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Nordwind

von

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der lachende Hahn

14 Jahre später
 

Das alte vergilbte Segel flatterte leicht im Wind. Es war ein guter Tag zum segeln, dachte ich als ich die Reling entlang ging und das alte Holz unter den Fingern spürte. Doch dieses Schiff würde nie wieder segeln. Der alte Einmaster meines Vaters war nun endgültig nicht mehr reparabel, viel zu lang musste er schweres Wetter und raue See überstehen. Ich kann nicht einmal mehr zählen wie oft und wie lang er mit mir unterwegs gewesen war.

Ich stieg hinab und landete auf dem alten morschen Holzsteg. Diese Bucht bot einen traurigen Anblick. Es war viel mehr ein Schiffs-Friedhof als alles Andere und als ich meinen Blick über die Wracks und ausgeschlachteten Überreste davon schweifen lies fragte ich mich welche Geschichten sie wohl zu erzählen hatten.
 

Der ungepflegte Mann neben mir knotete mein Schiff fest und nickte zufrieden, wendete sich dann zu mir und zeigte seine faulen Zähne mit einem schiefen Grinsen. Ein vergilbter Lederbeutel voller Goldstücke fand den Weg in meinen Besitz und der Handel war abgeschlossen.

Als ich mit einem leichten Nicken ein Lebwohl zu meinem alten Einmaster signalisiert hatte wendete ich mich ab und lief zurück in Richtung Hafen. Ich hatte weiche Knie, denn ich war letztendlich doch an einem Punkt angelangt an dem ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Das Schiff war seit jenem Tag mein einziger Begleiter gewesen und es an seinen letzten Ruheort zu segeln war mir unvorstellbar schwer gefallen.
 

So viele Jahre lang war ich nichts weiter als der ‚Fährmann’ gewesen. Der Bote und Händler der hohen Magier. Anais behielt all die Jahre Recht, ich hatte nie eine Wahl gehabt.

Ich habe nie erfahren was mit meinem Vater geschehen war. Er wurde getötet, daran bestand kein Zweifel und man hatte mir immer wieder eingeschärft seine ‚Fehler’ nicht zu wiederholen, aber nie hat man mir erklärt war seine Fehler gewesen waren oder auf welche Weise sie ihn getötet hatten. Doch nach all den Jahren war der Drang es zu erfahren immer kleiner geworden und die Erinnerung an ihn so blass, dass ich manchmal nach einem Traum aufwachte und nicht mehr erkennen konnte ob dieser alte Mann wirklich jemals eine Verbindung zu mir gehabt hatte.

Alles in meinem Kopf war zu einem einfarbigen Brei geworden und ich verlor längst den Überblick darüber, bestand eine lange Zeit nur aus Arbeit und Überleben.
 

Ich hatte über die Jahre viel über den Rat der Magier erfahren, viel mehr als ein Mensch jemals erfahren sollte oder überhaupt wollte. Die Ratsmitglieder hatten schnell die Vorsicht in meiner Gegenwart verloren. Sie redeten offen über Politik, Intrigen, Verrat, Mord, selbst die Namen von Affären und unehelichen Kindern waren mir geläufig. Diese ganzen Geheimnisse die laut ausgesprochen eine mächtige Waffe gegen den Rat gewesen wären nützen mir nichts. Niemand scherte sich um den Jungen, den ‚Fährmann’ der keine Wahl hatte als jedes noch so große Geheimnis mit sich ins Grab zu nehmen. Wem hätte ich es je erzählen sollen? Ohne Stimme, ohne Fähigkeiten zu Lesen oder zu Schreiben und ohne dass auch nur ein einziger Mensch auf der Welt etwas davon wusste was ich tat wenn ich nicht im Handelshafen war?

Ich trug vielleicht die größte Bürde, die größten Geheimnisse und das meiste Wissen über den Rat in mir und war doch nur ein vollgeschriebenes Buch, was niemand jemals lesen konnte.
 

