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100 Jahre

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100 Jahre

Die hohen Wellen schlugen gegen den hölzernen Bauch des Flackschiffes. Eine Flotte von zehn Schiffen folgte dem prächtigen Anführer, flankierte es, schützte es, verteidigte es. Majestätisch glitt die Armada der schwarzen Flagge hinterher. Das zerrissene Stück Stoff prangte am Mast des Hauptschiffes, wurde vom Wind verwirbelt und strotzte doch vor Kraft. Einst wurde dieses Kriegsschiff von ihrem gefürchteten Käpten gekarpert, eingenommen und fortan als erstes Schiff verwendet.

Nach nunmehr einhundert Jahren hatte der Urahne des ersten Eroberers das Schiff übernommen, doch wie das Schicksal es so wollte, wurde ihm eine Tochter geboren. Das Glück der Piraten stand auf Messers Schneide und überlegte noch, zu welcher Seite es die Glücklosen stürzen sollte. Hoffnungslosigkeit machte sich breit, denn das Neugeborene war schwach und kränklich.

Als Miranda fünf Jahre alt wurde, tobte eines jener Unwetter, die zwei der Schiffe die Seetauglichkeit kostete und die Kähne sanken wie Steine zum Grund des Meeres. Doch schlimmer als der Verlust der Schiffe war, das die Frau des Kapitäns ebenso den Tod fand.

Nicht nur die sich rasch vermehrenden Stürme erschwerten das Piratenleben, die Seeleute mussten immer öfter mit ansehen, wie die Truppen ihrer Majestät des Königs wehrlose oder gefangene Kameraden abschlachteten. Die Schiffe wurden geentert und egal wie wenige Personen sich an Deck befanden, keine Seele wurde am Leben gelassen. Viele der Freibeuter schlossen sich der Flotte des Schwarzhaarigen mit der Augenklappe an.

In einer finsteren Nacht, als Miranda in ihrer Kabine schlief, war sie es, die das nahende Schiff hörte. Den näherkommenden Trubel, das leise Flüstern und selbst die gedämpften Rufe des befehlshabenden Offiziers. Ruckhaft schreckte sie hoch und stieß sich dabei den Kopf an einer Planke.

Schnell wie der Wind rannte sie über den hölzernen Boden, ignorierte das sanfte Schaukeln und versuchte, ihren Vater so schnell als nur möglich zu erreichen. Die meisten der Männer saßen betrunken an Deck, die Arme auf einem Fass und den Kopf auf dem Holz versunken, andere hatten sich der Länge nach hingelegt und schliefen ihren Rausch in dieser Position aus. Resignierend ließ sie den Blick schweifen. Überall lagen nackte, schwitzende Männerkörper, achtlos wie Lämmer die man zur Schlachtbank führte. Miranda schlug sich die Hand vor die Augen, atmete tief durch und schnappte sich ein Tau zu ihrer Linken. Mit ein wenig Anlauf schwang sich die junge Piratin über die Reeling hinaus, in einem weiten Bogen wieder nach oben und landete mit Samtpfoten auf dem Oberdeck.

Ihr Vater hatten das Fernglas noch in der Hand, sein langer Bart hing über das Steuer, genau wie seine Arme. Sein Hut flatterte im Wind, er hatte sich in ein paar Täuen verfangen und wurde nur von einer Frauenhand vor dem Verschwinden gerettet. Miranda setzte ihn sich selbst auf, nahm einen Holzknüppel von der Seite und schlug ihn unsanft gegen den Kopf ihres Vaters.

"Vater! Wir werden angegriffen!", platzte es aufgeregt aus ihr heraus. Doch die Reaktion des Älteren war verhalten bis ignorant. Er wedelte bloß mit der Hand, scheuchte sie regelrecht davon.

"Niemand würde uns angreifen!", doch Miranda wusste es besser. Das fremde Schiff baute sich wie ein schwarzer Schatten am Horizont auf, während ihre Männer allesamt die Zeit vergeudeten. Die junge Frau musste einen Moment nachdenken, ehe sie auf die rettende Idee kam.

Mit allem was sie hatte, wurde Krach gemacht, bis auch die letzte Seele auf den Schiffen wach wurde. Verschlafen rappelte man sich hoch, doch die Zeit war bereits zu weit vorgeschritten. Mittlerweile hatten sich nicht bloß zwei, nein drei Ozeanriesen vor ihnen aufgebaut, hoben sich bedrohlich aus dem Wasser und ihre roten Zungen leckten sich bereits das Maul. Die schwarzen Augen reckten sich ihnen entgegen und mit einem Mal brach heilloses Chaos an Deck aus.

Noch ehe sich die Piraten fertig machen konnten, wurde zum Angriff geblasen. Dicke, runde Kanonenkugeln schossen auf das Flaggschiff zu, noch ehe sich die Flotte mobilisiert hatte. Die Angreifer hatten einen ihrer schwachen Momente erwischt und Miranda konnte nichts mehr daran ändern.

