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Das triste Leben des Jesse Wyatt

von

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Wiedersehen mit Marco

Charity verstand die Welt nicht mehr und fühlte sich völlig hilflos. Als sie mit ihrer Großmutter vom Arzt zurückkam und bemerkte, dass Jesse gar nicht da war, hatte sie noch zuerst gedacht gehabt, dass er bloß einkaufen gegangen war. Aber nun war es schon Abend und er war immer noch nicht zurück und er ging auch partout nicht an sein Handy ran. Tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf und sie versuchte zu verstehen, warum Jesse nicht mehr zurückkam. War ihm etwas zugestoßen? Lag er vielleicht irgendwo betrunken herum, oder war ihm sogar etwas passiert? Konnte es etwa sein, dass es vielleicht ihre Schuld war, dass er wieder abgehauen war? Womöglich glaubte er ja immer noch, dass sein siebter Sinn der Verursacher dieser Unglücke und Katastrophen war, die er vorhersah und war deshalb abgehauen, weil er sie nicht in Gefahr bringen wollte. Ihre Großmutter hatte Mühe, sie zu beruhigen und erklärte ihr, dass Jesse längst erwachsen sei und deshalb auch seine eigenen Entscheidungen treffen konnte. Und im Übrigen wäre Charity nicht seine Aufpasserin! Das war ihr leider auch keine große Hilfe und als er selbst nach sieben Uhr immer noch nicht zurückgekehrt war und nicht mal auf ihre SMS antwortete, schnappte sie sich ihre Jacke und beschloss, ihn zu suchen. Grace versuchte ihr das sofort wieder auszureden. „Cherry, abends ist es viel zu gefährlich für dich. Weißt du denn nicht, was sich für Individuen auf der Straße herumtreiben? Es wird auch nichts bringen, wenn du dich in Gefahr begibst. Lass es lieber sein und warte lieber. Vielleicht kommt er ja bald wieder zurück und brauchte nur seine Ruhe.“ Aber die Angst um Jesse war einfach zu groß und so zog Charity ihre Laufschuhe an und machte sich auf den Weg. Sie dachte in diesem Moment nicht daran, dass ihre Großmutter Recht hatte und es wirklich gefährlich war, bei Anbruch der Dunkelheit die ganze Stadt zu durchsuchen. Denn in den ganzen Obdachlosenverschlägen gab es auch Betrunkene und Kriminelle, mit denen nicht zu spaßen war. Nicht zu vergessen, dass es noch genügend andere zwielichtige Gestalten gab wie Vergewaltiger und Drogendealer. Aber Charity konnte nur noch an Jesse denken und die Angst um ihn war größer als ihre Vernunft. Also schwang sie sich auf ihr Fahrrad und bat ihre Großmutter, sofort anzurufen, wenn Jesse sich melden sollte oder falls er wieder zurück war. Zuerst steuerte sie die Unterführung an, wo sie Jesse zuvor gefunden hatte und wo er vielleicht wieder war, wenn er sich betrunken hatte. Immerhin war er dort ungestört und somit wäre dieser Ort ideal für ihn. Es donnerte in der Ferne und das war kein gutes Zeichen. Oh bitte nicht auch noch ein Gewitter, dachte sie und trat nun kräftiger in die Pedalen, um schneller zu werden. Schließlich erreichte sie die Unterführung und begann nach Jesse zu rufen. Es kam keine Antwort, also fuhr sie weiter und im schwachen Licht der Neonröhren versuchte sie etwas zu erkennen. „Jesse, bist du da?“ Keine Reaktion, nur ihr eigenes Echo war zu hören. Da sie befürchtete, dass er vielleicht gar nicht mehr in der Lage war zu antworten, suchte sie die ganze Unterführung ab. Aber nirgendwo fand sie eine Spur, dass Jesse hier gewesen sein könnte. Nicht einmal leere Schnapsflaschen lagen herum. Also begann sie in der Stadt nachzusuchen, fragte an der Tankstelle nach und als sie schon in Richtung Park fahren wollte, um dort die Obdachlosenverschläge abzuklappern, begann es zu regnen. Zuerst war es nur ganz schwach, aber dann wurde es zu einem einzigen Platzregen und binnen kürzester Zeit war Charity nass bis auf die Knochen. Das Wasser tropfte ihr von den Haarspitzen, die Kleidung