Natürlich versuchte ich die ersten Jahre all das zu behalten, ich dachte sogar daran irgendwann Rache zu üben für das Leben was man mir aufgezwungen hatte. Aber der Rachedurst verblasste immer mehr und verschwand schließlich ganz. Ich fühlte mich ausgelaugt, vollgestopft mit Informationen, die ich immer öfter durcheinanderbrachte oder mich kaum erinnern konnte welche Worte aus wessen Mund gekommen waren. Ich war wie ein Fass mit zu viel Schießpulver gefüllt, ich drohte zu bersten und in Flammen aufzugehen ohne dass Jemand davon Notiz genommen hätte.

Bei all den Informationen die sich in meinen Kopf gefressen hatten war es kaum verwunderlich, dass andere Dinge verloren gingen. Die Erinnerung an meinen Vater, die Erinnerung an all die Zeit bevor ich zum Lakai des Rats geworden war. Und allem voran die Erinnerung an meinen Namen.
 

Ich wusste ich hatte Einen, natürlicherweise. Mein Vater hatte ihn mir gegeben und mich immer damit gerufen. Seit ich denken kann, waren Er und ich immer allein gewesen, wegen meiner Sprachstörung und meiner ungewöhnlichen Erscheinung hatte ich nie Freunde gehabt und selbst mein Vater war ein völliger Einzelgänger gewesen.

Natürlich kannten mich viele vom Sehen her. Der sprachgestörte glatzköpfige Junge war immer Jemand, der am Hafen herumgelaufen war. Und natürlich war es nicht unbemerkt geblieben dass der Mann der zu dem Jungen gehörte plötzlich verschwunden war. Die Fragen nach seinem Verschwinden klangen mir noch Jahre danach im Ohr und ich erinnere mich irgendwann nur noch weggelaufen zu sein, denn kein einziger Mensch konnte den merkwürdigen Jungen verstehen, der völlig verstört war und dennoch keinen Ton mehr von sich geben konnte.

Nur Eines wusste irgendwann Jeder. Ich hatte den Einmaster und ich Segelte, war oft Tagelang fort ehe man mein Schiff wieder anlegen sah. Keiner wusste wohin ich verschwand und keiner wusste welche Lieferung ich transportierte. ‚Fährmann’ nannte man mich und das ist seither mein Name. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, dass mein eigentlicher Name so blass und bedeutungslos geworden war bis er einfach aus meinem Kopf und damit aus der Welt verschwand.
 

Jetzt war ich Niemand mehr.

Der Fährmann war am heutigen Tag zu Grabe getragen worden. Kein einziger Auftrag hatte mich mehr erreicht, fast ein ganzes Jahr lang. Selbst die Magier brauchten mich nicht mehr seit es magische Türen gab, die sie hinbringen konnten wohin sie wollten ohne das Meer überqueren zu müssen. Mein Schiff hatte das Leben verlassen und auch ich fühlte mich leer. Wer war der Fährmann ohne Schiff und ohne Lieferung?

Der Einmaster wurde nun zerlegt, ausgeschlachtet. Der Gedanke daran war für mich unerträglich, denn es fühlte sich an als würde man mein Fleisch und Blut in kleine Teile zerreißen. Die kleine Menge Geld, die mein ‚Abschiedsgeschenk’ war keine Entschädigung für das, was ich verloren hatte.
 

Seit ein paar Wochen hatte ich neue Arbeit gefunden. So grauenhaft die letzten 13 Jahre für mich auch gewesen waren, ich war immer gut bezahlt worden für meine Dienste und nun fehlte einfach das Geld zum Überleben.

Arbeiten für stumme Männer gab es Viele, sollte man meinen. Jeder mochte doch Menschen, die keine Fragen oder Ansprüche stellen konnten. Doch so einfach war es nicht, nicht für mich. Viele kannten mich und trauten mir nicht, da niemand etwas über mich wusste. Viele schüttelten bereits den Kopf, noch bevor ich mich mit einfachen Gesten hätte erklären können und so war ich dort angelangt, wo jeder irgendwann endet wenn er nichts zu verlieren hatte: in einem Bordell.
 

