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Corvus et Vulpes

von

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Bangor

Ein heiseres Flüstern ertönte, gefolgt von einem rotgoldenen Funkenschauer.

Remus Lupin fluchte halblaut und wich hastig zurück, als sich etwas Großes, Dunkles an das von Moos und Flechten überwucherte Ufer des kleinen Teichs bewegte und – statt zu erstarren, wie er es eigentlich beabsichtigt hatte – aus dem brackigen Wasser nach ihm schnappte. Das Gemäuer, in dessen Eingeweiden er sich befand, schien unmerklich zu erzittern. Lupin fluchte noch einmal, diesmal allerdings leiser, und strich einen seiner schwarzen Handschuhe glatt. Mit der Spitze des Zauberstabes berührte er einen schmalen, irisierenden Ring aus dunklem Stein, den er am kleinen Finger der linken Hand trug.

Unvermittelt stieg die Temperatur spürbar und aus dem verwahrlosten Tümpel quoll eine dicke, schwefelgelbe Wolke empor, in deren Inneren bereits gefährlich die ersten Blitze zuckten; während er noch mit offenem Mund unschlüssig auf der Stelle verharrte und das unheimliche Gebilde beobachtete, bewegte sich die Wolke allmählich langsam auf ihn zu.

„Was –“

„Vorsicht, Remus, keinen falschen Schritt! Tritt ja nicht auf die Seite, geh auf den selben Steinen zurück!“, hauchte es plötzlich dicht neben seinem Ohr und eine Hand legte sich federleicht von hinten auf seine Schulter. Als er sich mit einem ungläubigen Stirnrunzeln umdrehte und etwas sagen wollte, ergriff Jiang Li einen kleinen Stein und warf ihn kurzerhand dicht neben dem Becken auf den Steinfußboden – der sich als Fortsetzung des Teiches entpuppte, als der Stein mit einem leisen Blubbern versank. Kurz darauf blitzen dunkle Schemen dicht unter der Oberfläche und der drohend aufgerissene Rachen eines riesigen Krokodils hob sich sekundenlang träge aus dem Wasser empor.

 

Der herrschaftliche Besitz der alteingesessenen Familie Safiya, unter deren Vorfahren sich angeblich sogar einer der Wesire Ramses des III. befinden sollte, machte im ersten Augenblick einen sowohl atemberaubenden als auch unbehaglichen Eindruck. Das Hauptgebäude alleine vereinnahmte beinahe so viel Grundfläche wie das Ministerium für Magie und wirkte trotz der unbestreitbaren architektonischen Wohlproportioniertheit auf unklare Weise falsch in der Landschaft, als hätten die Erbauer vergessen, dass sie sich in Wales und nicht im Nildelta befanden. Die Außenwand erschien burgartig und abweisend; es war kein Fenster zu sehen. Was in Ägypten gegen die sengende Wüstensonne durchaus sinnvoll war und Kühlung brachte, hüllte die inneren Wohnräume auf den britischen Inseln den Großteil des Jahres über in ein fahles, kaltes Dämmerlicht.

Die Gärten und äußeren Schutzwälle hatten Jiang Li und Lupin noch mithilfe einiger anderer Mitglieder des Phönixordens überwunden; im Inneren des Hauses waren sie allerdings auf sich allein gestellt. Auch im Notfall, das stand unausgesprochen zwischen ihnen fest, würden es ihre Mitstreiter kaum schaffen, sie rechtzeitig zu erreichen. Um sich in einer Zwangslage, sollten sie sich trennen oder verlieren, dennoch zu Hilfe eilen zu können, hatten sie sich zwei schmale Ringe aus dunklem Malachit anfertigen lassen, die sich enger um den Finger schlangen, wenn das Pendant aktiviert wurde.