klebte wie eine zweite Haut an ihrem Körper und je länger sie nachsuchte, desto hilfloser fühlte sie sich und die Angst in ihr war unbeschreiblich. Jesse musste etwas passiert sein. Sie spürte tief in ihrem Inneren, dass noch etwas Schlimmes passieren würde, wenn sie ihn nicht schnellstens fand. Was, wenn er auch nie wieder zurückkehren würde, so wie ihre Eltern? Nein, das durfte sie nicht zulassen. So einfach wollte sie ihn nicht gehen lassen und wenn sie jeden Stein in der Stadt einzeln umdrehen musste. Sie schrie sich fast heiser und Tränen vermischten sich mit dem Regen. Nachdem sie fast zwei Stunden gesucht hatte, blieb sie stehen und wählte noch einmal Jesses Nummer. Doch anstatt, dass er ranging, meldete sich wie immer nur die Mailbox. Und auch als sie zuhause anrief, hatte ihre Großmutter keine guten Nachrichten für sie. Er war immer noch nicht zurück und so langsam beschlich Charity das Gefühl, dass sie Jesse vielleicht nie wieder sehen würde und davor hatte sie entsetzliche Angst. Sie wollte ihn nicht verlieren, sie wollte, dass er bei ihr blieb und seine Lebensfreude wieder fand. Warum nur musste das passieren und wieso kam er denn nicht wieder zurück? Da der Regen zu stark war und sie bei der Fahrt kaum etwas sehen konnte, stieg sie schließlich ab und ging zu Fuß weiter. Sie erreichte schließlich den Bahnhof und beschloss, dort als nächstes nachzusuchen. Von Jenna hatte sie bei ihrem Gespräch erfahren, dass Jesse dort schon mal betrunken gelegen hatte und vielleicht hatte sie ja Glück und fand ihn dort. Die Polizei konnte sie ja auch nicht verständigen, die würde erst nach 48 Stunden aktiv werden, wenn überhaupt! Da Jesse erwachsen war und er schon des Öfteren in der Vergangenheit abgehauen war, würden sie sich nicht die allzu große Mühe machen. Außerdem war sie weder eine nahe Verwandte, noch seine Freundin. Streng genommen war er nur ein Mitbewohner und das würde auch nicht sonderlich helfen. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als selbst nach ihm zu suchen. Sie stellte ihr Fahrrad schließlich ab, wischte sich die tropfnassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und begann nun vor dem Bahnhof nachzusuchen. Einige Leute starrten sie mit einem leicht herablassenden Blick an, aber das war ihr in dem Moment völlig egal. Sie sah sich überall um und rief weiterhin nach Jesse, aber sie sah ihn nirgendwo. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als herumzufragen in der Hoffnung, dass irgendjemand den Verschwundenen gesehen haben und ihr Informationen geben konnte. Doch die vorbeigehenden Passanten konnten ihr leider nicht weiterhelfen und hatten es größtenteils selbst eilig. Aber dann sah sie eine Gruppe Bier trinkender junger Männer etwas abseits stehen und eilte zu ihnen hin. Dass es vielleicht nicht gerade eine gute Idee sein könnte, kam ihr in dem Moment nicht in den Sinn. Sie dachte einfach nicht darüber nach und gleich schon als die Gruppe sie mit einem interessierten Blick beäugte, hätten eigentlich ihre Alarmglocken klingeln müssen. „Entschuldigung!“ rief Charity und eilte zu ihnen. „Hat einer von euch einen jungen Mann mit rotbraunem Haar und Piercings im Gesicht gesehen? Er ist knapp 1,80m groß und 23 Jahre alt. Sein Name ist Jesse Wyatt.“ Blicke wurden in der Runde ausgetauscht und ein kräftiger, braun gebrannter Junge mit einem hässlichen Nasenpiercing, der offenbar der Anführer war, kam direkt auf sie zu. Er trug genauso wie die anderen eine zerschlissene Lederjacke und hatte rotschwarz gefärbte Haare. Dieser baute sich vor ihr auf, verschränkte die Arme und musterte sie erst einmal, wobei sein Blick an ihrem durchnässten Shirt haften blieb. „Bist du eine Freundin von Jesse?“ „Ja, ich mach mir Sorgen um ihn. Wisst ihr vielleicht, wo er ist? Ich hab schon die ganze Stadt nach ihm abgesucht.“

