Türchen 3
"Du musst vorsichtig sein!" Sasuke Uchiha beugte sich langsam vor. Aktuell balancierte er auf der Kante einer kleinen Leiter und versuchte einem 2, 10 Meter hohem die Spitze aufzusetzen. Der goldene Stern aus empfindlichem Glas zitterte gefährlich in seiner Hand, während er sich Millimeter um Millimeter vorschob. Seine Schulter begann zu krampfen.
"Ganz vorsichtig!"
Mit zusammengebissenen Zähnen gab sich der schwarzhaarige Student einen Ruck und stülpte den Aufsatz über die Tannenbaumspitze. Dämlicher, westlicher Brauch. "Wir leben in Japan", sagte Sasuke und versuchte ein schmerzerfülltes Stöhnen zu unterdrücken, während er seinen krampfenden Arm versuchte zu entspannen, "Und wir wohnen in Tokyo. In der größten Stadt des Landes." Seine schwarzen Augen betrachteten unwillig die Person, die ihn angewiesen hatte, den Stern vernünftig aufzusetzen.
"Sasuke, du weißt genau, was deiner Mutter die Familie bedeutet." Stirnrunzelnd sah Sakura Haruno ihren Verlobten an. "Und wenn sie westlich Weihnachten feiern will, dann ist das so." Sasuke ahmte ihren stirnrunzelnden Ausdruck nach und stieg von der Leiter herunter. "Dann ist das so... Ich bin 25 Jahre alt und wohne nicht mehr Zuhause, ich bin eigentlich zu nichts verpflichtet." Der Blick, den Sakura ihm zuwarf, war einer dieser "Das-glaubst-du-doch-selbst-nicht"-Blicke.
Die Schiebetür zum Wohnzimmer wurde aufgeschoben und Itachi Uchiha betrat den Raum. In seinen Armen trug er einen viel zu vollen Karton, der mit Lametta, Christbaumkugeln und Lichterketten vollgestopft war. "Dieser Familie kann man nie entfliehen", murmelte Itachi und klang erschöpft. Itachi war fast 30 und war verheiratet. Er hatte zwei kleine Kinder und lebte in Okinawa, am Meer, also wusste er wovon er sprach, wenn er behauptete, man könne vor den Uchihas nicht weglaufen. "Aber da müssen wir wohl jetzt durch, oder?" Itachi stellte den Karton auf den Esstisch und richtete sich auf. Sein schwarzes Hemd war bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und leicht angestaubt.
Sasuke stand vor diesem Ungetüm von Baum und starrte die Kiste an. Ein Gegenstand mehr in diesem Raum, der ihm überhaupt nicht gefiel. Dieser ganze Dekokram war echt total bescheuert und viel zu kitschig. Zu allem Überfluss stand Mikoto Uchiha auch noch auf total übertriebene Kugeln; Rehe mit Schleifchen, gläserne Kugeln mit Schneeflocken und glitzerne Sternscnüppchen waren nur einige der Highlights.
Zu allem Überfluss fand Sakura diesen ganzen Kram unheimlich toll und Sasuke wusste, dass er deswegen vermutlich auch nicht die nächsten Jahre um das vermaledeite Baumschmücken herum kommen würde. Gegen Tannenbäume hatte er ja gar nichts, aber dieses ganze Glitzer, diese Kugeln, dieses- "Sasuke, welchen Anhänger findest du schöner? Den Hirsch mit der Weihnachtsmütze oder die Elfe mit dem Tutu?" Automatisch fand die Hand des Schwarzhaarigen ihren Weg zu seiner Stirn. Womit hatte er das verdient?
Itachi lehnte sich neben dem Karton auf den Tisch und schüttelte leicht den Kopf. "Ich finde den Hirsch besser", sagte er und lächelte schwach. Sakura hielt den Hirsch triumphierend in die Höhe und ging zu dem Tannenbaum, um ihn an die Zweige zu hängen.
Ganze zweieinhalb Stunden später saß Sakura entspannt im Schneidersitz auf dem Uchihaschen Esstisch während Itachi den Karton zusammenfaltete und Sasuke die Leiter auf eine Schulter hob. Die rosahaarige Lehrerin hatte die letzte Zeit damit verbracht, die beiden Männer minuziös anzuweisen, auf welchen Zweig welche Kugel gehängt werden sollte. Danach wurde soorgfältig jeder Faden Lametta platziert und dann zum Schluss die Lichterkette. Die beiden Uchihas starrten die einzige Frau im Raum missmutig an, während sie von hinten bunt beleuchtet wurden. Abwechselnd blinkten die Lichterketten auf, rot, blau, grün, rot, blau, grün. Wer zum Henker kombinierte die Farben rot, blau und grün und nannte das dann festlich?
