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Das triste Leben des Jesse Wyatt

von

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Jesses Geheimnis

Jesse kam wenig später mit ein paar Skizzenblöcken und einem Notizbuch zurück und setzte sich wieder neben sie hin. Jedoch schwieg er kurz, um zu überlegen, wie er eigentlich anfangen sollte zu erzählen. Immerhin war das, was er ihr gleich sagen würde, ziemlich schwer zu begreifen und vor allem schwer zu glauben! Aber dann hatte er wohl einen passenden Anfang gefunden und fragte direkt „Erinnerst du dich an den Tag, als ich dir die Tasche geklaut habe?“ „Na klar doch.“ Wieder eine kurze Pause und Charity sah, dass er mit sich rang, ihr die Wahrheit zu sagen. Sie ahnte, dass es etwas mit dem Zeitungsartikel zu tun hatte, der sie so aus der Bahn geworfen hatte. Aus diesem Artikel hatte sie erfahren, dass die Männer, die sie nach dem Weg gefragt hatten, sehr gefährliche Menschenhändler waren, die junge Mädchen entführten und dann ins Ausland an Bordelle verkauften. Hatte es damit zu tun? Natürlich hatte es das, sonst würde er sie doch nicht ausgerechnet darauf ansprechen! „Hast du gewusst, wer die Männer waren, die mich angesprochen haben?“

„Nein, ich kannte sie nicht und wusste auch nicht, wer sie waren. Aber ich wusste, was mit dir passieren würde. Sie hätten dich in den Wagen gezerrt und verschleppt und dann nach Mexiko gebracht. Dort hättest du keine zwei Monate überlebt und wärst dort elendig gestorben, ohne Hoffnung auf Rettung.“