„Na klar weiß ich, wo Jesse ist. Wenn du willst, kann ich dich zu ihm bringen. Er ist gleich da hinten.“ Erleichtert atmete Charity durch und ihr fiel ein Stein vom Herzen als sie hörte, dass Jesse doch nicht verschwunden war. Offenbar hatte Jesse ein paar Bekannte getroffen und war wahrscheinlich wieder betrunken, weshalb er nicht auf ihre Anrufe reagiert hatte. Oder vielleicht hatte er ja sein Handy auch nur verloren. „Danke, vielen Dank! Ich heiße übrigens Charity.“

„Yo Charity, ich bin Donny. Sollen wir dich eben zu Jesse bringen?“ Ohne groß zu überlegen, antwortete sie sofort mit „ja“ und folgte Donny, während die anderen drei sie begleiteten. Zuerst ging Charity davon aus, dass sich Jesse vielleicht irgendwo in den Wartehäuschen an den Gleisen aufhielt oder vielleicht irgendwo, wo es trocken war, aber als sie bemerkte, dass Donny sie stattdessen vom Bahnhof wegführte und sie eine abgelegene Ecke ansteuerten, begann ihr langsam zu dämmern, dass es vielleicht doch keine so kluge Idee gewesen war, ihnen einfach so zu folgen. Langsam wurde sie ein wenig nervös und als sie sich kurz zur Seite umsah, bemerkte sie auch, dass die drei anderen immer mehr zurückgefallen waren und nun hinter ihr liefen. Etwas verunsichert wandte sie sich schließlich an Donny. „Ist Jesse ein Freund von euch?“ Das breite Grinsen des Typen gefiel ihr überhaupt nicht und noch weniger seine Antwort. „Na klar doch. Wir sind echt dicke Kumpels. Er hat auch schon so einiges über dich erzählt.“ Charity blieb stehen, als sie das hörte. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht. Dieser Donny log doch! Sie wusste genau, dass Jesse den Kontakt zu anderen Menschen mied, aus Angst davor, dass er sie mit seinen Fähigkeiten in Gefahr bringen könnte. „Du lügst“, sagte sie und wollte gerade einen Schritt zurückgehen, doch da merkte sie, dass sie eingekreist wurde. „Jesse hat keine Freunde.“ „Tja“, sagte Donny und drehte sich nun zu ihr um. Und sein Blick jagte ihr Angst ein. „Und ich kenne diesen Jesse nicht mal. Aber dafür werden wir noch eine Menge Spaß miteinander haben.“ Nun bekam sie wirklich Angst, als sie das hörte. Erst jetzt erkannte sie, in was für eine gefährliche Lage sie sich da gerade reinmanöviert hatte und was diese Kerle eigentlich mit ihr vorhatten. Sie drehte sich um und versuchte wegzulaufen, doch da wurde sie gepackt und an den Armen festgehalten. „Nein, lasst mich! Hört auf!“ schrie sie und versuchte sich loszureißen, aber sie wurde mit unglaublicher Kraft festgehalten. Donny bekam ihr Shirt zu fassen und versuchte es hochzuziehen, doch da rammte die Studentin ihm ihr Knie in seine Magengrube und stieß ihn mit einem Fußtritt von sich. Sogleich kamen aber die beiden anderen, um sie so festzuhalten, dass sie sich nicht mehr wehren konnte. Charity geriet in Panik und schrie um Hilfe. Wenn nicht gleich irgendein Wunder geschah, würden diese widerlichen Kerle sie noch… Oh Gott, bitte nicht. Bitte alles, nur das nicht. Jesse, dachte sie und vor Verzweiflung kamen ihr die Tränen. Bitte komm schnell und hilf mir. Bitte Jesse! Sie hörte das sadistische Gelächter von Donny und seiner Gang, während diese sie mit rabiater Gewalt festhielten. Mit aller Kraft, zu der sie nur fähig war, wehrte sie sich gegen Donnys Versuche, ihr den Gürtel zu öffnen und fragte sich, ob denn nun alles zu spät war und sie nichts und niemand davor bewahren konnte, von diesen Widerlingen vergewaltigt zu werden. Jesse, dachte sie in ihrer Verzweiflung. Warum kommst du denn nicht? Bitte, ich brauche dich… Ein lautes Bellen ertönte plötzlich und eine laute Stimme war zu hören. Sofort wurde Charity losgelassen und fiel zu Boden. Sie sah, wie ein ausgewachsener Pitbull Terrier Donny zu Boden riss und ihn mit gefletschten Zähnen anknurrte. Dieser bekam es bei dieser Bedrohung mit der Angst zu tun und versuchte, mit seinen Armen sein Gesicht zu schützen. Als die anderen drei Donny zu Hilfe eilen wollten, ließ der Terrier ein lautes Bellen ertönen und stürmte auf sie zu, woraufhin diese sicherheitshalber auf Abstand gingen. Sofort sprang der Pitbull auf sie zu und riss einem der Flüchtigen fast die Hosen runter. Die drei liefen feige davon und ließen ihren Anführer zurück. Im selben Moment tauchte aus der Dunkelheit ein großer Schatten auf und eine Hand, die die gefühlte Größe einer Baggerschaufel hatte, packte Donny und riss ihn mit Leichtigkeit von den Füßen. Charity brauchte einen Moment um zu erkennen, dass es der Rocker war, mit dem sie vor einigen Tagen versehentlich zusammengestoßen war, bevor Jesse ihr die Handtasche geklaut hatte. Das war Marco Stevens, Jesses alter Bekannter. Mit einem finsteren Blick hielt er Donny am Kragen gepackt und man hätte in diesem Moment glauben können, dass er dem Jungen gleich den Schädel einschlagen würde. „Wag das noch ein Mal Junge und ich schwöre bei Gott, dass ich dir höchstpersönlich den Arsch aufreißen werde. Lass die Finger von dem Mädchen und geh mir aus den Augen. Lass dich hier nie wieder blicken, hörst du? Wag es auch nur und dann mach ich dir persönlich die Hölle heiß, du kleiner Drecksack!“ Damit schleuderte er ihn weg, woraufhin Donny gegen einen Müllcontainer prallte. Durch das Bellen des Hundes zusätzlich eingeschüchtert, kam er schnell wieder auf die Beine und lief davon. Der Pitbull Terrier jagte ihm noch ein Stück hinterher, bis der Riese ihn wieder zurückpfiff. Charity, die immer noch vor Angst am ganzen Körper zitterte, konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Ausgerechnet Marco war im allerletzten Moment gekommen, um sie zu retten, bevor die ganze Situation eskaliert wäre. Mit Tränen in den Augen sah sie ihren Retter an und fragte mit heiserer Stimme „Marco Stevens?“