"Ich hoffe, ihr seid genauso zufrieden wie ich", verkündete Sakura, immer noch freudestrahlend, während sie vom Tisch hüpfte und gut gelaunt ihre Tasche hinterm Sofa hervorzog. Diesen Moment der Abgelenktheit nutzten die Brüder, um aus dem Wohnzimmer zu verschwinden. Die Rosahaarige hatte hoffentlich nicht wirklich eine Antwort erwartet, denn dann würde sie lediglich den hektisch blinkenden Weihnachtsbaum als Gesprächpartner vorfinden.
Auf dem Weg zum Keller begegneten Sasuke und Itachi einigen ungewöhnlich gut gelaunten Haushaltskräften, die summend und kichernd putzten oder Tabletts trugen. Itachi seufzte. "Jedes Jahr das gleiche", murrte er und wandte den Blick von einer Haushaltskraft ab, die einen grünen Kranz an der Büste von Mozart anbrachte, "Man könnte meinen, jede Frau in diesem Haushalt würde in den Feiertagen ihren Intellekt verlieren." Ausnahmweise war Sasuke völlig der Meinung seines älteren Bruders. "Und nebenbei wird das ganze Haus in ein Wunderland der Dekoration verwandelt", beschwerte er sich und legte seine Stirn in Falten, "Fehlt nur noch, dass jemand auf die Idee kommt uns in-"
"Jungs!" Beide Männer blieben abrupt stehen. Weder der Karton, noch die Leiter boten genug Deckung, um der Aufmerksamkeit der Person zu entkommen. "Wie schön, dass ihr den Baum geschmückt habt!" Mikoto strahlte heller als fünfzig Neon-Lichterketten und... trug etwas, das entfernt an eine Art Weihnachtsfrau erinnerte. "Was trägst du da?", fragte Sasuke verblüfft und vergaß vor Schockiertheit seine schlechte Laune, "Ist das.. Ist das ein Kostüm?" Itachi schien seine Stimme komplett verloren zu haben, denn entgegen seinem kleinen Bruder starrte er schlichtweg die künstliche Zuckerstange im Gürtel seiner Mutter an.
Die dunkelhaarige Frau lächelte. "Ja, ganz richtig! Hier!" Sie hielt jeweils eine Mütze in den Händen. Eine rote Mütze, mit weißem Fellbesatz. "Nein", sagte Sasuke, doch zu seiner Überraschung, nahm Itachi die Mütze entgegen. "Es hat doch keinen Sinn", sagte er resigniert und zog die Mütze auf. "Stellt die Sachen ruhig da ab, das wird schon weggeräumt." Mikoto führte die "Jungs" zurück in das Wohnzimmer und der Anblick, der sich da zeigte, war wirklich unglaublich. Fugaku, der Weinachtsmann, hatte an je einem Arm einen kleinen blonden Rauschgoldengel hängen (Itachis Töchter) und wurde von Sakura beobachtet, die etwas anhatte, dass entfernt an ein rosa Bonbon erinnerte. Auf jeden Fall war ihr "Kleid" (?) mehrlagig und aus schillerndem rosa Tüll, dass sich prima (vielleicht etwas zu gut) mit ihren Haaren ergänzte.
"Papa"-brüllend stürmten die Töchter zu Itachi und schon bald hatte der älteste Uchiha Sprössling die zwei Engelchen an seinen Armen hängen. Er wirkte jedoch nur mäßig erfreut, als er sich mit seinem neuen Balast neben seinem Vater positionierte, der nicht minder hilflos wirkte. Sasuke trottete nur bedingt erfreut auf Sakura zu, die die Arme nach ihm ausstreckte. "Widerstand ist zwecklos", rief sie ihm in einem Singsang-Ton entgegen und er ließ sich höchst widerwillig in den Arm nehmen. Humbug.
Seine Verlobte drückte ihm einen Kuss auf die Wange, während Mikoto dem Fotografen ihr vorbereitetes Konzept für das erste Uchiha Familien-Weihnachts-Fotoshooting erklärte. Sakura verweilte eine Weile lang neben seinem Ohr, ihr rosa Haar kitzelte seine Wange. "Warte erstmal ab, was unter dem Tüll ist", murmelte sie und Sasuke verrenkte sich beinahe den Nacken, um sie überrascht anzusehen. Naja, vielleicht konnte er mit dem Widerstand ja noch ein bisschen warten. Die paar Fotos würden ihn sicherlich nicht umbringen.
Der vollkommen überforderte Fotograf richtete die Linse auf die zusammengestellte Familie und Mikoto schob sich zwischen Fugaku und Sasuke und strahlte in die Kamera. "Und jetzt alle im Chor", dirigierte sie und klatschte ein paarmal in die Hände, "Fröhliche Weihnachten!".