das sagt er zumindest im Moment. Weißt du, er-er schämt sich. Ich glaub, das ist alles. Er meint es nicht so! Bestimmt nicht!“ Die Worte sollen retten. Sollen deinen Kummer aus diesem tiefen Loch ziehen, in das du emotional gestürzt bist und aus dem du dich gerade nicht selbst zu befreien fähig bist.
 

„Bitte versuch das zu verstehen, ja? Es ist alles echt nicht leicht für ihn und ich denke, dass seine Entscheidung falsch ist. Deswegen bin ich doch überhaupt her gekommen...“ Etwas in seinen Augen leuchtet, während er weiterhin besänftigend klingt.
 

Du hingegen beißt dir so fest auf die Lippe, dass du Eisen schmeckst und mit höchster Anstrengung gegen das Brennen in deinen Augen anblinzelst. Von der schweren Wahrheit bist du wie paralysiert und hast keinerlei Einfluss darauf, was deine Hülle tut.
 

Alfred will dich nicht. Er hat es Matthew gesagt. Was soll das dann alles hier noch?
 

Du winkst ab und willst aufstehen, doch so weit kommst du nicht. Matthew packt dich mit seiner feinen Stimme dort, wo es am meisten weh tut: direkt im Herzen.

„Der Arzt, wo wir waren, hat ihn nach dem Gespräch sofort weiterverwiesen. Zu einem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Da musste er aber mit unseren Eltern hin und... Glaub mir, die letzten Tage bei uns Zuhause waren schrecklich. Ich war nicht dabei, als Alfred den Termin bei dem Psychiater hatte. Unsere Eltern sind mit ihm da gewesen, nachdem sie vorher ewig lang von ihm wissen wollten, warum er so eine Show abzieht und wie er dazu kommt, da einen Termin zu vereinbaren. Er war drauf und dran den Termin wieder abzusagen. Ich war’s dann, der unseren Eltern gesagt hat, sie sollen ihn zumindest ein Mal mit dem Arzt sprechen lassen...“
 

Weil Alfred sich nicht durchsetzen konnte? Weil er zu viel Angst hatte, für sich selber einzustehen und von den Gefühlen zu berichten, die sein Leben steuern?

Du kannst dir lebhaft vorstellen, dass Matthew keiner dieser Menschen ist, die sich in die Streitereien dritter einmischen. Doch in diesem Fall schien er es bitter für nötig gehalten zu haben und das sagt mehr als genug über die Ausmaße der Situation aus...
 

„Was ist dann passiert?“
 

„Sie sind mit ihm hingefahren. Als sie nach Hause kamen, waren sie alle sehr..still...“ Matthews Blick ist plötzlich nach innen gekehrt. Ganz so als betrachte er eine ferne Erinnerung, die er für sich behalten möchte und an sich drückt wie ein verängstigtes Kind seinen Teddy.

„Manchmal, da wünscht man sich einfach, man hätte Unrecht“, flüstert er dann und du schweigst voller Verständnis. Unter deinen Wangen pulsiert Hitze, schnell und durchschlagend wie harte Bässe, die an deinen Herzschlag gekoppelt sind und dich unterschwellig zittern lassen.
 

Es macht den Anschein, als habe Matthew die randvolle Tasse umgestoßen und aus ihr sei eine riesige Lache Schweigen geflossen. Die Stille breitet sich zwischen euch aus und lässt das Radio verstummen. Du hörst nichts und du siehst nichts, abgesehen von deinem Herzzucken und deinem niedergeschlagenen Gast.
 

Den Kakao ein Stück gen Tischmitte schiebend, nestelt Matthew an seinem Schal herum. Seine Worte fallen hinab in den Stoff.

„Alfred muss jetzt täglich so eine Art Stimmungsprotokoll führen und Tabletten einnehmen und er hat regelmäßige Termine bei dem Psychiater bekommen. Man will aber keine voreiligen Schlüsse ziehen. Wir müssen wohl alle erst mal weiter abwarten, was sich in den nächsten Wochen, na ja, eigentlich eher Monaten ergibt...“
 

Ob Matthew auch Angst um sich selber hat? Dir kommt erstmalig in den Sinn, dass er als Alfreds Zwillingsbruder ja die gleichen Gene und somit auch die gleiche Disposition in sich trägt. Allerdings vermittelt dir dein Gegenüber nicht den Eindruck, als würde es all zu viele Gedanken daran verschwenden. Oder es ist verdammt gut darin, dies zu kaschieren.

Du kommst nicht dazu, die Sache weiter zu durchdenken. Matthews Augen wenden sich wieder deinem Gesicht zu, sind tief und warm und spiegeln zugleich eine schwer definierbare Erschöpfung wider. Ja, die letzten Tage müssen mehr als anstrengend gewesen sein. Du siehst es jetzt ganz deutlich...
 