„Da bist du ja endlich wieder, hast deine Pause etwas lang gezogen, hm?“

BigMom, die Besitzerin des Hauses schmunzelte mir entgegen, als sie mich kommen sah

„Schätze du wirst mir nicht erzählen was so wichtig war, dass du die Mädchen aus den Augen lässt“

Ich schüttelte leicht den Kopf und erwiderte das Lächeln. Sie war eine sehr nette Frau, immerhin gab sie mir Arbeit ohne zu wissen wer ich eigentlich war und obendrein schien sie mich zu mögen

„Sei so nett und trag mir die Fässer hier in den Keller. Der Wein war nicht ganz billig, also sei verdammt vorsichtig“

Ich nickte und tat gleich wie mir aufgetragen.

BigMom war eine beachtliche Frau, sie überragte selbst mich um einen halben Kopf. Sie hatte dicke blonde Haare und braungebrannte Haut, ich war mir ziemlich sicher, dass sie aus einem anderen Land kam. Sie brachte deutlich mehr Körper- und Muskelmasse auf die Waage als alle ihre Angestellten, vielleicht war das der Grund weswegen ich niemals Jemanden gesehen hatte, der sich mit ihr anlegen wollte. Jeder respektierte sie und als einzige Bordell-Besitzerin am Hafen war sie so etwas wie eine ‚wichtige Persönlichkeit’ der Gegend.
 

Ein Bordell, ja. ‚Der lachende Hahn’, ein großes altes Haus mit vielen Zimmern, dazu eine Kneipe im Erdgeschoss die neben reichlich alkoholischen Getränken auch weibliche Unterhaltung bot. Zu meinem Glück gehörte ich nicht zu denen, die mit ihrem Körper Geld verdienen mussten. Viel mehr war ich hier für andere Arbeiten. Getränke und Lebensmittel-Lieferungen abladen, einfache Reparaturen an dem wirklich sehr alten Haus und dessen Inventar. Auch war ich nach wie vor für Botengänge zuständig und diente als Begleitschutz wenn eines der Mädchen mal ‚außer Haus’ ihre Dienste verrichtete. Manchmal gab es auch Ärger mit Kunden die nicht zahlen konnten oder anfingen bestimmte Damen zu verfolgen und zu beobachten. Viele Dinge über die man eigentlich nicht sprach – vielleicht war ich auch deswegen der richtige Mann für diese Arbeit.
 

„Hey, BigBoy ist wieder da“

Eines der Mädchen kicherte freudig als ich das Weinfass geschultert durch die Eingangstür zur Kneipe kam

„Süßer, wo warst du denn so lange? Hast du etwa eine Andere als uns, die du heimlich triffst?“

fragte eine Andere, beide lachten vergnügt. Ich lächelte sie an und schüttelte ehrlich den Kopf.

„Ohh unmöglich. Lügst du uns etwa an? Schau dich Leckerbissen doch an, jedes Mädchen der Stadt leckt sich die Finger nach dir, hihi“

erneut schüttelte ich den Kopf und wurde etwas rot um die Nase. Ich war es auch nach mehreren Wochen nicht gewohnt, dass man so mit mir redete. Genau genommen dass man überhaupt mit mir redete. Doch ich mochte das Gefühl, nicht mehr ganz allein zu sein. Und das unter Menschen die mich mochten wie ich war, auch wenn sie mir manchmal im wahrsten Sinne näher standen als mir geheuer war.

Außerdem hatte ich noch etwas gemeinsam mit den Mädchen und meiner Cheffin. Wir alle hatten keine Namen. Zumindest keine, die man kannte oder die von Kunden genutzt wurden. Sicherlich gab es Namen und sicherlich hatte außer mir kein Anderer hier den Eigenen vergessen. Doch es gab mir ein Gefühl der Zugehörigkeit ein Teil von ‚BigMom’, ‚Fenra’, ‚Agnes’ und den Anderen Mädchen zu sein.
 

