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Arme kleine Sophia

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Arme kleine Sophia

An einem lauen Sommernachmittag stand Hanna am Fuß des Berges und starrte auf ihre kleine Schwester hinab. Sie waren gemeinsam gekommen um hübsche Kiesel zu suchen, ein Hobby, für das sich die 7jährige Sophia schon immer sehr begeisterte. Stundenlang scheuchte Sophia ihre große Schwester über die felsigen Vorsprünge, immer auf der Suche nach einem neuen Schatz für ihre Sammlung. Und Hanna, die ihre Schwester über alles liebte, ließ es sich gern gefallen.

Der alte Berg war einer ihrer absoluten Lieblingsspielplätze, auch wenn manch einer behaupten mochte, dass Hanna schon viel zu alt war um mit ihrer kleinen, wie ihre Mitschüler zu sagen pflegten, fast-noch-ein-Baby-Schwester auf Schatzsuche zu gehen. Auch ihre Mutter sah das ganz und gar nicht gern, war der Berg mit seinen oftmals losen Gesteinsbrocken doch kaum mehr als eine simple Ansammlung verschieden großer Steine und als solche nicht ganz ungefährlich. Aber Hanna und Sophia wussten es besser: sie kannten den ollen Hügel wie ihre eigene Westentasche. Kein Stein blieb umgedreht, keine noch so kleine Ritze unerforscht. Auf jedem Vorsprung hatten sie schon mindestens einmal gesessen und sie wussten ganz genau welcher von den Felsen wacklig und welcher rutschig war. Um sie musste man sich wirklich nicht sorgen, schließlich war Hanna mit ihren fast 13 Jahren schon so gut wie erwachsen! Sie war also durchaus imstande, auf sich und ihre kleine Schwester aufzupassen.

Was habe ich nur getan …

Sophias zierliche Hand umklammerte einen hübschen silbergrauen Stein, der im Licht der träge untergehenden Sonne atemberaubend schön schimmerte. Sie war unglaublich stolz gewesen als sie ihn fand und hatte ihn sofort so hoch sie konnte in die Luft gereckt, damit ihre Schwester ihn von ihrer Position aus bestmöglich begutachten konnte. Hanna hatte ihr einen anerkennenden Daumen-hoch gegeben und ihre Schwester hatte sie glücklich angestrahlt. Sophias Lächeln war immer unglaublich ansteckend, man musste sie einfach lieb haben. Vor allem wenn sie so dastand, in ihrem marineblauen Sommerkleidchen und den weißen Turnschuhen, schlicht und ergreifend zum Anbeißen mit ihren schulterlangen schokoladenbraunen Haaren.

Wieso habe ich nicht auf Mutter gehört …

Sophia war Hannas liebster Sonnenschein. Wann immer die 13Jährige aus der Schule kam erwartete die kleine Schwester sie schon mit allerlei spannenden und lustigen Geschichten von ihrem Tag. Ob die Schule, das Mittagessen, der Nachmittagshort, der abenteuerliche Heimweg samt streunender Katze oder das Erledigen der Hausaufgaben – Sophia fand immer ein Thema, das beredet, eine Geschichte, die erzählt werden wollte. Sie verbrachten oft den ganzen Nachmittag damit, sich gegenseitig zuzuhören und sich gemeinsam die tollsten Abenteuer auszudenken. Ihre Mutter hatte es oft schwer sie überhaupt ins Bett zu bekommen, so viele Dinge wollten noch besprochen, so viel gelacht und heimlich unter der Bettdecke gekichert werden.

Was soll ich jetzt nur machen?

Sophia verstand sich auf Anhieb mit jedem und Hanna war immer wahnsinnig stolz auf sie, wenn sie in der Schule eine gute Note bekam oder jemand sie zu ihren Buntstiftbildern mit Komplimenten überhäufte. „Ja“, dachte sie sich dann jedes Mal, „Das ist MEINE kleine Schwester! Das klügste Kind in ihrer Schule, ein wahres Wunderkind!“. Und sie reckte stolz das Kinn in die Höhe als wäre sie es die gelobt worden war. Irgendwann würde dieses kleine Mädchen sie noch überflügeln, aber Hanna freute sich schon darauf. Gefühle wie Neid oder Eifersucht waren den Schwestern gänzlich fremd, zu groß war die gegenseitig empfundene Zuneigung und der Respekt für die jeweils andere.