Es hatte viel Zeit und Mühe gekostet, um herauszufinden, wo sich das von der Schwarzen Hexe geforderte Aqen-en-re tatsächlich befand. Glücklicherweise hatte Jiang Li einen geschwätzigen Stallknecht ausfindig gemacht, der ihr in der dritten durchzechten Nacht von einem schaurigen Gerücht über unterirdische Katakomben erzählte, die sich tief unter dem Herrenhaus befinden und in dem entsetzliche Ungetüme lauern sollten. Es war strengstens untersagt, sich den weitläufigen Kelleranlagen auch nur zu nähern; lediglich einige altgediente Hauselfen hatten dorthin Zutritt. Die Annahme, dass sich in diesen Bunkern etwas Wertvolles befinden musste, war somit natürlich naheliegend; allerdings konnte das alles Mögliche sein. Die Familie Safiya hatte sich schon immer in die Dienste der Schwarzen Magie gestellt, obgleich sie es wie beispielsweise auch die Malfoys stets geschafft hatte, nach außen hin eine weiße Weste zu bewahren. Durch eine eingeschleuste Jagdspinne war es schließlich gelungen, den Aufenthaltsort der wertvollen Papyri auszumachen; sie lagen in steinernen Sarkophagen tief unter dem zentralen Innenhof verborgen. Auch das Datum des Einbruchs war von Jiang Li sorgfältig ausgewählt worden: zur Tagundnachtgleiche, dem Äquinoktium im Frühling, in der zehnten Stunde nach Sonnenuntergang; um diese Zeit war die Konzentration der magischen Kräfte sehr hoch und der zunehmende Mond würde auch das eine oder andere zum Gelingen des Auftrages beisteuern. Lupin hatte sie zwar ausgelacht, weil sie seiner Meinung nach wie ein abergläubischer Muggel gar zu viel Augenmerk auf Mondphasen und Nachtstunden legte, doch sie konnten jedes Fitzelchen Glück brauchen, das sie erhaschen konnten, und daher blieb es auch dabei.

 

Bei diesem Einsatz musste jeder von ihnen im höchsten Maße konzentriert sein, was Jiang Li momentan allerdings sehr schwer fiel. Die Ereignisse der letzten Zeit, vor allem des vergangenen Monats, hatten sie schwer getroffen, so ungern sie sich das sich selbst gegenüber auch eingestand. Immer öfter plagen sie tiefe Zweifel an sich selbst, ihrer Liebe zu Snape und dem Orden des Phönix. Selbst das zuvor unerschütterliche Vertrauen zu Dumbledore hatte sich zu einem vorsichtigen Beobachten gewandelt. Nichts schien ihr noch sicher, niemand mehr völlig vertrauenswürdig zu sein.

Es lag nicht nur an der zeitweiligen Gefühlskälte, die ihr dann und wann von Severus entgegenschlug. Auch nicht an den rätselhaften Spuren in der kalten Asche des Kamins, die sich immer häufiger zeigten oder den Briefen von Narcissa Malfoy, die sie zufällig in einer Schublade in Snapes Schreibtisch gefunden hatte und die ihrer Meinung nach verdächtige Anspielungen enthielten. Er verbarg etwas anderes vor ihr, ebenso wie Dumbledore. Die Lösung oder wenigstens ein Teil des Rätsels lag in dem auffälligen Interesse der Vertreter sowohl der Schwarzen wie auch der Weißen Magie an den tellurischen Energieströmen der Erde. Jiang Li hatte lange darüber nachgedacht, sich in den verschiedensten Bibliotheken durch zähe Schwarten geackert und ihre eigenen Schlüsse gezogen: Wer die Kräfte der Erdenergie zu bündeln verstand, dem gelang es, Dinge wie das Wetter, die Entstehung von Bodenschätzen oder das Pflanzenwachstum zu kontrollieren, wodurch sich selbstredend eine unsagbare Macht über den gesamten Planeten mit all seinen Bewohnern ergab. Bisher hatte sie allerdings noch nicht herausfinden können, was genau von den jeweiligen Parteien damit bezweckt werden sollte. Wollte Voldemort denn alle Muggel auf einen Schlag vernichten? Woraus bestand sein Plan? Und wie passten Dumbledore und der Orden des Phönix in das Ganze?

 

„Siehst du das Flimmern da? Bück dich ein bisschen tiefer, dann kannst du genau erkennen, dass nur der schmale Fußweg da aus Steinen ist – der Rest ist mit einem fast perfekten Illusionszauber belegt!“, flüsterte Jiang Li dem immer noch wie angefroren dastehenden Lupin zu und lotste ihn mit sicherer Hand rückwärts aus der Gefahrenzone, vorsichtig Schritt für Schritt haargenau den Weg zurück, den sie gekommen waren. Auf sicherem Grund angelangt ließ Jiang Li ihn wieder los und atmete tief durch.