Gerade als die Sonne über den Horizont glitt, wurde das Schlachtfeld in ein rotes Licht gehüllt. Die Piraten schwangen ihre Säbel, während die Soldaten die Gewehre klar machten. In genau diesem Augenblick hatte das Schicksal entschieden, auf welcher Seite der Kapitän vom Messer sprang – auf der dunklen Seite des Abgrunds.

Als die Kapitänstochter das nächste Mal die Augen öffnete, stand ihr eine Feder ins Gesicht und kitzelte die Lebensgeister in sie hinein. "Oho, eine Frau an Bord eines Piratenschiffes. Noch dazu auf diesem! Hübscher Leckerbissen!", eine tiefe, dunkle Stimme rief die junge Frau wieder zur Besinnung. Ihre blutverklebten Augen öffneten sich, wobei ein paar ihrer Wimpern zweifelsfrei herausgerissen wurden, als sie sich nicht aus ihrer Krust lösen wollten.

Die letzten Erinnerungen bestanden aus Rauch, dem Donner von Schüssen und dem Gestank von Schießpulver. Im Sonnenaufgang waren die Männer an ihrer Seite gefallen, waren schreiend ins Meer gesprungen, in der Erwartung, lieber zu ertrinken oder zu erfrieren, als vom König gefangen genommen zu werden. Aussicht auf Rettung hatte es nicht gegeben. Splitternd hatten die Kugeln der Kanonen Löcher in die Rümpfe der Schiffe geschossen, mit jedem Schuss hatte man mehr sehen können, wie die Flotte auseinander brach. Am Ende der Schlacht befand sich keines der Schiffe mehr über dem Meeresspiegel. Ein Schlag von der Wucht eines Grizzlys traf ihre Schläfe und eine wohltuende Ohnmacht umfing ihre müden und geschundenen Knochen.

Der Offizier vor ihr hatte sich in eine hellblaue Uniform gehüllt, seine Matrosen sahen ihm ähnlich, doch war ihr Stoff noch lange nicht so prunkvoll geschmückt. Das schwere Medaillion um Mirandas Hals schien den Blick von einem von ihnen zu fesseln. Man konnte es öffnen und die Gesichter ihrer Eltern kamen zum Vorschein. Nie hatte es jemand anrühren dürfen.

"Wenn du deinen Vater wiedersehen möchtest und ihn vor dem Strick retten willst, solltest du ein kleines Bischen geselliger sein, meine Liebe.", sein Finger fuhr über Mirandas Stirn, ihre schmale Nase hinab und blieb auf ihren erdbeerroten Lippen liegen. Erzürnt biss die junge Frau mit den blonden Locken hinein, ihre meerblauen Augen schlossen sich krampfhaft um ja alle Kraft in den Biss legen zu können. Wütend fing sie sich dafür eine Ohrfeige.

"Lieber sterbe ich!", provokant spukte sie ihrem Gegenüber in sein herablassendes Gesicht. Die Muskeln der jungen Frau spannten sich an, versuchten, die Stricke, mit denen sie geknebelt waren, zu sprengen und sich so zu befreien. Doch es half nichts, hier hatte ein Profi sein Werk verrichtet und das kleine Messer, das sie normal immer unter ihrem Rock trug, hatte man ihr entwendet.

"Das kannst du haben, meine Kleine und damit der Spaß noch größer wird ... darf dir eine ganz besondere Person zusehen!", das breite, selbstgefällige Grinsen des Kapitäns war das Letzte, was Miranda vor ihrer abermaligen Ohnmacht zu Gesicht bekam.

"LAUF!", schrie ihr die selbe tiefe Stimme von hinten in's Ohr, die Miranda auch zuvor gehört hatte. Sie spürte den Wind um ihre Schultern, die das lange, blonde Haar verwirbelte. Sie trug nur ein dünnes Kleidchen, gerade genug Stoff, ihren Körper ein wenig zu verhüllen. Als sie den Kopf leicht drehte, sah sie die gesamte Marine des Schiffes versammelt und ihren Vater an einen Mast gekettet. Er war geknebelt und gefesselt, doch man konnte die Panik in seinen Augen sehen.

Ein Schwert pikte ihr leicht gegen den Rücken. Miranda wusste, sie musste laufen, sonst hätte ihr letztes Stündchen schon jetzt geschlagen. Der Blick in den Abgrund offenbarte Blut, das man zur Belustigung der Haie in's Wasser geworfen hatte und die Bestien so noch wütender gemacht hatte, denn sie waren hungrig wie ein Seemann nach einer langen Reise.

Miranda schloss die Augen, schickte ein letztes Stoßgebet gen Himmel und lief langsam über die Planke, die sich frei über dem Meer befand. Sie ging die letzten Meter, drehte erneut den Kopf und sah flehend zu ihrem Vater.

"Wenn du Gnade erwartest, gib dich mir hin und wir können überlegen, dich als Hure mit in den nächsten Hafen zu nehmen, wo wir dich an den nächsten Sklavenhändler verkaufen.", das bellende Lachen schmerzte in den Ohren der jungen Piratin. Sie biss die Zähne zusammen und sah wieder nach vorn. Doch noch ehe sie einen weiteren Schritt machen konnte, stieß man kurzerhand das Holzbrett von der Reeling und Miranda fiel schreiend in die Meute der Haie.