Ich war gezwungen vor der Kellertreppe stehen zu bleiben, denn zwei der Mädchen versperrten mir den Weg. Beide hatten einen tiefen Ausschnitt und prall hochgeschnürte Brüste, sie waren bereits herausgeputzt für das Unterhaltungsprogramm in wenigen Stunden.

„Bist du auch ganz sicher, dass du heute Abend nicht mal ein Fass auf unser Zimmer tragen willst?“

sagte die Rothaarige Agnes und zwinkerte anzüglich

„Wir warten doch schon so lange dass du mal an die Tür klopfst. Wir machen dir sogar einen Freundschaftspreis“

Ich lächelte verlegen, aber noch immer höflich und schüttelte erneut den Kopf. Nahezu jeden Tag seitdem ich hier angefangen hatte machten sie mir solche Angebote, doch jeden Tag lehnte ich sie ab.

Ich hatte nie viele Erfahrungen in solchen Dingen gemacht und hatte auch bisher nie wirkliches Interesse. Natürlich waren die Damen sehr hübsch und ohne Zweifel konnten sie mit ihren Reizen beinahe jeden Mann um den Finger wickeln. Nur bei mir schienen sie recht wenig Erfolg zu haben.
 

Mit einem enttäuschten Seufzen zogen Beide einen Schmollmund und machten den Weg frei, sodass ich meine Arbeit erledigen konnte.

Ich arbeitete gern in diesem Bordell und letztendlich bin ich nach wie vor sehr froh dass ich dort war. Denn sonst hätte ich an genau dem Tag, an dem ich meinem Schiff Lebwohl wünschen musste, niemals diese Begegnung gehabt.
 

--
 

Es war noch früh am Abend und es war noch nicht ganz dunkel geworden. Nicht einmal eine halbe Stunde war vergangen seit die Kneipe ihre Türen geöffnet hatte und dennoch waren bereits ein halbes Dutzend Seemänner hindurchgetreten und tranken an ihrem ersten Bier oder Rum.

BigMom war fort zu einem ‚wichtigen Geschäft’, wie sie mir verkündet hatte, deswegen war es heute meine Aufgabe hinter dem Tresen zu stehen und Getränke auszuschenken. Es war nicht das erste Mal dass ich auch diese Arbeit übernahm, doch ich war noch lange nicht daran gewöhnt. Es war keine komplizierte Arbeit und sie beinhaltete eher die Gäste im Auge zu behalten, damit es keine Zwischenfälle gab. Doch BigMom bestand darauf, dass ich mich in ihrem Laden ‚angemessen’ kleidete, was in dem Falle bedeutete dass ich mit freiem Oberkörper und schwarzer Umrandung um die Augen arbeiten musste. Ich war mir nicht sicher ob es wirklich nötig war oder einfach nur ein Wunsch der Mädchen, die auffallend oft ihre Blicke zu mir anstatt zu den eigentlich Kunden warfen. Ich sah zumindest keinen Nutzen darin, gehorchte aber wie mir aufgetragen.
 

„Danke Süßer~“

Gerade reichte ich Agnes ein Glas Wein, damit die es einem offenbar wohlhabenden Seemann bringen konnte, als die Tür aufging und weitere Kunden hereinkamen. Es war recht selten dass eine ganze Gruppe auf einmal kam, denn die meisten Männer waren allein und ‚heimlich’ hier und umgaben sich lieber mit mehreren Mädchen als mit Trink-kumpanen.

Zuerst bemerkte ich die neuen Gäste gar nicht, doch ich wurde aufmerksam als ganze drei der Mädchen plötzlich von ihren Stühlen aufsprangen und voller Freude auf die Besucher zuliefen. Stammkunden?