„Die Sarkophage sind nicht in dem Teich, da bin ich mir ganz sicher. Sie liegen dahinter, vermutlich in einer der Kammern. Versiegelt hat man sie nicht, da das Buch ständig fortgeführt wird.“

Lupin nickte und zog ein schmales Papierstück aus seiner Tasche, auf dem sich eine schematische Zeichnung der unterirdischen Gewölbe, basierend auf den Informationen der Spinne, befand. Er tippte mit dem Zeigefinger auf ein kleines Viereck.

„Ich konnte nicht wissen, dass der Tümpel da in Wirklichkeit größer ist. Hier ist nur das Becken eingezeichnet.“

„Die Spinne kann auf dem Wasser laufen. Vermutlich hat sie gar nicht bemerkt, dass der Fußboden ein Illusionszauber ist.“

„Der Teich zieht sich also durch den ganzen Raum? Wie sollen wir da vorbeikommen? Im Wasser sind Krokodile und Schlangen!“

„Es muss einen Weg geben. Es gibt immer einen Weg. Wie ich bereits gesagt habe, wird das Buch laufend fortgesetzt, wodurch es auch erreichbar sein muss.“

Jiang Li stutzte und überlegte einen Moment lang. Dann lächelte sie plötzlich und schüttelte beinahe mitleidig den Kopf.

„Lach nicht, aber vielleicht ist es ganz einfach …“

Noch ehe Lupin reagieren konnte, hatte sie schon aus einer Tasche eine kleine Dose mit silbrigem Pulver geholt, auf die Handfläche geleert und vorsichtig heruntergepustet. Das Pulver verteilte sich in einer schimmernden Wolke und sank schließlich auf den trügerischen Fußboden herab. Wo sich fester Grund befand, blieb es liegen und markierte einen glitzernden Pfad, den Jiang Li und Lupin gleichzeitig wie auf eine stumme Übereinkunft hin betraten und ihm quer durch den ganzen Raum folgten.

Der Steg durch das sumpfige Wasser mündete in einem dunklen Portal, hinter dem sich drei Türen befanden, die mit verschiedenen Hieroglyphen gekennzeichnet worden waren. Die linke Tür war wie die anderen beiden grifflos, von einem tiefen Schwarz und zeigte ein auf einem Hocker liegendes hundeähnliches Tier; in der Mitte prangte auf lapislazuliblauem Grund ein Symbol, das Ähnlichkeit mit einer kreisförmig gelegten Schnur aufwies, deren Enden durch einen Knoten verbunden waren, und die rechte Tür schimmerte silbern und war mit einem schematischen Auge, das über einer dreistufigen Treppe mit stark vergrößertem Mitteltritt schwebte, ornamentiert.

Lupin starrte die Bildzeichen sekundenlang an, dann seufzte er düster.

„Wenn ich nicht völlig falsch liege, deutet das linke Zeichen auf den Totengott Anubis und das rechte auf den Gott der Unterwelt, Osiris, hin. Was die Mitte angeht –“

„Die Ewigkeit. Es bedeutet die Ewigkeit. Noch dazu“, Jiang Li tippte vorsichtig mit dem Zauberstab gegen die mittlere Tür, „sind das Scheintüren. Also ein Gang ins Ungewisse, wir treten ein und können nicht einmal richtig in Deckung gehen. Das gefällt mir nicht.“

„Durch welche Tür sollen wir überhaupt? Im Grunde wissen wir ja überhaupt nicht, wie wir richtig vorgehen müssen. Das Einzige, das wir haben, ist ein Plan durch dieses Gemäuer, gezeichnet aufgrund der Erinnerungen einer Spinne!“ Lupin atmete schwer und fuhr sich nervös über die Stirn. Jiang Li musterte ihn aufmerksam.

„Wäre es so leicht, hätte man wohl kaum uns beide geschickt. Wenn wir jetzt aufgeben oder in Panik ausbrechen, kommen wir überhaupt nie mehr nach oben. Die Safiyas sind alle außer Haus, die Bewachung ist minimal. Eine solche Gelegenheit wird sich nicht so bald wieder ergeben, also verlier jetzt nicht die Nerven.“

Sie hatte ruhig, aber mit einem so bestimmten Unterton gesprochen, dass Lupin merklich zusammenzuckte. Nachdem er kurz die Augen geschlossen und tief eingeatmet hatte, straffte er die Schultern und nickte ihr zu.