„Und woher wusstest du das, wenn du nicht einmal gewusst hast, wer die Männer waren?“ Jesse nahm einen seiner Skizzenblöcke und zeigte ihr eine Zeichnung. Diese hatte Charity schon mal in seinem Zimmer gesehen, als sie bei seinem Onkel waren, nachdem ihr Rosenkranz kaputt gegangen war. Es waren diese seltsamen Bilder mit dem Kutscher, der jedes Mal eine andere Person zeigte und so unheimlich grinste. Sie hatte eine Person gesehen, die ihr sehr ähnlich war, aber sie war sich nicht sicher gewesen, ob das wirklich sie darstellen sollte, oder ob es sich um einen Zufall handelte. Aber nun begann sie zu ahnen, dass das wirklich sie war. „Ich sehe manchmal Dinge in meinen Träumen. Sachen, die dann wirklich passieren. Manchmal träume ich von einem Kutscher mit schwarzen Pferden, deren Anzahl immer anders ist, aber sie ist nie ungerade. Ich habe irgendwann den Kutscher Mr. Deadman genannt, ich weiß auch nicht wieso. Er ist nicht wirklich böse oder feindselig. Aber freundlich und hilfsbereit ist er auch nicht. Mr. Deadman ist eher neutral und steht auf keiner Seite und er scheint nur deshalb aufzutauchen, um mir die Personen in der Kutsche zu zeigen. Er bleibt immer mit seiner Kutsche vor mir stehen, zeigt mir die Personen, die in der Kutsche sitzen und nennt mir ihre Namen. Es sind Menschen, die dann bald sterben werden.“ Charity starrte fassungslos ins Leere und wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Hatte sie da gerade etwa richtig gehört? Er hatte geträumt, dass sie bald sterben würde? Jesse blätterte weiter zur letzten Zeichnung und sie sah mit Schrecken, dass es ihre Großmutter war. „Diese Träume mit dem Kutscher treten nicht oft auf. Während meiner Zeit auf der Straße hatte ich sie eigentlich nie und ich ging davon aus, dass diese Träume immer dann auftreten, wenn ich Kontakt zu Menschen habe. Mr. Deadman zeigt mir die Personen, die bald sterben werden, allerdings nennt er mir niemals die Details, sondern verschwindet dann einfach. Einzelheiten erfahre ich meistens in anderen Träumen.“ Damit legte er den Skizzenblock beiseite und nahm den nächsten. Diese zeigten ganz andere Kulissen. Eine davon war eine große Höhle mit einer Zahl von Stalagmiten. Es war dunkel und beleuchtet wurde diese finstere Höhle durch eine Art See oder Fluss, über welchem ein kleines Boot trieb. Der Fährmann trug eine Kutte, jedoch konnte man aufgrund der Kapuze nicht das Gesicht sehen. Dieses Bild sah irgendwie merkwürdig aus und wirkte auf sie, als würde es aus einem Traum oder einem Fantasyfilm stammen. Jesse blätterte aber noch eine Seite zurück und zeigte eine riesige weiße Wüste mit Bäumen, die wie Skeletthände aussahen, die in den Himmel ragten und eine Art Berg war in der Ferne zu sehen. Die Sonne schien hell und war ebenfalls weiß. Am Fuße des Berges standen Menschen, die wie lebende Tote aussahen. Manche von ihnen waren halbwegs normal, andere wiederum waren in einem schlimmen Zustand. „In diesen Träumen durchwandere ich diese Wüste und gehe immer geradeaus in Richtung des Berges. Es ist weder heiß noch kalt, sondern einfach nur trocken und totenstill. Ich gehe dann immer auf die Menschenmenge zu, aber niemand macht auch nur den Versuch, mich aufzuhalten. Sie lassen mich einfach durch und wenn ich in der Höhle bin, ist auch der Eingang verschwunden, sodass ich nicht mehr zurück kann.“ Nun zeigte er wieder die Höhle. „In der Höhle ist es warm und trocken, deshalb habe ich mich im Nachhinein auch gefragt, wie es denn zu den Stalagmiten kommen konnte. Denn Stalaktiten gab es keine und es war auch gar nicht feucht in der Höhle. Der Fluss, vielleicht ist es aber auch ein See… ist die einzige Lichtquelle. In diesem Gewässer befinden sich Schlangen mit leuchtenden Schuppen und wenn ich das Ufer erreiche, taucht der Fährmann auf, um mich auf die andere Seite zu bringen. Er steuert das Boot nur, aber es bewegt sich von selbst. Der Fährmann ist anders als der Kutscher. Er versucht mich zu schützen und mich davon abzuhalten, das Wasser zu berühren weil er weiß, dass dann etwas Schlimmes passiert. Wenn er mich auf die andere Seite gebracht hat, führt er mich noch ein Stück weit und dann falle ich in eine dunkle Tiefe. Und wenn das passiert, sehe ich Bilder von Dingen, die passieren werden. Sie sind aber allesamt positiv, also alles schöne Erlebnisse in der Zukunft. Aber wenn ich nicht auf den Fährmann höre und das Wasser berühre, stürze ich aus dem Boot und entweder ertrinke ich, oder ich gerate in einen anderen Traum.“ Nun blätterte er weiter und zeigte Charity eine wunderschöne Kulisse, die aussah, wie aus einem Märchen. Es zeigte einen blauen Himmel, die schneeweißen Ruinen einer alten Kirche und alles war voller Blumen in leuchtenden Farben. Auf der Spitze des Glockenturms saß ein Mädchen mit kurzem blondem Haar und weißen Flügeln, sodass sie wie ein Engel aussah. Doch Jesses Gesichtsausdruck verriet, dass es nicht so war, wie es den Anschein hatte. „Diesen Engel, den du siehst, habe ich Sariel genannt, nach dem biblischen Todesengel. Sie ist nicht wirklich ein Engel, sondern eher ein Dämon in Engelsgestalt. Wie ein Wolf im Schafspelz also. Wenn sie in Erscheinung tritt, greift sie mich mit einem Schwert oder mit einem Speer an und tötet mich damit. Und im Augenblick meines Todes sehe ich alle schlimmen Dinge, die passieren werden. So auch, dass du von diesen Männern entführt werden solltest, oder dass deine Großmutter in den Fluss stürzt. Und auch, dass du an dem Abend, als du spazieren gehen wolltest, schlimm gestürzt wärst und dir das Bein gebrochen hättest.“ Eine Pause trat ein und Charity musste das alles erst einmal sacken lassen, was sie da hörte. Sie hatte zwar mit einigem gerechnet, aber nicht damit, dass Jesse in seinem Träumen gesehen hatte, was ihr und ihrer Großmutter passieren würde. Und es fiel ihr auch erst schwer, das wirklich zu glauben. Aber wenn sie so darüber nachdachte, passte das irgendwie zusammen, so verrückt das auch klang. Die Männer im Van, der Vorfall am Innenhafen und die Schuhe, die sie nicht mehr gefunden hatte. Jesse hatte gewusst, was passieren würde und dann dementsprechend reagiert, um sie zu beschützen. Und so langsam verstand sie auch diesen heftigen Streit zwischen ihm und seinem Onkel. Der hatte ihm doch vorgeworfen, dass er wegen ihm Geld beim Pferderennen verloren hatte. Konnte es sein, dass Jesse auch solche Dinge sehen konnte? „Du… du kannst also in deinen Träumen sehen, was in der Zukunft passiert?“ Er schien sich nicht ganz sicher zu sein, wie er antworten sollte und sah wohl, dass Charity ein wenig überfragt war. Aber schließlich erklärte er „Im Grunde kommt jeder Mensch mit dieser Gabe zur Welt. Bei vielen zeigt sie sich nie, aber andere sind hin und wieder in der Lage, Dinge zu träumen, die dann auch eintreten. Diese Fähigkeit liegt irgendwo in unserem Unterbewusstsein und wir sind auch in der Lage, sie im Wachzustand einzusetzen. Vielleicht hast du ja schon mal die Situation gehabt, dass du etwas ganz Bestimmtes getan hast, weil du das Gefühl hattest, es wäre wichtig. Nenne es Intuition, Vorahnung oder Bauchgefühl. Manchmal tritt es wirklich ein, in vielen Fällen aber nicht und wenn doch, dann nennt man es Zufall. Aber bei mir ist es anders. All die Dinge, die ich in meinen Träumen sehe oder als Vorahnung wahrnehme, treten immer ein. Einige Menschen nennen so etwas auch das zweite Gesicht. Fakt ist, dass jeder Mensch mit diesem so genannten „siebten Sinn“ geboren wird. Du hast es also auch.“ Bei diesen Worten musste sich die Studentin an dieses Erlebnis erinnern, als sie sieben Jahre alt war. Der Abend vor dem Unfalltod ihrer Eltern. Sie hatte geträumt gehabt, dass ihre Eltern nicht nach Hause kommen würden, weil etwas Schlimmes passiert war und danach war sie so aufgelöst gewesen, dass sie sie angerufen hatte. Ja, sie hatte mit ihrer Mutter telefoniert, die sie dann tröstete und versprach, mit ihr nach ihrer Rückkehr in den Zoo zu gehen. Es war das letzte Mal gewesen, dass Charity ihre Stimme gehört hatte. Was wenn es wirklich stimmte und sie auch diese Gabe besaß und deshalb geahnt hatte, was passieren würde? „Dann… dann war es also kein zufälliger Traum vom Tod meiner Eltern gewesen, kurz bevor sie mit dem Auto verunglückten?“