Ich sah die Männer an, es waren fünf an der Zahl. Keiner von ihnen sah sonderlich wohlhabend aus, eher im Gegenteil. Sie trugen schmutzige Hemden, abgetragene Hosen und Lederwesten, zwei von ihnen hatten Kopftücher auf. Seeleute ohne Zweifel, doch ich spannte beinahe erschrocken die Muskeln an, denn sie waren Bewaffnet mit Pistolen und Schwertern, Dolchen und Messern.

Noch nie hatte ich so schwer bewaffnete Männer hier drin gesehen und dennoch wurden sie herzlich und völlig unbesorgt begrüßt.

Mit fragendem und unschlüssigem Blick sah ich zu Agnes die noch immer mit dem Wein vor der Theke stand und ebenso wie die Anderen deutlich erfreut über den Besuch war.
 

„Oh du kennst sie nicht?“

Sie kicherte als sie meinen Blick bemerkte und wie ich leicht in Richtung der Männer nickte

„Stimmt, als sie das letzte Mal hier waren warst du noch nicht bei uns. Captain Fiddick und seine Crew, sie kommen immer hierher wenn sie unseren Hafen anfahren“

ein gut gelauntes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie seufzte bedauernd, dass sie bereits für einen Anderen Kunden zuständig war

„Freibeuter mit den Taschen voller Geld. Und gutaussehend noch dazu, jedes Mädchen ringt um die Gunst des Captains und er ist jeder zugetan, solange sein Glas nie leer ist. Ein perfekter Mann für uns, meinst du nicht? Du solltest ihn kennenlernen“

Sie zwinkerte mir zu und wendete sich dann ab um zurück zu ihrem Kunden zu gehen und ihm den Wein zu servieren.
 

Captain Fiddick?

Es war nicht schwer den Mann auszumachen, denn zwei der drei Mädchen hatten bereits links und rechts von ihm ihren Platz gefunden und führten ihn zum größten Tisch im Lokal. Er hatte eine ähnlich ungepflegte Erscheinung wie seine Begleiter, war jedoch kaum älter als 30. Sein Gesicht war braungebrannt und bärtig, ein geflochtener Zopf zierte sein Kinn und schon auf den ersten Blick erkannte ich mehrere Narben. Als er seinen abgetragenen Dreispitz abnahm kamen dunkelbraune zerzauste Haare und ein grünes verwaschenes Kopftuch zum Vorschein. Er wirkte wild und sorglos, lachte laut und hatte bereits beide Arme um jeweils eines der Mädchen gelegt, ehe er auf der Holzbank platz nahm.

„BigMom! Fünf Mal Rum und drei Mal was auch immer deine Süßen wollen“

rief er plötzlich quer durch den Raum ohne sich richtig umgesehen zu haben. Seine Stimme klang rauchig, tief und durchdringend, genau so wie man sich die Stimme eines Captains vorstellte. Die Mädchen kicherten

„BigMommy ist nicht daheim“

sagte die Eine

„Stattdessen haben wir heute noch mehr Schönes zu sehen als nur dich, hihi~“
 

Fiddick hob eine Braue und richtete seinen Blick erstmals zum Tresen und auf mich. Aus irgendeinem Grund erstarrte ich förmlich. Dieser Mann war mir völlig fremd, aber seine Erscheinung hatte einen Eindruck auf mich den ich kaum deuten konnte. Irgendetwas an ihm flößte mir Respekt ein, ebenso wie eine Neugier wie ich sie schon lange nicht mehr empfunden hatte.

Was er wohl erlebt hatte auf See? Wer war er und was tat er? Welche Geschichten konnte er erzählen? Ich hatte schon viel über Freibeuter gehört, Piraten mit einer offiziellen Lizenz der Regierung, aber dennoch Piraten.

Schon lange hatte ich mich nicht mehr so sehr dafür verflucht all die Fragen nicht stellen zu können.
 

