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Kleiner Engel

- Die Geschichte einer Rose -
von

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Bedauern

Ich hatte nicht bemerkt, dass ich ohnmächtig geworden war, aber als ich meine Augen wieder öffnete, hatte sich bereits die Nacht über das Land gelegt. Doch der Nebel hatte mich noch immer nicht seinen Griff befreit.

Ich stöhnte, als ich mich versuchte aufzurichten, doch die wenige Kraft, die mir noch geblieben war, reichte einfach nicht aus. Resigniert sank ich zurück gegen den Baum und schloss meine Augen erneut.

Der Duft der Rose lag in der Luft und schien sie voll und ganz auszufüllen. Wie einen kostbaren Schatz drückte ich sie gegen meine Brust. Ich klammerte mich regelrecht daran, wie ein Ertrinkender auf dem weiten Meer an ein rettendes Stück Holz.
 

Ob sie wohl sicher nach Hause gekommen war? Es war gefährlich sich so weit in die Wildnis zu begeben. Weg von den schützenden Mauern der Städte. Das war es, was dieser sinnlose Krieg aus der Welt gemacht hatte: Eine Welt, in der nicht einmal die Kinder gefahrlos spielen konnten.
 

Ich erlaubte mir einen Gedanken an sie. Nur einen kurzen, bevor ich mich nicht mehr an ihr Gesicht erinnern konnte. Meine Verlobte. Sie war einfach so wunderschön. Ihre langen, schwarzen Haare, die samtgrünen Augen und die Haut, weiß wie kostbarsten Marmor. Ihr Lächeln betörte jeden, dem sie es schenkte. Und ich war derjenige, den sie erwählt hatte …

Das kleine Mädchen war meiner Verlobten gar nicht so unähnlich. Wahrscheinlich würde aus ihr auch so eine reizende, liebenswerte und unvergleichlich schöne junge Frau werden, die einen anderen Mann so glücklich machte, wie meine Verlobte mich.
 

Doch das waren bloß weit entfernte Erinnerungen. Ich war gegangen, obwohl sie mich unter Tränen gebeten hatte, zu bleiben. Doch der Ruf des Krieges war auch in unser weit entferntes Dorf gehallt und hatte mich gezwungen meine Liebsten zu verlassen. Ich hatte um die Gefahr gewusst, mich jedoch immer für etwas Besseres gehalten. Leichtherzig hatte ich versprochen, schon sehr bald zurückzukehren.

Und das hatte ich nun davon. Ich saß sterbend irgendwo im Feindesland, wo mich niemand finden würde. Und wenn, würde ich diese Begegnung nicht überleben, da war ich mir sicher.
 

„Seid Ihr noch am Leben?“ Ihre Stimme schreckte mich auf. Erst, als ich die Augen öffnete, bemerkte ich, dass der Tag bereits hereingebrochen war. Der Nebel war noch immer nicht gewichen und legte sich wie eine schwere Glocke über die Wiese. Irgendwo dahinter erkannte ich schwach die Lichtstrahlen der Sonne, die den Nebel seltsam glühen ließen.

Ich drehte meinen Kopf und sah in ihr strahlendes Gesicht. Sie war … Das Mädchen von gestern … Ich nickte schwach und versuchte zu lächeln, was aber eher wie eine Grimasse wirken musste. Sie jedoch quiekte vor Freude.

„Ich habe Euch etwas mitgebracht, seht!“ Sie legte einen kleinen, pinkfarbenen Beutel auf meinen Bauch und öffnete diesen vorsichtig. Eine Scheibe Brot, belegt mit Käse, und dazu einen halben Apfel. Auch an eine kleine Wasserflasche hatte sie gedacht. Freudig strahlte sie mich an. „Das habe ich von meinem Frühstück für Euch aufgehoben, falls ich Euch noch einmal treffen sollte!“ Für einen Moment konnte ich sie nur verdutzt ansehen, doch langsam dämmerte es mir, was sie Kleine dafür für ein Opfer gebracht hatte. Es gab nicht viel zu essen. Viele Menschen verhungerten elendig in diesen Zeiten und dieses Mädchen gab mir ihre Portion…

„Vielen Dank, junge Dame“, lächelte ich, was sie mit einem noch breiten Grinsen quittierte.
 