„Ja, ich bin ein alter Bekannter von Jesse.“ Er reichte ihr die Hand und half ihr wieder auf die Beine. Da ihre Beine aber wie Gummi waren und sie dementsprechend kaum stehen oder laufen konnte, stützte er sie. Der Hund kam schließlich zu ihr getrottet und wollte sie schon anspringen, da wich sie erschrocken zurück. Sie wusste, dass amerikanische Pitbull Terrier extrem gefährliche Kampfhunde waren und mit ihnen nicht zu spaßen war. Marco bemerkte ihre Angst und rief sofort „Shy, lass das! Aus!“ Und dann wandte er sich wieder der völlig verängstigten Charity zu. „Keine Angst, Shy tut dir schon nichts. Aber hör mal: was hast du dir eigentlich dabei gedacht, so spät noch in so einer Gegend unterwegs zu sein und dann auch noch solche Kerle anzusprechen? Hast du keine Augen im Kopf?“ Sie sagte nichts, sondern senkte nur beschämt den Kopf. Er hatte ja Recht. Eigentlich hätte sie doch selbst sehen müssen, dass diese Kerle keine guten Absichten hatten. Aber sie war so in Sorge um Jesse gewesen, dass sie einfach viel zu naiv und gutgläubig gewesen war, um das zu erkennen. Wenn Marco sie nicht gerettet hätte… kaum auszudenken, was dann passiert wäre. Sie brach in Tränen aus und vergrub schluchzend ihr Gesicht in den Händen. Tröstend legte der Ex-Rocker ihr eine Hand auf die Schulter. „Ist ja zum Glück nichts passiert. Na komm, besser wir gehen, bevor noch was passiert.“ Charity nickte und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Sie begleitete Marco in die nahe gelegene Innenstadt zu seinem Tattoostudio, wo noch Licht brannte. Charity stellte ihr Fahrrad ab und betrat gemeinsam mit ihm das Studio. Sogleich wurden sie von einer rothaarigen, gepiercten und tätowierten Frau von ca. 28 Jahren begrüßt, die sich der Studentin als Chibi vorstellte. Sie war ein wenig zu kurz geraten und sah auf dem ersten Augenblick unheimlich aus, aber sie hatte eine sympathische Ausstrahlung. Als sie aber die durchnässte und verweinte Charity sah, war sie erschrocken und fürchtete zunächst das Schlimmste. „Marco, was ist passiert? Soll ich die Polizei rufen?“

„Nein, nicht nötig. Sei doch so nett und bring ihr ein Handtuch und setz einen Kaffee auf.“