„Wahrscheinlich nicht“, erklärte er und legte den Skizzenblock beiseite. „Kinder sind besonders empfänglich für derlei Träume, weil ihr Unterbewusstsein anders funktioniert als das von Erwachsenen. Im Laufe der Jahre tritt diese Fähigkeit im Traumzustand immer seltener auf, dafür wird aber der „siebte Sinn“ weiter geschärft. Aber aus irgendeinem Grund ist sie bei mir ganz anders ausgeprägt. Schon seit ich denken kann, träume ich Dinge, die dann wirklich eingetroffen sind. Aber es waren meist ganz harmlose Sachen. Zum Beispiel was ich zu Weihnachten geschenkt bekam, was es zum Mittagessen geben würde, oder wohin der eine oder andere Ausflug gehen würde. Als ich aber dann zehn Jahre alt war, hatte ich dann einen Traum, der zum ersten Mal wirklich schlimm war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was ich geträumt habe, allerdings weiß ich noch, dass ich schlafwandelte und mit einem roten Stift überall an der Wand „Beschützt die Zwillinge“ geschrieben habe. Eine Woche lang hatte ich diesen einen Traum und habe diese Worte geschrieben oder gesagt. Manchmal habe ich im Schlaf geschrieen und geweint und war danach völlig aufgelöst gewesen, weil ich in meinem Traum so viele Menschen sterben sah. Das war eine Woche vor dem elften September.“

