Kein Entkommen
Erst auf der lauten Straße wurde ihr klar, was sie gerade getan hatte. Sie hatte zugesagt Seto Kaibas Frau zu werden, in einer so lockeren, selbstverständlichen Art und Weise, wie wenn man zusagen würde auf dem Heimweg Brötchen zu besorgen oder einen Platz neben sich im Kino freizuhalten. Diese Gelassenheit, die sie vor einigen Minuten gegenüber Seto Kaiba gezeigt hatte, schockierte sie. Sie hatte, wie eine berechnende Unternehmerin, ein gewinnbringendes Angebot angenommen; sie musste einfach nur seine Frau werden.
Tea konnte nicht fassen, worauf sie sich eingelassen hatte. Der Vertrag, welches in dieser dunkelroten Mappe immer noch in ihren Händen war, wog auf einmal viel zu schwer und schrie sie vorwurfsvoll an, wie konntest du nur sowas machen?
Nein, nein, so ist es nicht. Nun musste sie ihr Gewissen beruhigen, sie musste sich rechtfertigen.
Als erstes Tat sie damit was Gutes, nicht nur für die Tanzschule, die nunmehr nicht verkauft werden müsste und für die Kinder, die sie so ins Herz geschlossen hatte, sondern auch für Seto Kaiba, aber vor allem für seinen kleinen Bruder, der sonst gezwungen wäre seine einzige Familie zu verlassen.
Sie wusste wie die Kaiba Brüder aneinander hingen. Sie spürte die unendliche Geschwisterliebe bei jedem Zusammentreffen mit ihnen, damals, bei ihren gemeinsamen Abenteuern. Mokubas bewundernden Augen, die Seto Kaiba anschauten und ihn auf jeden Schritt und Tritt folgten, Seto Kaibas beschützende Art, welche, da war sie sich sicher, nur ein liebevoller Vater zu seinem Kind verspüren konnte. Kaiba wäre bereit sein Leben für Mokuba zu opfern, wie dieses eine Mal, als er sich in dem Schloss von Pegasus auf die Kante des Daches gestellt hatte und bereit war von den Wellen des Duell-Hologramms in das strömende Meer gerissen zu werden, würde Yugi ihn besiegen. Damals hatte sie Yugi aufgehalten. Sie wusste genau wie verzweifelt der stolze Seto Kaiba in diesem Augenblick gewesen sein musste und wie wichtig für ihn Mokuba war. Im tiefsten Inneren war er ein guter Mensch, den die Umstände gezwungen hatten eine Fassade aufzusetzen, um nicht mehr verletzt zu werden, um unerreichbar vor jeglicher Art von Schmerz zu sein.
Das war der eigentliche Grund warum sie zugesagt hatte. Sie wollte nicht, dass eine Familie auseinander ging. Dass noch zwei weitere Menschen auf der Erde unglücklich, und die mehreren dutzend Kinder in ihrer Tanzschule ihrer Träume beraubt wurden. Sie wusste wie stark der Schmerz sein würde, sie hatte ihn viele Male erlebt. Als ihr Vater die Familie verließ, wo sie gerade erst zehn Jahre alt war, als sie ihren Traum von der Tanzausbildung in New York aufgeben musste, als ihre Mutter vor zwei Jahren dem kraftraubenden Krebsleiden erlag. All diese Erfahrungen hatten sie geprägt und dazu gebracht im Leben alles zu Geben um Freude in die Gesichter der Menschen zu zaubern. So gut es ging, so oft es ging.
Deshalb würden sie heiraten. Mit allem Drum und Dran was eine Hochzeit bringen würde. Eine kirchliche pompöse Hochzeit mit vielen Gästen aus der High Society und natürlich viele Pressemitglieder. Sie wollten ja gerade erreichen, dass die Ämter, vor allem aber das Jugendamt, von dem Ereignis mitbekam. Vorher wäre aber noch die standesamtliche Trauung, wo sie juristisch in die Lebensgemeinschaft der Ehe eintreten würden. Damit würde Mokuba eine richtige Familie haben. Sie würde bei ihm einziehen und die Rolle der liebenden Frau einnehmen, natürlich gespielt, aber so, dass keine Zweifel aufträten. Das Spiel war gefährlich, würde der Schwindel bekannt werden, so wäre die Ehe nicht nur annulliert und Mokuba für immer weg, sondern sie hätten noch ein strafrechtliches Verfahren wegen Betrugs am Hals. Es müsste funktionieren, es müsste für ein ganzes Jahr funktionieren.