„Klar doch.“ Damit verschwand die Rothaarige und Charity setzte sich erst einmal auf einen der Stühle. Marco setzte sich zu ihr und begann dem Pitbull Terrier den Kopf zu kraulen. „Geht’s wieder?“ fragte er besorgt und wirkte mit einem Male nicht mehr wie ein bedrohlicher Hüne, sondern ganz sanft und freundlich, als wäre er plötzlich ein ganz anderer Mensch. Die 22-jährige nickte und versuchte, sich wieder zu beruhigen und sich von dem Schrecken zu erholen. Wenig später kam Chibi mit einem Handtuch und zwei Tassen Kaffee zurück. Schweigend begann sich Charity die Haare zu trocknen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Es war ihr furchtbar peinlich was geschehen war und dass es noch viel schlimmer hätte werden können, nur weil sie mal wieder zu blauäugig gewesen war und die Gefahr nicht erkannt hatte. Dabei hatte sie doch nur versucht, Jesse zu finden, doch stattdessen war sie selbst in eine gefährliche Situation geraten. Was war sie doch für eine Idiotin. „Danke für vorhin…“, murmelte sie niedergeschlagen und senkte den Blick. Marco gab etwas Milch und Zucker in seinen Kaffee und trank einen Schluck. „Was hast du dir überhaupt bei dieser Aktion gedacht, hm? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das für junge Mädchen und Frauen wie dich ist?“ „Ich hab nicht nachgedacht. Ich war wegen Jesse so besorgt, weil er nicht zurückgekommen ist und da dachte ich, es könnte ihm etwas passiert sein. Also wollte ich jede Möglichkeit ausschöpfen, um ihn zu finden.“ Die Terrierhündin kam nun auf Charity zu und schaute sie mit ihren großen Augen an, wobei sie den Kopf ein wenig zur Seite neigte. Irgendwie wirkte der Hund gar nicht mehr so aggressiv und gefährlich wie zuvor. Doch sie blieb trotzdem skeptisch. „Hab keine Angst, Shy ist eine ganz Liebe. Jesse hat sie als Welpe gefunden, als ihre Besitzer sie am Straßenrand ausgesetzt hatten. Ich hab sie aufgenommen und gut erzogen. Sie kann zwar ziemlich bedrohlich werden, aber sie hat noch nie jemanden wirklich gebissen. Allerhöchstens verbeißt sie sich in die Kleidung.“

„Aber sind das nicht Kampfhunde?“

„Das schon, aber im Prinzip ist jeder Hund eine potentielle Killermaschine, selbst Labradore, Pudel und diese kleinen Handtaschen-Fiffis. Es kommt auf die Erziehung an, aber das Problem bei Pitbulls ist, dass sie sehr loyal und schon fast ein wenig treudoof sind. Wenn sie in die falsche Richtung erzogen werden, werden sie eben eine Gefahr für andere. In unserer Szene haben wir eben deshalb ausschließlich Pitbulls gehabt und das hat natürlich für den schlechten Ruf gesorgt. Aber Shy ist ganz anders. Sie lässt sich sogar von kleinen Kindern auf der Nase herumtanzen. Du brauchst also keine Angst zu haben.“ Zögerlich streckte Charity eine Hand nach der Hündin aus, die sich brav von ihr streicheln ließ. Trotzdem blieb noch ein klein wenig die Angst, denn als sich Shy auf Donny gestürzt hatte, hatte sie erst danach ausgesehen, als würde sie ihm gleich die Kehle durchbeißen. Aber wahrscheinlich hatte Marco sie wohl so trainiert gehabt, dass sie andere bedrohte, aber nicht durch Beißen angriff. Ansonsten schien die Hündin tatsächlich ganz friedlich zu sein. Nun begann sich aber Charity zu fragen, ob es denn Zufall war, dass Marco ihr im entscheidenden Moment zu Hilfe geeilt war, oder ob sie es vielleicht Jesses siebten Sinn zu verdanken hatte. „Hat Jesse dich gebeten, mir zu helfen?“ Der Ex-Rocker lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände. „So sieht’s aus. Er ist heute Morgen zu mir gekommen und hatte mich gebeten, ein Auge auf dich zu werfen.“ Dann war er also hier gewesen. Wenn er Marco darum gebeten hatte, auf sie aufzupassen, dann war er tatsächlich abgehauen. Doch warum? Wieso nur hatte er ihr keine Nachricht hinterlassen und warum war er denn wieder weggelaufen? Sie verstand das alles nicht und wäre beinahe wieder in Tränen ausgebrochen. „Warum ist er denn verschwunden? Ich verstehe das alles nicht. Habe ich irgendetwas falsch gemacht oder ist er wütend auf mich?“ Sie vergrub wieder das Gesicht in den Händen und schluchzte. Marco tröstete sie und sprach ihr beruhigend zu. „Nein, du hast rein gar nichts falsch gemacht und es hatte auch überhaupt nichts mit dir zu tun. Jesse ist untergetaucht, weil er dich schützen will. Deswegen sollte ich auch ein Auge auf dich haben.“

„Aber warum hat er denn nichts gesagt? Ich hätte ihm doch vielleicht helfen können. Stattdessen such ich wie eine Blöde nach ihm.“