Nun wich alles Blut aus Charitys Kopf, als ihr klar wurde, was das bedeutete. „Meinst du damit etwa den elften September?“ Jesse nickte. „Weder meine Familie noch ich haben verstanden, was diese Worte zu bedeuten hatten, bis es dann passierte und wir erfuhren, dass Terroristen zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme gesteuert hatten. Ich war völlig durcheinander und verstand das alles nicht. Ich weiß nur, dass ich, als ich die Bilder sah, furchtbar geweint hatte und mein Vater sagte daraufhin, es sei nicht meine Schuld und ich könne nichts dafür, was passiert ist. Aber dann hatte ich einen weiteren Traum und in dem hat mein Vater uns verlassen. Ich wollte diese Träume nicht mehr sehen. Sie jagten mir furchtbare Angst ein und ich versuchte, mich dagegen zu wehren. Doch letzten Endes konnte ich nicht verhindern, dass mein Vater abgehauen ist und uns einfach so zurückgelassen hat, ohne sich zu verabschieden.“ Erneut machte er eine Pause, um sich auch selbst zu sammeln. So langsam bekam die ganze Sache eine ganz Perspektive und als Charity an seine Worte zurückdachte, als er sagte, dass er für den Tod seines Bruders verantwortlich war, wusste sie schon, was hinter dieser Aussage steckte. Und dieser Gedanke tat ihr im Herzen weh. „Du hast auch im Traum gesehen, dass dein Bruder sterben wird, nicht wahr?“ Keine Reaktion, nicht mal ein Nicken. Aber sie konnte an seinen Augen erkennen, dass sie Recht hatte und sie wusste es auch. Doch dann senkte er den Blick und sagte „Es ist alles meine Schuld. Meine Träume sind der Grund, warum Luca mit gerade mal fünf Jahren sterben musste und wieso Dad damals abgehauen ist. Hätte ich diese Träume nicht, dann hätten diese ganzen Vorfälle nicht passieren müssen und dann wäre meine Mutter auch nicht durchgedreht. Meine Träume bringen nur Unglück und durch sie geraten auch Menschen in Gefahr.“ Es war das erste Mal, dass so etwas wie Schmerz in seiner Stimme zu hören war und auch wenn sein Gesicht regungslos und leicht düster aussah, zeugten seine Augen von unendlichem Kummer, den er selbst nicht wahrnahm. Aber nun verstand Charity endlich alles. Auch den Grund, warum Jesse von seiner Pflegefamilie weggelaufen war, wieso er lieber auf der Straße lebte und warum er sie unbedingt loszuwerden versuchte. Er dachte, dass seine Träume Schuld an dem ganzen Unglück wären, welches ihm und anderen Menschen widerfahren war. All das machte er allein sich selbst zum Vorwurf und glaubte, dass allein seinetwegen so viele schlimme Dinge passieren mussten. „Aber… das ist doch nicht wahr…“, brachte sie hervor und kämpfte erneut mit den Tränen. „Wer… wer sagt denn, dass deine Träume für die Dinge verantwortlich sind, die passieren? Das ist… das ist…“ Sie konnte nicht mehr weiterreden, denn ihre Kehle war wie zugeschnürt und wegen der vielen Tränen konnte sie nicht mal mehr richtig sehen. „Jesse, so etwas darfst du niemals denken, hörst du? Du bist doch nicht schuld daran, dass das passiert ist. Wärst du nicht gewesen, dann wären Oma und ich nicht mehr am Leben und das haben wir alles dir zu verdanken. Deine Träume sind keine Gefahr für andere. Im Gegenteil, sie sind ein Geschenk, damit du Menschen retten kannst.“

„Aber wie kann ich mir sicher sein, dass es nicht doch so ist und ihr meinetwegen fast gestorben seid?“

„Weil es einfach nicht so ist, okay? Träume sind Träume und sie haben keinen direkten Einfluss auf die Realität. Als ich diesen Traum hatte und meine Eltern kurz darauf starben, da hat mir meine Oma gesagt, dass dieser Traum ein Geschenk war, damit ich wenigstens die Chance bekam, meine Eltern noch ein allerletztes Mal zu sprechen. Und ich glaube fest daran, dass deine Träume nicht gefährlich und auch nicht für das Unglück von Menschen verantwortlich sind. Wenn du diese Träume nicht gehabt hättest, dann… dann wären Oma und ich jetzt nicht mehr hier.“ Sie sah keinerlei Reaktion bei Jesse und so konnte sie auch nicht sagen, ob ihre Worte wirklich etwas bei ihm bewirkt hatten. Jesse konnte sich nicht wirklich freuen oder seine Trauer ausdrücken, deshalb wusste sie auch nicht, wie es in ihm drin gerade aussah. Aber dann geschah etwas, womit sie nicht gerechnet hätte: Er lächelte, wenn auch er es etwas zögernd und unsicher machte, aber ihn so zu sehen, ließ ihr Herz höher schlagen. Ja es schlug ihr bis zum Hals und sie spürte, wie ihr ganz heiß im Gesicht wurde. Großer Gott, jetzt wurde sie auch noch ganz rot. Und als er ihr auch noch sagte „Danke, Charity“, da war es um sie geschehen. Sie konnte selbst nicht anders als zu lächeln und mit einem Male war all der Kummer und Schmerz fort, den sie zuvor verspürt hatte. „Jetzt hast du mich zum ersten Mal bei meinem Namen genannt… Hey sag mal, möchtest du mir vielleicht gleich beim Backen helfen? Ich wollte nämlich ein paar Cupcakes für die Nachbarn backen, weil die nämlich morgen ihre Silberhochzeit feiern. Und zu zweit wird es sicherlich noch viel schöner.“ Nun wich das Lächeln und Jesse sah sie fragend an. Sie ahnte, wieso er sie so anschaute. „Hast du noch nie Cupcakes gemacht?“

