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Dies Irae

Tag der Rache
von

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Embolium: Aegri somnia

“Wenn du lange genug in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."

-Friedrich Nietzsche-
 

Embolium: Aegri somnia

Zwischenspiel: Des kranken Geistes Träume
 

Im Gesicht des Mannes regnet es und in der Hand hält er immer noch die Spritze...
 

Der Mann ist klein, geradezu winzig. Ein weißes Gesicht, ein heller Punkt zwischen dem schwarzen Haar und dem schwarzen Stoff seines Anzugs. Vier Augen wie ein Käfer. Vielleicht ist er ein Käfer. Menschen sind doch nicht so winzig, oder? Nicht so winzig, dass man sie in die Hand nehmen und hochheben kann.
 

Im Gesicht des Mannes regnet es, doch sein Mund lächelt. Sein Mund lächelt noch immer, als der Mann größer wird. Immer größer, bis seine Insektenaugen ganz nahe sind. Immer größer und immer näher, bis er schließlich verschwindet.
 

Der Mund lächelt noch immer, als der Mann ’knack’ zwischen den Zähnen macht.
 

~*~
 

Das Kinderzimmer war leer..
 

... es schien verlassen. Das Fenster war geöffnet und die weißen Tücher wehten zitternd über den Möbeln. Tücher halfen gegen den Staub. Das Kinderzimmer war staubig. Es war lange nicht mehr benutzt worden. Eigentlich war es noch nie benutzt worden. Das Kind hatte es nicht gebraucht.
 

Doch jetzt lag das Kind in der Krippe und blickte ihn an. “Papa“, sagte es und ein Käfer krabbelte aus seinem Mund. “Warum hast du Mama und mich alleingelassen? Warum hast du zugelassen, dass sie uns mitnehmen? Es ist kalt unter der Erde, Papa... so kalt.“
 

“Scht“, sagte Lily und nahm das Kind aus der Krippe. Sie trug immer noch das weißrosa Kleid, welches sie getragen hatte, als sie sie in den Sarg legten. Aber jetzt war das Kleid zerrissen und voller Erde und Lily’s langes Haar hing in verfilzten Zotteln auf ihre bleichen Schultern hinab. “Scht, mein Kleines, Papa braucht uns nicht mehr. Papa hat jetzt eine neue Frau. Und bald auch ein neues Kind.“
 

“Papa hat keine neue Frau“, sagte das Kind und verzog seinen winzigen Mund zu einem bösen Lächeln. “Papa wird nie eine neue Frau haben. Niemalsnie!“
 

Eine winzige verrottete Hand erhob sich von Lily’s Arm und der einzelne Knochen eines abgefaulten Zeigefingers richtete sich auf ihn. “Niemalsnie!“
 

~*~
 

“Mein Sohn, woher hast du diesen Kerzenleuchter?“,
 

fragt der Priester ein weiteres Mal. Seine Stimme klingt ruhig, gönnerhaft, als habe er alle Zeit der Welt.
 

“Gefunden. Hab’ ich doch schon gesagt, gefunden. Ich hab’ nichts gemacht, wirklich nicht.“
 

“Lügner.“ Der Priester nickt dem hässlichen Mann zu und der hässliche Mann hebt die Hand mit der Peitsche.
 

Nur, dass er diesmal nicht auf meinen Rücken zielt. Diesmal zielt er auf mein Gesicht. Verdammt, jetzt wird es ernst.
 

“Der Trotz ist den Drei ein Gräuel und ebenso die Unwahrheit. Gestehe, Kind und bereue, sonst wirst du die ewige Verdammnis erleiden.“
 

Ich muss die Augen schließen, dass ich sie ja nicht verliere...
 

Wenn die Nase bricht, ist das nicht schlimm, sie blutet, aber sie wächst wieder zusammen. Eine Nase kann viel aushalten. Aber nicht die Augen. Eine der ersten Lektionen, die du auf der Straße lernst, ist es, deine Augen zu schützen.
 

Die Peitsche kommt näher, doch der Schlag bleibt aus. Noch.
 