„Glaub mir, es ist ihm auch nicht leicht gefallen. Doch hätte er dir eine Nachricht hinterlassen, hättest du bereits viel früher nach ihm gesucht und das wollte er nicht. Er hat gerade einige Schwierigkeiten und will dich da nicht mit reinziehen. Deshalb musste er das tun.“ Schwierigkeiten? Was denn für Schwierigkeiten? Machte sein Onkel wieder Stress und hatte er deshalb die Flucht ergriffen, weil er in einem seiner Träume gesehen hatte, dass ihr vielleicht etwas zustoßen könnte? „Was hat er denn für Probleme?“ Zuerst überlegte Marco noch, ob er ihr das auch wirklich sagen sollte. So wie er Charity einschätzte, würde ihre Sorge um Jesse nur noch größer werden, aber andererseits verdiente sie auch die Wahrheit. Vielleicht hatte sie ja dann etwas mehr Verständnis für die Situation. „Seine Mutter ist aus dem Gefängnis ausgebrochen. Ich hatte es heute Morgen von ein paar Bekannten aus der Szene erfahren und Jesse hatte es sicher schon vorher in einem seiner Träume gesehen.“ Nun begriff Charity langsam die ganze Situation, die plötzliche Flucht und diese Geheimnistuerei. Aber so wirklich glauben konnte sie es noch nicht. Jesses Mutter war aus dem Gefängnis ausgebrochen? Wie war das denn passiert und was bedeutete das nun? Bevor sie fragen konnte, erzählte er weiter. „Veronica ist seit dem Tod ihres jüngsten Sohnes und dem Verschwinden ihres Mannes total verrückt geworden, anders kann man es nicht sagen. Sie ist unberechenbar und es ist ihr auch zuzutrauen, dass sie nicht nur versuchen wird, Jesse zu töten. Wenn sie erfährt, dass du ein engeres Verhältnis zu ihm hast, dann könnte es gut möglich sein, dass sie auch hinter dir her sein wird.“

„Hinter mir?“ fragte Charity entsetzt. „Wieso sollte sie es auf mich abgesehen haben?“

„Weil sie Jesse nicht das geringste Glück im Leben gönnt. Wie gesagt: Sie ist nicht mehr klar bei Verstand und deshalb ist es zu gefährlich für dich. Jesse ist deshalb untergetaucht, um seine Spuren zu verwischen und für den Fall der Fälle sollte ich da sein, um auf dich und deine Großmutter aufzupassen. Und wie man vorhin gesehen hat, war das auch ganz gut so.“ Fassungslos schüttelte die Studentin den Kopf. Dann war Jesse also nicht weggelaufen, weil er immer noch glaubte, dass seine Gabe eine Gefahr für andere darstellte. Er selbst war die Gefahr, weil seine Mutter wirklich alles tun würde, um ihn zu töten und ihm alles zu nehmen, was er noch hatte. Dafür würde sie auch Unbeteiligte mit hineinziehen und das wollte er verhindern. Und dazu musste er verschwinden. Irgendwie fühlte sie sich schlecht und ihr Magen begann sich zu verkrampfen. Der Gedanke daran, vor der eigenen verrückten Mutter zu flüchten, war wirklich furchtbar. Aber was würde nun passieren? Wie lange würde es denn dauern, bis Veronica Wyatt wieder gefasst und eingesperrt wurde? Und was würde mit Jesse passieren? „Kann die Polizei denn nichts machen? Ich meine, Jesse gehört doch unter Polizeischutz, wenn bekannt ist, dass seine Mutter es auf sein Leben abgesehen hat.“ Doch Marcos Miene verriet, dass die ganze Sache nicht ganz so einfach war, wie sie es sich vorstellte. „Nur weil sie vor zehn Jahren auf Jesse losgegangen ist, besteht nicht gerade Gefahr im Verzug. Und selbst wenn, sie wird nicht als gefährlich genug eingestuft, dass die Polizei den Riesenaufwand machen würde, um Jesse zu beschützen. Das muss er auch gewusst haben, sonst wäre er nicht extra untergetaucht. Die Bullen müssen sich eben an die Vorschriften halten und deshalb sind denen die Hände gebunden. Außerdem hat Jesse keinerlei Vertrauen in die Polizei. Es kann immer wieder passieren, dass Personen unter polizeilichen Schutz dennoch angegriffen und getötet werden. Und er hat selbst schon miterlebt, dass manche von denen nicht gerade eine weiße Weste haben. Sein siebter Sinn ist alle Male zuverlässiger und wenn irgendeine Gefahr bevorsteht, wird er sie bemerken, bevor sie überhaupt da ist.“ Doch wirklich erleichtert war Charity nicht, als sie das hörte. Denn irgendwie gefiel ihr die ganze Sache nicht. Das Ganze kam ihr merkwürdig vor und so fragte sie „Warum ist er denn nicht bei dir, wenn ihr euch so gut versteht?“