„Backen musste ich noch nie, deshalb habe ich auch keine Ahnung davon.“

„Wow, da habe ich wohl doch etwas gefunden, was du noch nicht kannst. Dann komm mal mit, ich zeig es dir.“ Damit erhoben sie sich beide und verließen das Zimmer. Charity war wirklich froh, dass sie Jesse ein bisschen aufbauen konnte. Ob sein Lächeln wirklich so von Herzen kam, wagte sie aufgrund dessen, was sie von ihm erfahren hatte, zu bezweifeln. Aber ihr zuliebe wollte er wenigstens versuchen, Gefühle zu zeigen und sie aufzumuntern. Sie war sich sicher, dass sie gemeinsam eine Möglichkeit finden konnten, ihm zu helfen. Natürlich konnte sie ihm nicht diese Fähigkeit nehmen und ihm damit auch diese Todesträume ersparen, aber vielleicht fand sich ja ein Weg, wie er besser damit umgehen konnte.

Sie gingen in die Küche und sogleich begann Charity ihm Anweisungen zu geben, welche Küchengeräte sie brauchten und was sie für Zutaten benötigten. In dieser etwas gelockerten Atmosphäre konnten sie auch deutlich besser über Jesses Fähigkeiten sprechen. Dabei merkte sie auch sofort, dass bei ihm auch langsam diese innere Anspannung fiel. „Eines musst du mir aber doch verraten: Als du dir das Geld von mir geliehen hast und ins Casino gegangen bist, da hast du doch auch deinen siebten Sinn eingesetzt, oder?“ Schon an seiner Körpersprache sah man, dass er über diesen Teil überhaupt nicht gerne redete und sie konnte sich schon denken wieso. „Ja, aber ich mache das nicht gerne. Menschen nehmen an Glücksspielen teil, um entweder den Zufall, oder aber ihr eigenes System entscheiden zu lassen. Weil ich aber mit meinem siebten Sinn jedes Mal richtig liege, ist das in meinen Augen nicht anders als Betrug an anderen. Und ich will weder ein Dieb, noch ein Betrüger oder ein Schmarotzer sein.“

„Und außerdem befürchtest du, dass man hinter deine Fähigkeiten kommen und sie für persönliche Zwecke ausnutzen würde, nicht wahr?“

„Natürlich. Es ist verlockend zu wissen, dass man jedes Mal beim Lotto oder Pferderennen gewinnen kann, ohne dabei Geld zu verlieren. Die Menschen denken natürlich zuallererst daran, dass sie von jetzt auf gleich Millionäre werden könnten. Dann werden die ehrlichsten Menschen zu charakterlosen Snobs, die auf andere herabsehen und nie genug bekommen können. Sie wissen den Wert des Geldes überhaupt nicht zu schätzen, während andere Menschen gezwungen sind, sogar ihren Körper zu verkaufen, um irgendwie am Leben zu bleiben. Fakt ist, jeder Mensch hat diese habgierige Veranlagung und etwas anderes zu behaupten, ist eine Lüge. Und da ich niemals so sein will, setze ich diese Fähigkeiten auch nur dann zu diesem Zweck ein, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Mein Onkel hat von meinen Fähigkeiten gewusst und sie zu seinem Vorteil ausgenutzt, um sich selbst zu bereichern. Ich hab sein Spiel nur deshalb mitgespielt, weil ich nicht wieder zurück auf den Strich wollte, das hab ich auch Marco versprochen.“

„Marco?“

„Erinnerst du dich an den hünenhaften Rocker, mit dem du zusammengestoßen bist?“

„Sag bloß, das war dein Komplize!“

„Ich hab ihn im Knast kennen gelernt. Nein, ich war nicht selbst dort, ich hatte ihn in einen meiner Todesträume gesehen und wollte ihn warnen. Marco Stevens war vorher Mitglied einer kriminellen Rockergang und hat als Geldeintreiber fungiert. Damit meine ich, dass er Schutzgelder erpresste und manchmal auch gewalttätig wurde. Er wurde bei einer Razzia verhaftet und ich hab ihm das Leben gerettet, als ein inhaftiertes Mitglied einer verfeindeten Gang einen Mordanschlag auf ihn plante. Danach hat er sein Leben umgekrempelt und arbeitet inzwischen als Tätowierer und ist nebenbei als Streetworker tätig. So haben wir uns wieder getroffen und er hat mir geholfen, vom Strich wegzukommen. Er hat mir übrigens auch die ganzen Piercings gestochen.“