„Durch welche Tür?“

Jiang Li überlegte kurz, dann streifte sie den rechten Handschuh ab und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über jedes einzelne Symbol.

„Links.“

„Warum?“

Sie sah Lupin direkt in die Augen, während sie den Handschuh wieder anlegte und nach dem Zauberstab griff.

„Ist nur so ein Gefühl.“

„Gut.“

 

Ihr Instinkt hatte sie nicht getrogen – so sah es zunächst jedenfalls einmal aus. Der Raum, der sich hinter der schwarzen Tür erstreckte, bestand aus hellem Kalkstein und war von unzähligen Fackeln erhellt. Nachdem Jiang Li und Lupin, ähnlich wie es die Schüler von Hogwarts jedes Jahr in King’s Cross auf dem Weg zum Gleis 9 ¾ taten, durch das scheinbar feste Mauerwerk getreten waren, mussten sie im ersten Moment geblendet die Augen schließen.

In der Mitte des gestreckten, an den Ecken abgerundeten Raumes thronten drei längliche Steinsärge. Sie waren über und über mit Hieroglyphen bedeckt, deren Bedeutung Jiang Li nur im Ansatz erahnen konnte. Es schien sich allerdings um machtvolle Schutzzauber zu handeln, die jeden Unbefugten, der sich leichtsinnig nähern mochte, in Höllenqualen oder den Tod stürzen konnten.

„Gib Acht“, sagte Jiang Li und erschrak vor ihrer eigenen Stimme, die sich an den bleichen Wänden bis zur Unkenntlichkeit brach, „und berühr nichts. Diese ägyptischen Zauber haben es in sich.“

Lupin schnaubte leicht abfällig, um zu signalisieren, dass ihm dieser Umstand ohnehin bewusst war. Er begann ohne weitere Verzögerung, die Bannflüche aufzuheben und beschwor beinahe lautlos komplizierte Formeln über den Sarkophagen.

Jiang Li schritt unterdessen jeden Winkel des Raumes ab, um vor unliebsamen Überraschungen gefeit zu sein. Überall gab es versteckte Fallen, die beseitigt werden mussten, wenn sie das Gut der Safiyas wieder mit heiler Haut verlassen wollten.

Plötzlich stieß Lupin, der immer noch über die steinernen Deckel gebeugt stand, ein scharfes Zischen aus und frohlockte verhalten.

„Komm her, ich hab’s geschafft! Sie sind offen!“

„Großartig!“

Gemeinsam schoben sie die Platte ein Stück weit zur Seite und starrten neugierig ins Innere des Behältnisses; ein metallisches Blitzen ließ Jiang Li instinktiv zurückspringen und Lupin mit sich reißen.

„VER –“

„Schlangen, das sind SCHLANGEN! DECKEL ZU!“

Hastig verschlossen sie den Sarkophag wieder und richteten sich ernüchtert auf.

„Fehlanzeige“, kommentierte Lupin trocken, nachdem sein Puls aufgehört hatte, zu rasen und machte sich an die Öffnung des zweiten Behälters. Diesmal hatten sie mehr Glück; Jiang Li konnte es im ersten Moment kaum fassen. Tatsächlich lagen da dicht an dicht Hunderte Papyrusrollen, verpackt in schützende Kapseln, manche von ihnen, so man der Familiengeschichte der Safiyas Glauben schenken konnte, Tausende von Jahren alt.

Hǎo jí le!

Ausgezeichnet!

Einen herrlich unbeschwerten Augenblick lang vergaßen sie die drohenden Gefahren, die rund um sie lauerten, und fielen einander erleichtert in die Arme. An den Rückweg mochten sie jetzt noch gar nicht denken, es würde ohnehin schwer genug werden, sich ein zweites Mal durch diese Hindernisbahn, die das Gemäuer darstellte, durchzukämpfen.

„Auf geht’s“, Lupin öffnete eine kleine hölzerne Kassette, die er bisher um die Taille geschnürt hatte, und richtete den Zauberstab auf die unzähligen Papyri, die sich daraufhin folgsam in die Luft erhoben und in der Schatulle verschwanden, deren Rauminhalt magisch um ein Vielfaches vergrößert worden war. Jiang Li machte sich unterdessen vorsichtig am dritten Steinsarg zu schaffen, der allerdings außer einigen Spinnen nichts von Belang enthielt.