„Ein Neuer? Ein Mann auch noch, hier bei meinen Mädchen? Hahaha“

er lachte lauthals und wiederholte seine Bestellung

„Fünf Rum und drei mal... Wein? Drei Wein“

Erst gute drei Sekunden zu spät reagierte ich auf die Aufforderung, hatte kurz vergessen warum ich eigentlich hier war und füllte hastig die Gläser. Ich hörte die Mädchen kichern und spürte wie meine Ohren rot wurden. Wieso konnte ich mich plötzlich so einfach aus dem Konzept bringen lassen?

Ich stellte alle 8 Gläser auf ein Tablett und ging zu dem großen Tisch. Zuerst beachtete man mich nicht weiter und auch zu den anderen vier Freibeutern hatten sich weitere Mädchen gesellt. Erst als ich die Gläser abstellte sah man mich wieder an.

Irgendwie war es ein unangenehmes Gefühl, ich fühlte mich nackt und schutzlos. Vielleicht weil ich den Aufzug, indem ich wortwörtlich halb nackt vor schwer bewaffneten Männern stand, vielleicht auch weil ich fürchtete verurteilt zu werden für meine Erscheinung. So wie es schon oft passiert war, so wie der Fährmann nun mal angesehen wurde.
 

„Du arbeitest also für BigMom? Hab dich hier noch nie gesehen“

erhob der Captain als Erster die Stimme

„Und zum Henker einen guten Geschmack hatte die alte Schachtel schon immer“

Er lachte erneut, die beiden Mädchen Fenra und Valira sowie seine Männer stimmten mit ein. Nur ich stand reglos da und wusste kaum wie ich mich verhalten sollte.

„Er ist erst seit ein paar Wochen hier“

erklärte die blonde Valira, die dem Mann dabei schmunzelnd über die Schuler streichelte

„Er macht alles was Mommy ihm aufträgt. Und er beschützt uns wie ein süßer Wachhund“

„Beschützt euch?“

Er wiederholte die Worte und für einen Moment war ich mir nicht sicher ob es ihn verärgerte, dass ich für die Frauen zuständig war die er offenbar gerne als ‚seine’ Mädchen ansah. Erneut musterte er mich von Kopf bis Fuß und ich konnte nur knapp dem Drang entgehen mich umzudrehen und möglichst viel Abstand zwischen mich und ihn zu bringen. Nicht weil ich mich fürchtete, sondern weil ich das Gefühl nicht loswurde dass er mich mit Blicken gänzlich durchschauen konnte.

„Wie heißt du?“
 

Ich schluckte. Natürlich stellte er diese Frage, es war das Natürlichste was man bei einer neue Begegnung fragte. Ich war es immer gewöhnt gewesen den Kopf zu schütteln, noch viel mehr gewöhnt war ich es aber diese Frage gar nicht erst gestellt zu bekommen, weil jeder wusste wer ich war. Der Fährmann.

Doch noch nie hatte ich mich geschämt für meine Unfähigkeit zu antworten. Es war das erste Mal dass ich den Blick senken musste weil ich dem fragenden Blick nicht standhalten konnte. Ich öffnete den Mund, doch natürlich kam nichts heraus. Ich schämte mich nicht antworten zu können und ich schämte mich keinen Namen zu haben.
 

„Nenn ihn wie du möchtest“

Fenra antwortete an meiner Stelle und ich bemerkte ihren Blick, der eindeutig Mitleid mit mir hatte. Es war unangenehm sich eine solche Blöße zu geben und ich war es nicht gewöhnt solche Art Schwäche zu zeigen

„Du darfst uns doch auch nennen wie es dir gefällt und er ist einer von Uns, nicht wahr?“
 

„Wollt ihr mir weismachen jeder hier nennt dich, wie er will?“

wieder sah er mich an, erwartungsvoll und scheinbar neugierig. Ich lies den Blick gesenkt, wagte es jedoch nicht zu nicken. Der Augenblick der Stille fraß sich in mich wie eine hungrige Ratte in meinen Gedärmen.