“Ich frage dich zum letzten Mal. Woher hast du diesen Kerzenleuchter?“
 

“Scheiße, ich hab’ ihn nicht gefunden. Ich geb’s ja zu. Ich hab’ ihn gestohlen. Er lag auf einem Wagen. Ein Wagen mit Gütern für die reichen Leute in Mithras. Ich hab’ ihn gesehen und mitgenommen, weil ich dachte, der ist bestimmt was wert. Ich wollte...“
 

“Lügner!“ Ein brennender Schmerz zuckt mitten durch mein Gesicht. Ich sinke vornüber, spüre den harten Steinboden unter den Knien. Einen Moment lang ist alles schummerig, doch die Kälte des Bodens bringt mich wieder zur Besinnung. Warum hat er zugeschlagen?
 

Verdammt, warum hat er zugeschlagen? Er wollte doch bestimmt hören, dass ich das verdammte Scheißteil gestohlen hab’ und ich hab’s gesagt. Jetzt können sie mich einknasten, mich zur Zwangsarbeit schicken, was auch immer. Sie haben doch, was sie wollten. Ein Geständnis. Was wollen sie denn noch?
 

“Sprich die Wahrheit und dir wird vergeben werden.“ Eine Hand packt meine Haare und zieht meinen Kopf wieder nach oben. Doch ich kann nichts sehen. Blut rinnt mir übers Gesicht, rinnt in meine Augen. Er muss mich an der Stirn erwischt haben.
 

“Du hast diesen Leuchter weder gefunden noch gestohlen. Wir wissen das. Und die göttlichen Drei wissen es auch. Also, mein Sohn, woher hast du diesen Leuchter?“
 

Der Schmerz auf dem Rücken ist dumpfer, verschwommener. Ich kann nicht mehr genau fühlen, wohin die Peitsche mich trifft. Ich sehe die stechenden Augen des Priesters umrahmt von meinem eigenen Blut und ich weiß, der hässliche Mann wird nicht aufhören, mich zu schlagen, bis ich ihm die Wahrheit sage.
 

Woher verdammt noch mal, wissen sie, dass ich gelogen habe?
 

Sie können es nicht wissen. Sie können doch keine Gedanken lesen.
 

Oder doch?
 

~*~
 

Niemand darf wissen, wer er wirklich ist...
 

Niemand darf es erfahren. Sie werden ihn töten, wenn sie es erfahren, hörst du? Sie werden versuchen, ihn zu töten. Deswegen darfst du es niemandem verraten, auch nicht den Menschen, denen du glaubst, zu vertrauen. Es muss ein Geheimnis bleiben, verstehst du? Du darfst nicht darüber sprechen. Auch nicht zu ihm. Er würde es jetzt nicht verstehen, ja er würde es nicht einmal glauben.
 

Irgendwann wirst du verstehen, warum er ein ganz besonderer Junge ist. Und er selbst wird es auch verstehen. Er ist die letzte Hoffung für uns alle, die allerletzte Hoffnung für die Menschheit.
 

Aber bis er älter ist, muss dieses Wissen verborgen bleiben. Er wird wie ein ganz normaler Junge sein, solange bis die Erinnerung zurückkehrt und er wieder darauf zugreifen kann. Und was dann geschieht, kann jetzt noch niemand erahnen, aber er wird älter sein und mit seinen Fähigkeiten umgehen können. Er wird darauf vorbereitet sein.
 

Doch damit dies alles so geschieht, muss ich ihn jetzt mitnehmen. Du wartest hier für eine Weile, solange, bis es hell wird, dann kommst du ihn holen. Du darfst uns nicht nachlaufen und du darfst nicht eingreifen, was immer auch geschieht. Gleichgültig was du siehst oder hörst. Vertrau mir! Du musst hier warten, sonst kannst du ihn nicht beschützen. Und beschützen musst du ihn..
 

Du musst ihn beschützen, weil ich nicht mehr da sein werde, um es zu tun.
 

~*~
 

An dem Tag, als sie auf den Friedhof gingen, regnete es wieder.
 

Der Regen war nass und kalt. Er fiel auf ihre Zöpfe, er fiel auf das neue Kleid, das Papa ihr gekauft hatte, er fiel auf die Blumen, die sie auf Mama’s Grab legten.
 