„Also gut, das war’s. Lass uns gehen, Remus, oder?“, meinte sie, ohne aufzublicken.

Statt einer Antwort ertönte ein leises Kichern und die raue, höhnische Stimme einer Frau erklang: „Brav, Schwachkopf, gut gemacht! Und jetzt schön das Kistchen zu und her damit! ACC-“

Jiang Li reagierte instinktiv, wirbelte um die eigene Achse, schleuderte drei schmale, scharfe Dolche in die Richtung, aus der die Stimme kam und hörte an einem schrillen Jaulen, dass zumindest eines der Messer getroffen hatte. Dann erst zückte sie den Zauberstab.

„CONTEGO!“

Die schwarz gekleideten Widersacher, durch die spitzen Kapuzen unschwer als Todesesser identifizierbar, schienen durch den unerwarteten nichtmagischen Angriff aus dem Konzept gebracht und reagierten langsam.

„Verschwinde, Remus! Ich lenke sie ab, lauf du an ihnen vorbei!“

„ANGO!“

Die Todesesser hatten sich wieder gefangen und Jiang Li fühlte, wie ihr der machtvolle Fluch die Luft aus den Lungen trieb und die Rippen bedrohlich knacken ließ.

„OPPINGO!“

„Ah, das kleine Miststück kann also auch hexen“, ließ sich die hämische Stimme wieder hören und bis auf zwei, von denen einer die Flugbahn des Dolches gekreuzt hatte und nun zusammengekrümmt am Boden hockte, lachten die übrigen Todesesser gedämpft auf. Zwar waren sie noch immer auf der Hut, da der für Magier ausgesprochen unübliche materielle Angriff sehr überraschend gekommen war, doch durch die augenscheinliche Überzahl war der Kampf bereits im Vorhinein so gut wie entschieden und sie konnten es sich leisten, ein wenig mit den Opfern zu spielen.

Jiang Li fühlte, wie ihr von den dunklen Gestalten sowohl Siegessicherheit wie auch eine gewisse Verachtung entgegenschlug. Niemand sprach es offen aus, doch in der Welt der Zauberei war es fast so etwas wie ein Eingeständnis von Unfähigkeit, wenn man mit Waffen kämpfte, die keine magischen Raffinessen aufzuweisen hatten. Wut flammte in ihr hoch, eiskalt und kristallklar. Sie würde dieser verdammten, hochnäsigen Bande schon zeigen, wozu sie in der Lage war.

DILACERO!

„REFERIO!“

Die Todesesser konterten sofort und duckten sich; dennoch wurden Teile ihrer schwarzen Tracht durch die Gewalt der Beschwörung in Fetzen gerissen und schwebten langsam auf den steinernen Fußboden nieder.

Die Frau, die gesprochen hatte, nahm langsam und drohend die Kapuze ab. Das schöne, markante Gesicht mit dem kräftigen Kinn und den schweren Augenlidern, unter denen Wahnsinn glomm, war Jiang Li aus dem Tagespropheten nur zu gut bekannt.

„Alle Achtung, da kann ja wer den Zauberstab doch zu mehr als nur zum Rückenkratzen verwenden. Wirklich ausgezeichnet“, näselte Bellatrix Lestrange mit träger, schleppender Stimme und rief dabei wieder zustimmendes Gelächter hervor. Nur die beiden Todesesser, die schon zuvor bereits geschwiegen hatten, enthielten sich auch diesmal. Der Unverletzte trat lediglich einen Schritt nach vorne. Man konnte nur erahnen, was sich hinter der dunklen Maske verbarg, doch aus irgendeinem Grund erkannte ihn Jiang Li, vielleicht lag es am Schwung der Hüften oder der Intensität des Blicks.

Severus.