„Wer bist du, wenn nicht mal die Mädchen hier deinen Namen kennen?“
 

„Fährmann“

Einer der anderen Freibeuter am Tisch erhob seine Stimme und zum ersten Mal jagte mein eigener ‚Name’ mir einen unangenehmen Schauer über den Rücken.

„Ich kenne den Kerl, Captain. Glaube jeder hier am Hafen kennt ihn“

Er sah mich misstrauisch an und ich sah jedes Vorurteil in seinen Augen, das sich all die Jahre über mich angesammelt hatte

„Ist mir neu dass er hier arbeitet, aber ist er eindeutig. Kahler Kopf, kein Wort in der Kehle, kein verdammter Name“

Der Mann nahm einen großen Schluck Rum und knallte das Glas unsanft auf den Tisch

„Hab gehört es bringt Unglück mit so Jemandem zu reden“
 

„Fährmann?“

Captain Fiddick wiederholte den Namen nachdenklich, schnippte dann mit den Fingern als sei ihm ein Geistesblitz gekommen

„Aye, Fährmann! Bist du wirklich DER Fährmann?“

Ich atmete tief ein und aus und fand endlich wieder genug Stolz um den Kopf zu heben. Mit flauem Gefühl im Magen sah ich ihm in die Augen und nickte, mein Griff an dem Tablett in meiner Hand festigte sich unbemerkt, weil ich nicht einschätzen konnte wie man auf diese Erkenntnis reagieren würde. Die Meinung der meisten Menschen über mich interessierte mich nicht, ich hatte längst aufgehört zu versuchen so etwas wie ‚Freunde’ zu finden. Doch dieser Mann.. ich hatte keine Erklärung dafür, doch ich wollte nicht dass dieser Mann schlecht von mir dachte.
 

Ich rechnete mit Allem, malte mir nahezu jede Reaktion aus. Ich kannte viele verschiedene: Misstrauen, Ablehnung, sogar Angst. Weil niemand wusste wer ich wirklich war. Weil ich ‚geheimnisvoll’ war, weil ich immer Aufträge bekam und niemand wusste woher. Weil ich immer Fracht brachte und niemand wusste was sie enthielt. Menschen mögen keine Dinge, die sie nicht ergründen können, wenn es Eines gab was ich in den letzten 14 Jahren besonders gelernt hatte, dann war es das. Menschen hassen Fremde.
 

„Das ist perfekt!“

Was? Hatte ich mich verhört? Perfekt?

Es wurde still, nicht nur um mich herum, die ganze Kneipe schien für einen Moment still zu werden. Selbst die Männer an den neben liegenden Tischen hatten den Atem angehalten. Der Captain lachte laut und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch

„Perfekt“

wiederholte er

„Mein Navigator ist durch einen... einen unglücklichen Unfall schwimmen gegangen. Ohne schwimmen zu können, bedauerlicherweise, hahaha! Du bist genau der Mann den ich brauche!“

„Captain! Hast du den Verstand verloren?“

einer seiner Männer war sofort von seinem Platz aufgesprungen

„Du hast doch keine Ahnung WER er ist? Die Crew wird meutern, wenn du den verdammten Fährmann aufs Schiff schleppst“

„Ich liebe Abenteuer“

entgegnete Fiddick nur mit einem breiten Grinsen

„Außerdem kennt er die See wie kein Anderer, aye? Sonst wäre er kaum allein in der Lage ein ‚Fährmann’ zu sein. Ein perfekter Navigator also“

„Aber Captain, er--?!“

„Ich gehe also richtig in der Annahme du WEIßT, wer der CAPTAIN ist?“

sein Tonfall wurde plötzlich scharf und herrisch, dass selbst die Mädchen leicht zusammenzuckten und der Mann neben ihm verstummte mit einem Mal. Für einen Moment war sein Blick nicht anders zu beschreiben gewesen als furchteinflößend, doch nur eine Sekunde später war wieder ein Grinsen auf seinen Lippen und er sah mich an

„Das ist also ein Angebot, Seemann! Werde Navigator auf der Nightingale“



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