„Ich wollte, dass du das weißt und verstehst – und dich nicht wunderst, warum er nicht mehr vorbei kommt. Das schafft er im Moment einfach nicht. Er ist ziemlich down. Aber, wie gesagt, ich glaube sehr wohl, dass er dich wiedersehen will... Hast du nächsten Sonntag schon was vor?“
 

„Nächsten Sonntag?“, wiederholst du, von all den Informationen in einen tranceartigen Zustand versetzt.
 

„Ja, da werden die besten Projektarbeiten aus seinem Physikkurs ausgestellt, im Rahmen des Schulfestes.“
 

„Hat Alfred gewonnen?!“ Du möchtest die Frage umgehend zurückziehen, als Matthew umständlich die Schultern begradigt.

„Er..er hat nicht teilgenommen. Er hatte keine Gruppe. Ich hätt’s ja mit ihm gemacht, aber er hat dir ja bestimmt erzählt, dass er das letzte Schuljahr wiederholen muss und wir deshalb nicht mehr in einer Klasse sind?!“
 

Nein, das hat er mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt... Aber du verstehst. Er wollte nicht wie ein Idiot wirken. Er will nicht, dass du seine Fehler kennst. Er kommt ja auch nicht von sich aus her, um dir seine aktuelle Lebenslage zu erläutern. Er schämt sich. Es ist genau so, wie Matthew gesagt hat...
 

„Nein, aber...“, du machst eine hilflose Geste, die alles und nichts bedeutet. „Vielleicht ist es auch besser, wenn ich nicht hingeh...“
 

„Ich weiß nicht, ob er noch mal hier her kommen wird...“
 

Deine Augenlider fallen kapitulierend zu... Die Aussage ist eindeutig. Matthew will, dass ihr euch trefft, weil er dir nicht versichern kann, dass ihr euch sonst je wieder begegnet. Wenn du Alfred also sehen möchtest, hast du genau eine Chance...
 

„Wann fängt das Fest an?“
 

„Schon vormittags, aber so wenig wie Alfred momentan weggeht, wird er erst kurz vor Schluss dort sein, wenn kaum noch jemand da ist. Ich denke, so gegen 18:30 Uhr. Er will die Projekte ja sehen, es ist nur sehr..deprimierend für ihn.“
 

Das bedarf keiner weiteren Erläuterung...
 

Die Augen wieder öffnend, guckst du Matthew gerade heraus an und nickst dann erneut. Dein Gesicht, was sich wie von einem Muskelkater geplagt anfühlt, zupft deine Mundwinkel in die Höhe. In deinem Kopf herrscht immer noch pures Chaos, das du nicht so mir nichts, dir nichts aufgeräumt bekommst. Dafür wirst du etliche Tage brauchen.
 

„Du kannst dir ja überlegen, ob du hingehst. Ich hab dir für alle Fälle die Adresse unserer Schule aufgeschrieben.“ Als hätte Matthew es eilig, holt er einen kleinen Zettel aus seiner Manteltasche. Das Papier ist in etwa handtellergroß und einmal in der Mitte gefaltet. In einer schnellen Bewegung schiebt er dir den Zettel rüber und steht dann auf.

„Ich muss dann auch mal wieder los. Alfred ist sonst allein Zuhause. Danke für deine Zeit und den Kakao...“
 

Routiniert schlingen seine Hände den Schal um seinen Hals und ziehen ihn so stramm, dass du dich wunderst, ob Matthew überhaupt noch Luft bekommt. Dahingehend scheint er jedoch keine Probleme zu haben. Sein Gesicht strahlt eine Prise Zuversicht aus und stellt noch immer diese winterliche Röte zur Schau, als er zu dir herabsieht.

„Und danke, dass du mit meinem Bruder gesprochen hast über...du weißt schon.“
 

Du würdest Matthew am liebsten begleiten oder ihn zumindest bitten, seinen Bruder von dir zu grüßen. Allerdings hast du die Befürchtung, es könne zu viel für Alfred sein. Gewiss hat es seine Gründe, dass Matthew hergekommen ist, ohne Alfred davon in Kenntnis zu setzen. Also verabschiedest du dich matt, ohne einen Cookie oder einen Kakao für Alfred fertig zu machen.
 

Vor dir bleibt die mit Sahnespuren versehene Tasse zurück, in der heiße Schokolade, Sahne, Marzipanstücke und Mandelsirup eine hellbraune Brühe gebildet haben. Hier und dort schwimmen noch ein paar Krümel Kakaopulver auf der Oberfläche. Dampf steigt schon seit langem nicht mehr auf. Das Bild wird unscharf, als in deinen Ohren die Melodie von „Here Is Christmas“ Gestalt annimmt, du die Hände hebst und dir Tränen von den Wangen wischst. Die Zeit ist an dir vorbei gelaufen und hat längst den Feierabend eingeläutet, du hast es bloß nicht gemerkt... Du sitzt immer noch hinten rechts am Ecktisch, mit Herzstichen in der Brust und Tränenspuren auf dem Gesicht, obwohl dein letzter Kunde schon vor über einer Viertelstunde gegangen ist.



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