Im Bruchteil einer Sekunde raste eine zweite Welle des Zorns durch Jiang Li und ließ sie Müdigkeit und Furcht auf einen Schlag vergessen. Winzige Messerstiche trafen ihr Herz, als sie Snape ansah; Verwirrung, Zweifel und Leid quollen in ihr hoch und brachen sich in einem wilden Schrei explosionsartig den Weg nach draußen. Mit einem geschmeidigen Satz war sie auf den Beinen, zog zwei lange, stabile Wurfnadeln aus dem Waffengürtel und packte mit der anderen Hand den Zauberstab fester, während sie stumm einen Vernebelungszauber ausübte. Es war ihr einziges Glück, dass sich die Todesesser ihrer Sache so sicher waren. Anstatt sie so schnell wie möglich aus dem Weg zu räumen und Lupin die Kiste mit den Papyri abzunehmen, wollten sich die Fünf ein wenig amüsieren und spielten mit ihnen Katz und Maus.

Verflucht! Die Schlampe will abhauen!“, schrie Bellatrix alarmiert, als sich jäh ein undurchdringlicher Nebelschleier über die Kammer senkte und alles in ein fahles Weiß tauchte. „Holt sie euch, und nehmt dem Idioten endlich die Bücher ab! NA LOS!“

Im selben Augenblick schoss Jiang Li nach vorne und hieb nach dem ersten schwarzen Schemen, der vor ihr erschien. Sie hatte gut getroffen; der Todesesser schrie vor Schreck und Schmerz auf, als sich die Spitzen der Nadeln in seinen Brustkorb fraßen, ruckartig gedreht und mit einer brutalen, genau abgezirkelten Bewegung wieder herausgerissen wurden. An den feinen Widerhaken zerfetzten Eingeweide, Haut und Knochen; mit einem glucksenden Laut fiel der Getroffene auf die Knie, umschlang seinen Oberkörper wie in dem verzweifelten Versuch, das hervorsprudelnde Blut zurückzudrängen und verschied rasch unter krampfartigen Bewegungen.

PETRIFICUS TOTALUS!

Jiang Li kam nicht mehr dazu, den Zauberstab zu heben, sondern stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden.

In der Hektik hatte jeder den peitschenden Knall überhört, der plötzlich hinter den Sarkophagen ertönt war und als sich der Nebel wieder lichtete, gab es von Remus Lupin und dem Kästchen nicht einmal mehr die geringste Spur.

Bellatrix Lestrange schienen die Augen aus den Höhlen zu quellen, als sie sich dessen bewusst wurde. „Sucht ihn!“, keifte sie entsetzt und rannte selber kreuz und quer durch den Raum, während die übrigen Todesesser die Deckel von den Steinsärgen rückten und in jeden Winkel schauten, als wäre nicht schon von vornhinein klar gewesen, dass diese Suche sinnlos bleiben musste. Die kostbaren Aufzeichnungen waren fort.

Jiang Li konnte im Gegensatz zu Lupin nicht fliehen, selbst wenn sie sich nicht unter dem Einfluss der Ganzkörperklammer befunden hätte. Durch die unzähligen Zauberbanne, die auf dem Herrenhaus und vor allem den Kellergewölben lagen und großteils altägyptischer Herkunft entstammten, war es nicht möglich, zu apparieren oder disapparieren. Wie Lupin die Flucht gelungen war, konnte sie nur mutmaßen, nahm aber an, dass Plan C zum Einsatz gekommen war, der im äußersten Notfall das Eingreifen eines zuvor genau instruierten Hauselfen vorgesehen hatte. Dieser sollte sich allerdings ausschließlich um die Bergung der Papyri kümmern und jegliche Konfrontation, selbst wenn diese zur Rettung der beiden Einbrecher verhelfen konnte, vermeiden.

„Er ist weg!“, ließ sich die dumpfe Stimme eines Todesessers vernehmen. „Ich weiß nicht wie, aber er ist verschwunden!“

„Zum –“, setzte Bellatrix hysterisch an, brach dann aber ab, beherrschte sich und richtete ihre nun blutunterlaufenen Augen auf Jiang Li. „Fein, na fein. Gut. Dann ist es eben so; im Endeffekt brauchen wir die Dinger ohnehin nicht. Der Dunkle Lord wird das verstehen, vor allem, wenn ich ihm sage, dass sich Adofo geweigert hat, diese „unersetzbaren Familienerbstücke“ von sich aus herauszurücken.“

„Angst, Bellatrix?“ warf Snape aalglatt ein und lachte beunruhigend. „Und wieder versagst du, meine Liebe.“