Tage später kreischten Möven über der königlichen Hafenstadt. Dreiundzwanzig Stricke waren vorbereitet, fünf Henker warteten darauf, die Herren ihrem Ende entgegen zu führen. Die Bürger hatten sich versammelt und waren mit Obst, Gemüse und Mistgabeln bewaffnet. Ein Spalier aus Soldaten säumte den Weg des Kapitäns und seines Gefolges. Die Angst stand in ihrem Gesicht und als die königlichen Fanfaren zum letzten Gruß bließen, begannen die Ersten zu zittern.

Der König richtete ein paar Worte an das versammelte Volk. Er habe nun hiermit die letzten Piraten aus seinen Gewässern vertrieben. Es sei ein Exempel, dass er selbst den stolzesten Pirat aller Zeit gefangen habe und nun dem Galgen entgegen führe.

Das letzte Augenlicht des Vaters richtete sich zur Sonne. Doch es zierte keine Trauer seine Lippen, sondern ein Lächeln. Die Gewissheit, nun mit seiner Familie vereint zu sein. Der Schmerz, als sein Genick berstend brach, war vergessen und auch die Anhänger zu beiden Seiten verblassten zu Staub. Einhundert Jahre waren eine lange Zeit gewesen, es war nicht das Ende, es war der Anfang einer neuen Zeit, auch wenn es nicht länger die Ihre war.

Ein junger Mann mit einem roten Kopftuch und einem bunten Papagei auf seiner Schulter beugte sich über die Reeling seines Bootes, er lange in das kalte Nass und fischte einen schweren goldenen Gegenstand aus dem Wasser. Er tat sich schwer, das verwitterte Kleinod zu öffnen, doch die Personen die sich darin preis gaben, ließen seine Augen strahlen. Das Boot auf dem er saß fuhr zu einem großen Schiff, schwarze Segel wehten im Wind, eine schwarze Flagge, mit Totenkopf hing am Mast und die Männer auf dem Kahn waren die letzten, freien Piraten der Meere an diesem gottverlassenen Kontinent. Doch nun wusste er, er allein, dass all die alten Geschichten großer Helden keine Lüge gewesen waren und er würde diese Erinnerung in Ehren halten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  konohayuki
2013-07-28T16:12:16+00:00 28.07.2013 18:12
Huhu :)

Und dabei war ich mir so sicher, ich hätte schon Kommentare geschrieben o.o Das hole ich jetzt nach, der Kommentar zur OSTA kommt auch gleich noch, versprochen.

Mit Piraten habe ich ja normalerweise nicht so viel am Hut (wie mir jetzt beim Korrekturlesen des Kommentars erst auffällt, was für ein ungewollter Wortwitz das ist...), aber gespannt bin ich trotzdem.

>Die hohen Wellen schlugen gegen den hölzernen Bauch des Flackschiffes.

Kann es sein, dass du das "Flaggschiff" meintest? Die Ausgangssituation ist in jedem Fall sehr gut eingefangen, und auch die 100 Jahre erklären sich - ich hatte ja an unsterbliche Piraten gedacht, da ließ Fluch der Karibik wohl grüßen.

>[...]doch wie das Schicksal es so wollte, wurde ihm eine Tochter geboren.

Frauen auf dem Schiff, rette sich wer kann. Das bringt doch Unglück, zumindest, wenn man den Abergläubischen glaubt. ;)

>Die Angreifer hatten einen ihrer schwachen Momente erwischt und Miranda konnte nichts mehr daran ändern.

Aber zumindest hat sie es versucht, aber wenn die anderen Piraten - und selbst ihr Vater - nicht auf sie hören wollen, kann sie ja auch nicht mehr machen als das, was sie getan hat.

>[...]als sie sich nicht aus ihrer Krust lösen wollten.

Kleiner Tippfehler, die "Krust" müsste eine "Kruste" sein.

>Wenn du deinen Vater wiedersehen möchtest und ihn vor dem Strick retten willst, solltest du ein kleines Bischen geselliger sein, meine Liebe.

Urgh, was für ein Fießling. Da will man doch glatt der armen Miranda helfen.
"Bischen" müsste klein und mit zwei s geschrieben werden.

>Doch nun wusste er, er allein, dass all die alten Geschichten großer Helden keine Lüge gewesen waren und er würde diese Erinnerung in Ehren halten.

Ich muss sagen, das Ende hat mich irgendwie doch etwas verwirrt beim ersten Lesen, ich könnte dir allerdings nicht genau sagen, warum. Vielleicht wäre es sinnvoll, es mit noch einem Absatz vom Rest zu trennen, sodass man merkt, dass man sich in einer anderen Erzählschiene befindet.

Die Geschichte ist traurig, aber gut geschrieben und in sich stimmig und ist eine gute Piratengeschichte, die sehr angenehm zu lesen war. Mir kam das Ende von Miranda ein wenig plötzlich, einfach weil ich sie als Hauptperson gesehen habe, und dann war sie mit einem Mal weg, aber ansonsten hat es mir wirklich sehr gut gefallen.

Liebe Schreibziehergrüße,

kono


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