Papa sah müde und traurig aus. Viele fremde Leute kamen und schüttelten seine Hand. Ihr schüttelten sie auch die Hand und manche strichen ihr sogar übers Haar. Sie mochte es nicht, von so vielen fremden Leuten angefasst zu werden. Aber sie wusste, dass sie es ertragen musste. Sie musste tapfer sein. Papa war jetzt ganz alleine. Er hatte nur noch sie.
 

Ein fremder Mann beugte sich zu ihr hinunter. “Weißt du noch, wer ich bin, meine Kleine? Ich war mit deiner Tante Lily verheiratet, der jüngeren Schwester deiner Mama.“
 

Sie erinnerte sich nicht. Dass es eine Tante Lily gegeben hatte, wusste sie aber, denn sie hatte ihr die Puppe mit dem blauen Kleid und den echten Haaren geschenkt. “Die ist von deiner Tante Lily“, hatte Mama immer gesagt, wenn sie die Puppe zu den anderen ans Tischchen setzte und ihr Tee eingoss. Und dann hatte Mama ganz traurig geseufzt.
 

“Deine Mama ist jetzt bei Lily im Himmel.“, sagte der fremde Mann. “Sie sind beide Engel und beschützen uns im Namen der Drei.“
 

~*~
 

Höher und höher schlugen die Flammen.
 

Liebevoll, beinahe zärtlich umspielten sie ihren Thron, die Klinge ihres Schwertes, leckten am Saum ihres langen Gewandes. Einen Moment lang sah es so aus, als stünde die Göttin selbst in Flammen, schön und schrecklich. Ein jeder, der sie anblickte, musste sie lieben… und verzweifeln.
 

Reglos leuchtete ihr strenges Antlitz über dem Inferno, hatte keinen Blick für die Sünder, die qualvoll schreiend zu ihren Füßen krochen, sich in endlosen Höllenqualen wanden.
 

Und keine Gnade. Ein jeder von ihnen hatte die Möglichkeit gehabt, ein gottesfürchtiges Leben zu führen, ein Leben, welches den Drei gerecht wurde. Sie alle hatten diese Möglichkeit verschwendet.
 

Nun war es zu spät.
 

Ein alter Mann streckte seine verkohlte Hand aus dem Feuer. Der betrügerische Händler, der heimlich Kiesel in seinen Mehlsäcken versteckt hatte, um das Gewicht und damit den Preis hochzutreiben. Oh ja, er hatte es verdient, hier zu sein. Ebenso die Frauen, die ihren Körper verkauften. Die Frau war im Ebenbild der Göttinnen geschaffen und als solche hatte sie ein tugendhaftes Leben zu führen und dem Manne, der dem Teufel näher stand als sie, als Vorbild zu dienen. Wer log und betrog, wer stahl, wer falsch’ Zeugnis ablegte, wer die Ehe brach und der Unkeuschheit frönte – sie alle würden brennen.
 

Und die Schlimmste aller Strafen erwartete die Ketzer.
 

Er wusste, dass es sie gab, selbst hier in der heiligen Bastion der Drei, dem letzten Hort der Menschheit, den die Göttinnen für die Gläubigen geschaffen hatten. Ketzer, die heimlich Bücher über die Außenwelt verbreiteten. Ketzer, die behaupteten, die Welt sei nicht vor 850 Jahren von den Drei erschaffen worden, sondern wäre in Wirklichkeit Tausende, ja Millionen von Jahren alt.
 

Ketzer, die nicht den Drei huldigen, sondern falschen Götzen...
 

Das Gesicht eines Jungen tauchte in den Flammen auf. Er mochte zwölf oder dreizehn Jahre sein, ein Kind noch, doch seine Seele war schon von Grund auf verdorben. Sein Körper war gezeichnet. Er trug das Mal der Ketzerei. Schlimmer noch, ein Kind war immer der Beweis, dass es noch andere geben musste. Wo ein Kind war, da war auch ein Nest. Ein Nest musste man ausräuchern, bevor sich die böse Saat ausbreitete und Früchte trug.
 

Auch für diesen Jungen würde es keine Gnade geben.
 

Es würde für niemanden Gnade geben.
 

Die Feuer der Vergeltung würden sie alle verschlingen.
 

Tsuzuku... to be continued



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