„Weiß er von deiner Gabe?“

„Ja und er hilft mir auch, wenn ich, wie in deinem Falle, eingreifen muss. Während ich dich von den Männern weggelockt habe, hat er die Polizei verständigt und aufgepasst, dass diese Kerle keine weiteren Mädchen verschleppen.“ Der Gedanke, dass all dies kein Zufall gewesen, sondern geplant war, erschreckte Charity ein wenig und sie kam sich vor wie in einer Art Truman-Show. Dieser Zusammenstoß mit dem Rocker war wahrscheinlich kein Zufall gewesen und die Person, mit der er am Handy telefoniert hatte, war sicher Jesse gewesen, mit dem er sich abgesprochen hatte. Er hatte dann Stellung bezogen, während sich Jesse bereit gemacht hatte, ihr im richtigen Moment die Handtasche zu entreißen, damit ihre Entführung verhindert werden konnte. „Ich glaube, ich kann dir wohl nicht genug danken für das, was du für mich und Oma getan hast. Und keine Sorge: Ich werde niemandem etwas von deiner Gabe sagen, wenn du es nicht willst. Nicht einmal Oma!“

„Danke für dein Verständnis. Aber die Hauptsache ist, dass ihr gesund und am leben seid. Also, dann zeig mir, was ich tun soll.“ Charity holte ihr Rezept heraus und las sich erst einmal selbst durch, was zu tun war. Sie wollte etwas Besonderes ausprobieren, da ihre Nachbarn leidenschaftliche Japan-Fans waren. Deshalb hatte sie ein Rezept ausgesucht, wo mit Matcha, einer besonderen Grünteesorte, gearbeitet wurde. Dadurch bekamen die Cupcakes eine hübsche giftgrüne Farbe und ein besonderes Aroma. Jesse tat alles, was sie ihm auftrug und er stellte sich gar nicht mal so ungeschickt an, wie sie zunächst befürchtet hatte. Tatsächlich lernte er unglaublich schnell und das alleine durchs Beobachten. Da sie so gut vorankamen, machte Charity noch ein paar Strawberry Cupcakes und erzählte dabei von ihrem großen Traum, nämlich einer eigenen Konditorei. „Ich bin für gewöhnlich etwas schusselig, aber wenn ich eines gut kann, dann ist es das Backen. Außerdem arbeite ich gerne mit Menschen und deshalb will ich irgendwann mal eine eigene Konditorei eröffnen, wo ich das machen kann, was ich am liebsten tue. Hast du irgendwelche Pläne für die Zukunft?“ Hier schwieg Jesse und musste wieder nachdenken. Hatte er Pläne oder Ziele? Bevor er Charity getroffen hatte, war er in dem Glauben gewesen, dass ein früher Tod durch Alkohol bedingt sein Ende sein würde und er hatte sich auch nichts anderes gewünscht, als dass sein Leid endlich beendet wurde. Aber nun schien das alles vorbei zu sein. Charity glaubte ihm, dass er einen besonderen siebten Sinn hatte und sie fragte ihn auch nicht aus, wie man dank seiner Gabe an Geld kommen konnte. Als wäre sie gar nicht daran interessiert. Nun, mit Sicherheit spielte sie hin und wieder mit dem Gedanken, denn er kannte die Menschen zu gut und wusste, dass Geld einen so hohen Stellenwert hatte, dass man dafür wirklich alles zu tun bereit war. Immerhin war er auf dem Strich gewesen, weil er Geld brauchte, um zu überleben. Wahrscheinlich wäre er noch länger dort geblieben, hätte Marco ihn da nicht rausgeholt. Die Erinnerungen daran, was er während dieser Zeit erlebt hatte, lösten bei ihm jedes Mal Übelkeit und Magenkrämpfe aus. Das schlimmste Erlebnis war mit einem „Kunden“ gewesen, der sich schließlich als sein eigener Klassenlehrer entpuppt hatte. Dieser war einer von der ganz üblen Sorte gewesen und noch nie in seinem Leben hatte Jesse einen derart widerlichen Menschen kennen gelernt. Sogar sein Onkel war bei weitem nicht so schlimm gewesen, denn dieser Kerl hatte ihn nicht nur gefesselt und fast bewusstlos geprügelt, sondern ihm schließlich sogar noch einen geladenen Revolver in den Mund geschoben. Marco hatte ihn schließlich gefunden und gerettet. Jesse hatte am ganzen Körper Verletzungen und konnte sich fast drei Tage lang kaum bewegen, ohne Schmerzen zu haben. Danach stand für ihn fest, dass er so etwas nie wieder tun würde. Lieber würde er dann auf der Straße verhungern. Und selbst danach, als er zu seinem Onkel kam, wurde es nicht besser. Im Grunde war er nur vom Regen in die Traufe gelandet und wegen diesem fetten raffgierigen Choleriker hatte er die Schule abbrechen müssen und stand jetzt ohne Schulabschluss und Job da. Außerdem war er Alkoholiker und als solcher nicht arbeitsfähig. Was für Perspektiven hatte er dann überhaupt? Er würde doch nirgendwo einen Job bekommen bei der Vorgeschichte. Die Menschen waren oberflächlich und sahen nur, dass er ein versoffener Schulabbrecher ohne abgeschlossene Ausbildung war. So einer wie er hatte einfach keine Zukunft. „Ich habe keine Ziele oder Pläne für die Zukunft, für so etwas hätte ich auch keinerlei Perspektiven.“