„Er wollte das nicht. Stattdessen sollte ich auf dich aufpassen, damit dir nichts passiert.“

„Das klingt für mich irgendwie danach, als würde Jesse wissen, dass er nie wieder zurückkommt…“ Der Tätowierer sah sie mit einem forschenden Blick an und legte die Stirn ein wenig in Falten. „Wie kommst du darauf?“ „Na weil… ich weiß auch nicht genau. Es ist bloß so ein Gefühl. Ich meine, wenn Jesse wirklich weiß, dass seine Mutter ausgebrochen ist, dann wird die Polizei doch nach ihr fahnden. Und dass er komplett von der Bildfläche verschwindet und er dich trotzdem bittet, lieber auf mich aufzupassen, dann kann es doch nur eines bedeuten: Jesses Leben ist in ernster Gefahr und er glaubt, dass er es vielleicht nicht überleben könnte.“ Das klang plausibel, doch Marco blieb skeptisch und meinte „Ich glaube, du steigerst dich vielleicht zu sehr rein. Du hast Angst um ihn, weil du seine Geschichte kennst und ich finde das auch wirklich rührend von dir. Ehrlich gesagt war ich schon sehr erleichtert zu hören, dass Jesse nicht mehr bei diesem Schmierlappen Walter bleiben musste. Auch ist mir aufgefallen, dass er sich zum Positiven verändert hat und das hat er mit Sicherheit dir zu verdanken. Aber du musst auch mal Jesse vertrauen, okay? Er weiß schon, was er tut.“ Marco sagte das so einfach, aber trotzdem fand sie keine Ruhe. Sie hatte große Angst um Jesse und irgendeine Stimme in ihr sagte, dass sie ihn unbedingt finden musste, weil er in großen Schwierigkeiten steckte. Dieses Gefühl konnte sie sich nicht so wirklich erklären. Es war so eine Art Bauchgefühl, als hätte sie so eine Vorahnung. In diesem Moment erinnerte sie sich an Jesses Worte: Jeder Mensch kam mit diesem siebten Sinn zur Welt, nur war er bei jedem unterschiedlich ausgeprägt. Was, wenn sich ihre Vorahnung tatsächlich bewahrheiten könnte und Jesse wirklich etwas zustoßen würde? Dieser Gedanke ließ ihr einfach keine Ruhe und am liebsten wäre sie wieder losgezogen, um weiterzusuchen. Aber nach dem Vorfall am Bahnhof hatte sie auch Angst vor einem weiteren Übergriff. „Tut mir Leid Marco, aber ich kann nicht einfach so nach Hause zurückkehren, als wäre nichts gewesen. Mag sein, dass Jesse durch seinen siebten Sinn im Vorteil sein könnte, aber ich habe diese schlimme Vorahnung, dass ihm etwas passieren könnte.“

„Und was willst du jetzt tun? Willst du etwa wieder die Stadt nach ihm absuchen?“

„Nein, ich gehe zur Polizei. Eigentlich hätte ich das ja auch früher tun können, aber vielleicht sind sie in der Lage, Jesses Handy zu orten. Immerhin ist es ja noch eingeschaltet und womöglich kann ich ihn so finden.“ Der Tätowierer schüttelte den Kopf, als er das hörte und es fiel ihm ein wenig schwer zu verstehen, wieso sie unbedingt nach Jesse suchen und sich selbst in Gefahr bringen musste. „Jetzt komm doch zur Vernunft, Mädchen. Hysterisch zu werden, wird auch nichts bringen. Jesse hat diesen ganzen Aufwand betrieben, damit Veronica nicht auch noch auf dich losgeht. Und ich habe ihm versprochen, dass ich dich beschützen werde.“