Mit letzter Kraft griff ich nach dem Brot und begann langsam daran zu kauen. Wie lange hatte ich schon nichts mehr gegessen und getrunken? Ich wusste es nicht mehr. Alles schien so … verschwommen. So, als würden meine Erinnerungen nach und nach verschwinden.

„Wieso seid Ihr wieder hergekommen? Ihr wisst doch, dass es hier draußen gefährlich ist!“, meinte ich zwischen zwei Bissen in den Apfel. Sie zuckte bloß mit den Schultern.

„Ich bin jeden Tag hier. Hier ist es einfach so wunderschön!“ Ich staunte über den Mut der kleinen Blonden. Aber auf der anderen Seite verknotete Sorge meinen Magen.

„Ihr solltet aber trotzdem lieber zuhause bleiben. Lassen euch eure Eltern denn so einfach spazieren gehen?“ Ihr Blick trübte sich ein wenig und ich wusste nur zu genau, was das bedeutete. Ich schluckte den letzten Bissen Obst herunter. Plötzlich schmeckte er alt und gammlig.

„Meine Eltern sind nicht mehr hier. Sie sind jetzt im Himmel! Sie haben ganz tapfer gegen die bösen Menschen gekämpft!“ Wie sie diese Worte sagte … Mit einem Stolz, den sie wahrscheinlich gar nicht verstand. Ein Stolz, der ihr von anderen Menschen eingeredet wurde, wobei es ihr völlig egal gewesen war, warum ihre Eltern gegangen waren. Sie wollte doch nur ihre Familie zurück haben! „Ich wohne jetzt bei meiner Tante! Sie wartet auch noch darauf, dass mein Onkel und ihr Sohn wieder zurückkommen. Sie sind nämlich ganz stark! Sie kommen ganz bestimmt zurück!“
 

Etwas in ihren Worten fraß mich bei lebendigem Leibe auf. So viel Leid, so viel Schmerz. Die Trauer in ihren Augen war nicht zu übersehen. Sie glaubte nicht daran, dass ihre Familie eines Tages zurückkehren würde. Genau wie ihre Eltern war er wahrscheinlich längst tot.

Vielleicht … hatte sogar ich sie getötet. Oder ihre Eltern …
 

Ich wollte schreien, weinen und mich selbst verfluchen. Ich hatte so viele Leben genommen, so viele Familien zerstört. Ich sah ihre Gesichter in dem Moment, in dem sie durch meine Waffe zu Boden gingen. Schreck, Angst, Verzweiflung, Trauer, Verlust. So viele Emotionen blickten mir im Moment ihres Todes entgegen.

Männer und Frauen, die nur ihre Lieben beschützen wollten, doch ich habe ihnen die Heimkehr verwehrt. Ich habe sie getötet, ohne zu wissen wer sie waren oder wen sie liebten.

Ich bedauerte es. Ich bereute jeden Moment, in dem ich zu einer Waffe gegriffen hatte.
 

Ich bedauerte es, dass ich jemals geboren wurde.
 

„Was ist los mit Euch, Herr Soldat? Hat es Euch nicht geschmeckt?“ Ihr Blick war plötzlich voller Sorge. Wie konnte ein kleines Mädchen bloß schon so erwachsen sein? Das war nicht richtig! Das war einfach nicht richtig! Sie sollte spielen und über ihre Wiese toben! Zusammen mit ihren sie liebenden Eltern an ihrer Seite! Welche Rose sie als nächstes pflückte sollte ihre einzige Sorge sein!

„Es tut mir so leid! So wahnsinnig leid! Ich bin auch einer dieser bösen Männer und ich habe so vielen Leuten wehgetan! Es tut mir leid! Bitte verzeiht mir!“ Ich spürte die Tränen in meinen Augen brennen, doch ich hielt sie nicht zurück. So lange habe ich still gelitten, mir nie etwas anmerken lassen, doch nun war mir das alles egal. Vollkommen egal …
 

„Aber, Ihr seid doch gar nicht böse!“ Ihre Worte verdutzten mich. Sie hatte sich neben mich in das Gras gesetzt und sah mich verwundert von der Seite an. „Meine Mama hat immer gesagt, die bösen Männer wären ganz fies und gemein, aber Ihr seid doch gar nicht böse! Ihr seid doch sehr, sehr nett!“ Da war es wieder, dieses strahlende Lächeln, bei dem selbst die Sonne erblasste. Sofort versiegten meine Tränen und eine unbeschreibliche Wärme breitete sich in mir aus. Unglaublich, was dieses Kind für eine Wirkung auf mich hatte!