„Angst, ich? Vor was?“, heulte sie giftig auf und ballte die Hände. „Der Dunkle Lord weiß, wie ergeben ich ihm bin und wie sehr er sich auf mich verlassen kann!“

„Was soeben für alle ersichtlich war“, konterte Snape trocken und wandte sich leicht zur Seite. „Gehen wir.“

„Was, gehen? Und das dumme Weibsstück? Die wird für Dealbert bezahlen!“

„Meinetwegen kann sie hier in den Kerkern verrotten, dafür haben wir jetzt keine Zeit mehr. Abgesehen davon wird Safiya ihr die alleinige Schuld für den Einbruch geben, wenn er sie findet.“

„OH NEIN!“, schrie Bellatrix Lestrange und warf ihre glatten, dunklen Haare zurück. Ihre Augen funkelten tückisch. „Ihr könnt ja schon abhauen, aber ich will noch meinen Spaß haben!“

„Wir sollten wirklich verschwinden“, warf der fünfte, noch relativ unversehrte Todesesser beschwichtigend ein. „Snape hat recht, wenn Adofo sie hier findet, wird er sie ohne viel Fragerei durch alle erdenklichen Höllen schicken und wir steigen gut aus der Sache aus. Dann braucht nur der Dunkle Lord persönlich von unserem – hm, Missgeschick zu erfahren.“

„Pah, ihr Unwürdigen!“, war der einzige Kommentar zu diesem Thema. Dann hob die schwarzhaarige Hexe langsam ihren Zauberstab und lächelte.

CRUCIO!“

 

Der physische Schmerz war eigentlich nur am Anfang entsetzlich; so unwahrscheinlich es schien, man gewöhnte sich sogar daran und er wurde erträglicher, je länger er anhielt. Schlimmer war etwas anderes. Jiang Li hatte sich nie genauer für die tatsächlichen Auswirkungen dieses Zaubers interessiert; wie die meisten anderen, die noch keinen Kontakt damit erlitten hatten, hielt sie es einfach für körperliche Pein, denn diejenigen, denen man den Cruciatus-Fluch bereits angetan hatte, waren nicht mehr in der Lage, darüber zu berichten.

Nach den ersten Sekunden, in denen sich ihr ganzer Körper unter grausamen Qualen verkrampfte, hörte sie auf, dagegen anzukämpfen und ließ sich in die tiefe, wartende Dunkelheit fallen. Ein verschwommenes Bild entstand, rückte näher und nahm an Schärfe und Intensität zu.

„… weißt hoffentlich, wie gern ich dich habe?“

Sie lag neben Kuan-yin auf einer Picknickdecke im hohen Gras, über ihnen der bereits im Abnehmen begriffene Mond. Er hielt ihre Hand und sie wünschte sich, es würde immer so bleiben. Eigentlich war sie sich dessen ganz sicher. Sie und Kuan-yin würden zusammen alle Schwierigkeiten, die es im Leben gab, meistern. Gemeinsam waren sie unschlagbar.

„Ich liebe dich so“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Lass uns in dieser besonderen Nacht …“

„NEIIN!“

Ihr unhörbarer Schrei verhallte über den Bergwipfeln; regungslos musste sie mit ansehen, wie die jüngere, fröhlichere Jiang Li ihrer Erinnerung Kuan-yins Hand nahm und sich von ihm unmerklich in Richtung des Haupthauses steuern ließ. Noch einmal durchlebte sie seinen Verrat, die bittere Erkenntnis und das Gefühl, belogen und in Wirklichkeit nie von ihm ernsthaft geliebt worden zu sein. Was sich in der Realität über Monate erstreckt und sie nur häppchenweise heimgesucht hatte, brach nun unter Einwirkung des Fluches geballt wie eine Sturzflut auf sie ein.

Die Szenen wechselten schnell; die unzähligen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern, den Schwertmeisterinnen, immer wieder das Gefühl, durch eine Platte aus Glas von all den Übrigen abgeschnitten zu sein, nie den Anschluss finden zu können, niemals dazuzugehören. Wie ein Embryo krümmte sie sich zusammen, versuchte, der Tortur zu entrinnen und musste dennoch alles mit übergenauem Empfinden wieder- und miterleben, bis sich schließlich eine endgültige, gnädige Schwärze über ihren Verstand senkte.



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