„Sag so etwas nicht. Du kannst doch deinen Abschluss nachholen. Denk nicht immer so pessimistisch, für jedes Problem gibt es eine Lösung. Zwar weiß ich nicht, wie ich dir mit deinen Träumen helfen kann, aber zumindest weiß ich, dass es für deine anderen Baustellen Hilfen gibt. Für dein Alkoholproblem gibt es genug Fachkliniken, die dir helfen können und es gibt sicherlich auch psychologische Hilfe für deine emotionale Blockade. Aber dazu musst du auch gewillt sein, an dir zu arbeiten. Du hast so viele Tiefpunkte gehabt und bist immer noch am Leben. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass du es schaffen kannst.“ Während Charity die Cupcakes in den Backofen schob, begann Jesse schon mal die Creme vorzubereiten und ließ sich ihre Worte noch mal durch den Kopf gehen. Es war ein seltsames Gefühl zu hören, dass sie daran glaubte, dass er eine Zukunft hatte. Das hatte noch nie jemand zu ihm gesagt. Weder seine Eltern, noch sonst irgendjemand hatte ihm je das Gefühl gegeben, dass er wirklich ein vernünftiges Leben führen konnte. Nun ja, Marco hatte immer wieder versucht, ihn aufzubauen, aber bei ihm war es nicht dasselbe, denn auch Marco kämpfte selber immer wieder mit seinem Image als verurteilter Verbrecher. Ohne das Tattoostudio hätte er auch keine richtige Perspektive. Und jetzt sagte Charity, die sich nicht ein einziges Mal von seiner Art hatte abschrecken lassen, dass er eine Zukunft hatte, wenn er an sich arbeiten und Hilfe annehmen würde. Wieder spürte er diesen Stich in seiner Brust, der ihm das Atmen schwer fallen ließ und dann verschwamm kurz seine Sicht. Er rieb sich die Augen und bemerkte verwundert, dass seine Augen leicht tränten. Aber obwohl er diesen Stich verspürte, der wohl auch für die leicht tränenden Augen verantwortlich war, fühlte er sich nicht so elend, als würde ihn innerlich eine tonnenschwere Last erdrücken. Nein, zum ersten Mal erschien es ihm so, als würde diese tonnenschwere Last leichter werden. Ob es diesem „Mitgefühl“ zu verdanken war, wie Charity ihm zuvor erklärt hatte? Die ganze Situation war völlig fremd und neu für ihn. Trotz seiner Vorgeschichte und seines Verhaltens hatten Charity und Grace ihn bei sich aufgenommen und wollten ihm helfen. Er hatte ein Zuhause und konnte offen über seine Gabe reden, ohne befürchten zu müssen, dass man ihn ausnutzen könnte. Dafür war dieses Mädchen einfach nicht hinterhältig genug. Vielleicht gab es ja tatsächlich eine Möglichkeit, sein Leben in den Griff zu bekommen und sich eine vernünftige Existenz aufzubauen.
 