Seto Kaiba könnte jede beliebige Frau finden, die diese Rolle in Perfektion gespielt hätte. Er müsste sie nicht einmal bezahlen, denn es gäbe genug Frauen, die bereit wären für ein Jahr komplett ihr Lebensstil von einfach zu luxuriös umzuwandeln und die bezaubernde Gattin vom berühmten CEO zu werden. Deshalb fragte sie ihn an jenem Nachmittag im kleinen Café, warum gerade sie diejenige sein sollte. Die Antwort war einfach und doch sehr logisch. Es gab keine, die besser für die Rolle geeignet wäre. Sie würde ihn nach einem Jahr nicht betrügen, ihre Story für eine kurze Aufmerksamkeit in den Medien an die Presse verkaufen oder, schlimmer noch, ihn erpressen, da war er sich sicher. Mokuba kannte sie seit vielen Jahren und hatte eine enge freundschaftliche Bindung zu ihr, das würde auch das Zusammenleben erleichtern und die kleine Familie authentischer erscheinen lassen. Und letztendlich brauchte sie selbst Unterstützung mit ihrem kleinen Tanzstudio. Dieses Problem würde also auch gelöst werden.
Sie wäre perfekt für diese Rolle, das wusste er von dem Augenblick an, als er sie das erste Mal nach so vielen Jahren in diesem Ballettstück gesehen hatte. Sie war liebevoll und herzlich und hatte einen Umgang mit Leuten, der bemerkenswert war. Mokuba strahlte damals jedes Mal, als er von ihr sprach. Irgendwie konnte er jetzt nachvollziehen warum.
Seit dem Ballettbesuch und anschließender After-Show-Party konnte er sie nicht mehr aus dem Kopf kriegen. Sie war auf einmal überall präsent, in den Nachrichten, im Fernsehen, im Internet, in aller Munde. Selbst in seinen Gedanken. Er ertappte sich dabei, als er sein geschäftliches Treffen mit einem anderen CEO im Theater ausmachte, während des Stücks Der Schwanensee.
In den weiteren Vorstellungen dieses Stücks ging er alleine. Er könnte sich nicht mehr rechtfertigen, falls einer fragen würde, ob er nicht schon bei der Premiere anwesend gewesen sei, die Presse hatte ja von diesem Ereignis berichtet.
Er ließ es sich nicht entgehen sie wieder zu sehen, sie tanzen zu sehen und sie zu bewundern. Sie hatte all seine Sinne ergriffen. Sie hatte ihn gefangen genommen, gefangen in das Verlangen mehr von ihr zu sehen, mehr zu spüren und sie für immer neben sich zu haben. Niemanden zu erlauben nicht einmal einen falschen Gedanken über sie zu verlieren oder sie komisch anzuschauen. Er müsste sie haben, wenn auch nur für eine kurze Zeit, koste es was es wolle.
So etwas war ihm nie passiert. Nie hatte er sich durch eine Frau so ablenken lassen. Frauen waren in seinem Leben wie Schmetterlinge, hübsch und verführerisch und dafür da, um ihn Vergnügen zu bereiten, aber vor allem um sehr bald wieder aus seinem Leben zu verschwinden. Die meisten Affären ergaben sich aus den Umständen, aus Langweile und aus Bequemlichkeit. Er hatte keine Mühe jemanden zu erobern oder zu verführen. Die Frauen stürzten sich regelrecht auf ihn. Wenn sie sich also nicht wertschätzten, warum sollte er das tun?
Bei Gardner war es anders, das war schon immer so. Sie hatte keine Angst sich ihn gegenüber zu stellen, ihm ihre Meinung zu sagen und ihn zurechtzubiegen. Sie war und wäre niemals hingerissen von seinem Reichtum oder seiner sozialen Stellung. In ihren Augen würde er niemals Yugi Muto gleichkommen oder auf einem Level mit Joey Wheeler stehen. Sie wäre ein hartes Stück Arbeit, Arbeit bei der man sich nicht sicher sein könnte, dass sie am Ende fruchten würde.
Deshalb musste er eine Methode finden, eine wasserdichte, hundertprozentige Methode, die zum Erfolg führen würde.
Die Frau vom Jugendamt und ihre Bitte wären dabei sehr hilfreich.
Die nächsten Schritte waren schon längst klar: sie würden sich einige Male treffen. Mokuba würde sich freuen, wenn sie sie besuchen würde. Dann würde seine Kommunikationsabteilung langsam Gerüche in die Welt setzen, dass der CEO von Kaiba Corp. vorhabe zu heiraten. Nach einem Monat wilder Spekulationen würden sie ihre Verlobung offiziell ankündigen und nach einem Monat heiraten. So hätten sie nicht nur Zeit die Geschichte so authentisch wie möglich zu gestalten, damit ja keine Zweifel aufkommen könnten, sondern wären auch zeitlich gut dran, damit die Dame vom Jugendamt ihre Drohung nicht in die Tat umsetzen könnte.
Ein Rücktritt und ein Rückgängigmachen war nicht mehr drin.
Ihrerseits nicht, weil sie es nicht konnte, und seinerseits nicht, weil er es nicht wollte.