„Und wer wird Jesse beschützen, wenn seine Mutter ihn findet? Wenn du dein Versprechen halten willst, dann kannst du mich gerne zur Polizei begleiten und so auf mich aufpassen.“ Marco schüttelte seufzend den Kopf und musste wohl einsehen, dass er Charity nicht so einfach überzeugen konnte, die Füße still zu halten. Aber wenn er so darüber nachdachte, war vielleicht etwas Wahres dran. Was, wenn Jesse tatsächlich gewusst hatte, dass es entweder auf ihn oder auf Charity hinauslief und er deshalb so geheimnisvoll getan hatte? Diese Möglichkeit war nicht ganz auszuschließen, so wie er seinen Lebensretter kannte. Und wenn es wirklich stimmte und Jesse steckte in Schwierigkeiten, dann musste er ihm helfen. Also gab er sich geschlagen. „Okay, ich begleite dich zur Polizei.“ Marco pfiff kurz und schon kam die Pitbull Terrierhündin herbei gelaufen, woraufhin er ihr die Leine anlegte. „Wenn Jesse das Gefühl bekommt, wir sollten das besser sein lassen, wird er sicher eine Nachricht senden.“ Charity war wirklich erleichtert, dass Marco sie nun doch begleiten wollte. Mit ihm an ihrer Seite fühlte sie sich doch gleich viel sicherer, besonders nach der Rettungsaktion am Bahnhof. Als sich Marco erhob, sah Charity eine Pistole an seinem Gürtel, was ihr dann doch ein klein wenig Unbehagen bereitete. Er bemerkte ihren Blick und erklärte „Keine Sorge, ich hab das Ding ganz legal und benutz es für gewöhnlich auch nicht. Aber manchmal ist es schon besser, eine Knarre dabei zu haben, besonders bei so einer Verrückten wie Veronica. Früher war ich mal ganz anders drauf und habe echt viele Leben zerstört. Aber als Jesse als 13-jähriger Knirps zu mir kam und mir mit seiner Warnung das Leben rettete, wurde mir klar, dass Gott mir eine zweite Chance gegeben hat. Und seitdem mach ich so eine Scheiße nicht mehr. Bringt eh auf Dauer nichts, außer Ärger mit den Bullen oder ein paar Löcher und Stichverletzungen bei Bandenkriegen.“ Eine zweite Chance… Marco glaubte also auch daran, dass selbst jemand wie er einen Neuanfang verdient hatte, wenn man seine Fehler bereute und sein Leben ändern wollte. Dank Jesse hatte er der kriminellen Szene den Rücken zugekehrt und sich eine eigene Existenz aufgebaut. Und im Grunde schien Marco ein wirklich netter Kerl zu sein. Jedenfalls fiel es Charity schwer sich vorzustellen, dass er mal ganz anders gewesen war und Leute bedroht, zusammengeschlagen und erpresst hatte. „Danke Marco“, sagte sie schließlich, als sie ihn nach draußen begleitete. „Vielen Dank für alles.“ „Kein großes Ding.“ Als sie draußen waren, rief Charity bei ihrer Großmutter an, die sich schon Sorgen gemacht hatte und sofort fragte, wo sie denn sei. Die Studentin erklärte ihr, dass sie einen guten Bekannten von Jesse getroffen hätte und er sie eben zur Polizei begleite. Dass sie nun nicht ganz so allein war und wenigstens einen Begleiter dabei hatte, beruhigte die Pensionärin ein wenig. Nach einer Weile fragte Marco neugierig „Wie heißt denn deine Großmutter?“ „Grace Witherfield, wieso?“ Der Tätowierer musste lachen, als er das hörte und erklärte „Sie war mal meine Klassenlehrerin an der Grundschule. Eine tolle Dame, hart aber herzlich. Wirklich ein verrückter Zufall, dass du ihre Enkelin bist. Wie klein die Welt doch ist…“ Es war inzwischen wirklich stockfinster geworden, aber wenigstens wehte der Wind nicht mehr so stark. Trotzdem war es ein wenig kühl geworden und in den nassen Klamotten war es auch nicht gerade angenehm. Netterweise hatte Marco ihr eine Jacke geliehen, die ihr zwar viel zu groß war, aber wenigstens musste sie nicht frieren. Es war still geworden und irgendwie herrschte eine seltsame Atmosphäre in der Luft. Obwohl Marco eine Waffe bei sich trug und er außerdem noch seinen Hund dabei hatte, war Charity nervös. Nicht etwa, weil sie sich selbst nicht sicher fühlte. Sie wusste, dass sie bei Marco in den besten Händen war und sie sich auf ihn verlassen konnte. Es war wegen Jesse. Aus irgendeinem Grund hatte sie das Gefühl, dass sie ihn unbedingt finden musste. Vielleicht war es tatsächlich ihr angeborener siebter Sinn und wenn er es war, dann durfte sie jetzt nicht einfach so nach Hause gehen. Ganz egal was Jesse auch wollte, sie würde nicht zulassen, dass ihm etwas passierte! Da er zum Glück sein Handy angeschaltet hatte, konnte sie der Polizei die Lage erklären und ihn dann über das Handy orten lassen. Nun gut, er könnte es auch genauso gut entsorgt haben, aber sie wollte wenigstens diese Möglichkeit noch ausschöpfen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  epicbrofist
2014-05-15T15:58:34+00:00 15.05.2014 17:58
Was soll ich schreiben wieder ein sehr gutes Kapitel und ich freue mich riesig wenn es weiter geht


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