Nachdem die Cupcakes fertig waren, teilten sie sich die Arbeit. Während Charity die Matcha-Cupcakes fertig machte, übernahm Jesse die Strawberry Cupcakes. Und obwohl er das zum allerersten Mal machte, sah seine Arbeit wie die eines Profis aus, der nie etwas anderes gemacht hatte. Er hatte sich einfach das Bild angeschaut, auf dem die fertigen Cupcakes abgebildet waren und kopierte es auf fast meisterhafte Art und Weise. Der 22-jährigen Studentin blieb der Mund offen stehen, als sie das sah. „Mensch, du bist ja wirklich ein Naturtalent. Gibt es denn überhaupt etwas, das du nicht kannst?“ Da er wohl eine kleine Spur von Neid bei ihr heraushörte und es fälschlicherweise zuerst als leichte Verärgerung oder Eifersucht interpretierte, antwortete er zögerlich „Es gibt ein paar Dinge, die ich nicht kann.“

„Und die wären?“ Nun wurde sein Gesicht wirklich finster, sodass man schon Angst vor ihm bekommen konnte. Aber in Wahrheit war es ihm bloß peinlich, darüber zu reden „Ich kann nicht schwimmen und zudem habe ich Höhenangst.“ Überrascht hob Charity die Augenbrauen und zugleich war sie sehr verwundert, denn sie erinnerte sich sehr wohl an seine riskante Rettungsaktion am Innenhafen, bei der er selbst in den Fluss gefallen war.

„Aber wenn du nicht schwimmen kannst, wieso bist du dann dieses Risiko eingegangen, als Oma abgerutscht ist? Du hättest ertrinken können.“

Ich wollte einfach nicht für den Tod von Menschen verantwortlich sein.“ Nachdem sie die Cupcakes fertig verziert hatten, wurden diese in den Kühlschrank gestellt und jeder nahm sich noch einen und schließlich setzten sie sich ins Wohnzimmer, um ein wenig fernzusehen. Irgendwann schlief Charity ein, doch Jesse blieb noch eine Weile wach und ließ den Tag noch mal Revue passieren. Dies tat er häufig, wenn besondere Dinge geschehen waren, die irgendetwas in seinem Körper ausgelöst hatten. Nachdem er die schlafende Studentin ins Zimmer getragen hatte, ging er in sein eigenes und betrachtete seine Zeichnungen und las sich seine gesammelten Notizen durch. All die Jahre war er in dem festen Glauben gewesen, dass seine Träume der Ursprung für diese ganzen Tragödien waren. Er hatte gedacht, dass sein Bruder sterben musste, weil er von seinem Tod geträumt hatte. Aber Charity glaubte fest daran, dass es das genaue Gegenteil war, nämlich dass seine Träume dazu da waren, um bevorstehendes Unglück zu verhindern. Sie nannte seine Gabe ein Geschenk, er hatte es immer als einen Fluch angesehen. Immerhin war sein Vater abgehauen, weil er diesen siebten Sinn besaß. Vielleicht hatte er die ganze Zeit tatsächlich viel zu pessimistisch gedacht und sich das alles von seiner Mutter bloß einreden lassen. Aber was ihn wirklich beschäftigte, war er selbst und was Charitys Worte bei ihm ausgelöst hatten. Sein logisches Denken war irgendwie getrübt und ihre Worte schwirrten in seinem Kopf herum und dieses Phänomen ließ sich fast mit einer Art Ohrwurm vergleichen. Und wenn er nachdachte, dann sah er immer sie. Als sie seinetwegen geweint hatte, fühlte er sich selbst schlechter und er konnte es nicht ertragen, sie so unglücklich zu sehen. Aber warum? Wieso bekam er dieses Mädchen nicht aus seinem Kopf? Das Ganze war ihm rätselhaft und für einen Moment überlegte er, ob er diese Symptome nicht im Internet nachschlagen sollte. Aber sofort verwarf er diesen Gedanken wieder, denn das war eine absolut dumme Idee. Nur ein einziges Mal hatte er ähnlich merkwürdige Symptome in die Suchmaschine eingegeben und das Ergebnis war, dass er entweder eine Grippe, oder eine kaputte Zylinderkopfdichtung hatte. Und dabei wusste er mit Sicherheit, dass weder das eine noch das andere zutraf! Das Beste war, er beobachtete das Ganze eine Weile um selbst herauszufinden, was mit ihm nicht stimmte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Anmerkung: Jesses Vorahnung zum elften September ist einem ähnlichen Ereignis nachempfunden worden, das auf wahren Tatsachen basiert! Tatsächlich gab es einen Vorfall an einer High School, an der ein Unbekannter überall mit Graffiti "Denkt an Pearl Harbour" geschrieben hat. Den Täter hat niemand finden können, aber zwei Tage später fand der japanische Überraschungsangriff auf Pearl Harbour statt, von dem nicht einmal die US-Marine etwas wusste. Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  epicbrofist
2014-05-11T18:34:38+00:00 11.05.2014 20:34
Super Kapitel was anderes kann ich nicht sagen und ich freue mich für die beiden na gut so ganz ist ja noch nicht alles geklärt aber die Hoffnung stirbt zuletzt:)


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