Aber sie lag falsch. Sie war einfach noch zu jung, um das alles zu verstehen.

„Nein, ich bin nicht nett. Ich bin böse. Ich habe viele Menschen in den Himmel geschickt. So viele …“

„Aber bestimmt nur, weil Ihr auf eure Familie aufgepasst habt, nicht wahr? So wie meine Mama und mein Papa das gemacht haben, richtig?“ Ich dachte kurz über ihre Worte nach. Ich konnte kaum verstehen, warum ich das alles eigentlich tat, und dieses Mädchen war schon so viel klüger, als ich es jemals sein würde.

„Ja, aber … Das ändert nichts, Liebes. Ich habe böse Dinge getan und werde meines Lebens nie wieder froh sein können.“
 

Vollkommen erschüttert sah sie mich an und schüttelte plötzlich energisch den Kopf, sodass ihre blonden Locken wie wild tanzten.

„Nie wieder froh sein? Das geht doch gar nicht! Das ist nicht gut! Wartet es nur ab! Ich bringe euch morgen noch eine viel schönere Rose, als die da“, sie zeigte auf die makellose Pflanze in meiner Hand, „und dann werdet Ihr ganz sicher wieder froh sein!“ Schwungvoll stand sie auf und nahm das kleine pinkfarbene Beutelchen von meiner Brust und stemmte ihre Hände in die Hüften. Vollkommen überzeugt davon, dass sie mich wieder zum Lachen bringen kann.

Tatsächlich musste ich grinsen, als ich sie so dort stehen sah. Wie ein kleines, eingeschnapptes Kind, dem gerade erzählt wurde, es könne etwas nicht tun, weil es noch zu klein war.
 

„Ihr werdet schon sehen!“, sagte sie noch trotzig und verschwand wieder in den Nebel hinein. Das Lächeln wich nicht aus meinem Gesicht.

Morgen würde sie wiederkommen. Ja, morgen würde ich noch schaffen. Ich würde leben und warten. Für sie.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  RhapsodosGenesis
2014-11-27T20:09:33+00:00 27.11.2014 21:09
Oh Gott, wie traurig! Okay, sie war kein magisch-mystischer, koerperlich heilender Engel, aber ein Engel ohne Zweifel! Wie sie dem Mann zum Leben verhilft, wie sie einen Sterbenden laecheln laesst ... das ist so ruehrend.
Und dabei hat sie selbst so eine harte Vergangenheit. Tote Eltern. Verwandte, die nicht zurueckkehren ... Das ist alles so schrecklich - sie ist ja noch ein Kind! Und dass sie dennoch hinter seine Ruestung sieht, dass sie ihm ihr Essen gibt ... Sie ist so lieb. Sie hat ein glueckliches Leben verdient - genauso wieces der Hauptcharakter sagt!
Und auch das Paradoxon mit dem Beschuetzen durch Toeten, mit den Boesen auf der jeweils anderen Seite ... Es geht einem so nahe, dass der Krieg schon war. Schon alles verloren ist. Und nichts mehr abaenderbar - ich hoffe, zumindest der Verlobten geht es gut :(
Und was ich am allermeisten hoffe: Dass der Hauptcharakter ueberlebt! Ja, er hat getoetet - aber er fuehlt Reue fuer etwas, das er vielleicht gar nicht d i r e k t getan hat. Er sieht, was er angsrichtet hat. Er will es aufrichtig ungeschehen machen ... Hoffentlich kann man ihm helfen :(

Die Geschichte ist total tragisch und deprimierend. Und ich bin schon auf die naechste Rose gespannt, die da kommt ...! Hoffentlich wird das eine heilende Rose sein :(

Sehr gut geschriebenes Kapitel! Ich bin beeindruckt - man kennt keine Namen und dennoch sind einem beide Charaktere schon sehr ans Herz gewachsen. Ich hoffe, dass deine Action-Thriller-Horror-Tod-und-Verderben-Seite in dieser Geschichte nicht mehr zuschlaegt! Es ist so schon dramatisch ;.; Dann traue ich mich jetzt ueber das naechste Kapitel! Irgendwie bun ich total beunruhigt! Was wird am naechsten (n i c h t letzten!) Tag bloss passieren ...?

Sehr gut gemacht! Immer weiter so!


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