Wie soll ich das Mama erklären?

Hannas schreckgeweitete stahlgraue Augen starrten unablässig ihre Schwester an, unfähig, auch nur einen einzigen Moment zu blinzeln. Zu sehr war sie von dem Geschehen vereinnahmt. Sie stand auf wackeligen Beinen am unteren Rand des Berges und die Sonne ging langsam und unendlich träge unter, es würde noch Stunden dauern ehe es wirklich zu dämmern begann. Also noch mehr als genug Zeit für weitere Erforschungen in den Hügeln und Steinen!

Wie kann ich ihr jemals wieder unter die Augen treten?

Mit zittrigen Fingern fuhr Hanna sich durch das hellbraune kinnlange Haar, den Blick nach wie vor auf ihre süße kleine Schwester gerichtet. Sie krallte die Hände fest in ihren Haarschopf, sodass sie sich diverse Strähnen ausriss, doch sie bemerkte es kaum. Ihre Augen und ihr Verstand waren immer noch völlig gefangen vom Anblick ihrer Schwester. Nicht eine Sekunde hätte sie wegsehen können, selbst wenn man versucht hätte sie gewaltsam dort wegzuzerren wäre ihr Blick immer noch wie festbetoniert an Sophia geheftet.

Wieso habe ich nicht gehorcht?

Mit ungelenken Schritten taumelte Hanna auf Sophia zu, stolperte dabei mehrmals fast über ihre eigenen Füße, doch es kümmerte sie nicht. Langsam löste sie die zitternden Hände wieder aus ihren Haaren, mehrere lose Strähnen segelten sanft zu Boden. Ein merkwürdiges Gefühl der Taubheit ergriff sie mit eiserner Hand. Es breitete sich von ihrem Herzen aus, vergiftete ihren Verstand und blockierte jeden einzelnen Gedanken. Jeden, bis auf einen:

 

Sophia?“

 

 

Hanna hatte ihre Schwester fast erreicht. Ihre Beine versagten ihr den Dienst und sie ließ sich ungeschickt auf ihre Knie fallen, setzte sich plump auf ihre Unterschenkel. Sie erschauderte als sie ein widerliches platschendes Geräusch unter sich vernahm und ihre kurze Jeans-Shorts sich gierig mit der Flüssigkeit voll saugte, in die sie sich gerade gesetzt hatte. Ein eisiger Schauer jagte über ihren Rücken, Gänsehaut kroch ihre nackten Arme und Unterschenkel hoch. Hanna wagte nicht, den Blick zu senken, sie hatte aus einem unerfindlichen Grund Angst vor dem, was sie dort entdecken könnte. Dabei war es sicher nur eine Pfütze! Was machte es schon, wenn sie sich in eine gesetzt hatte? Sie war schon wesentlich verdreckter nach Hause gekommen, also kein Grund zur Sorge. Es gab jetzt Wichtigeres, um das sie sich kümmern musste. Ja, ein bisschen schmutziges Wasser war nicht der Rede wert. Es war sicher nur Wasser … Ganz bestimmt … Doch wenn sie sich da so sicher war, wieso zitterte sie dann so? Warum hatte sie das schier unbeschreibbar grausame Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, jeden Moment ersticken zu müssen?

Sag mir, dass das nicht passiert ist …!

Unendlich langsam streckte Hanna eine zitternde Hand nach ihrer Schwester aus, doch sie erreichte sie nicht. Der Abstand war zu groß, sie war noch zu weit von ihr entfernt. Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus als sie aus dem Augenwinkel einen kleinen Fleck an ihrer Hand bemerkte, doch sie blendete ihn aus so gut sie konnte. Unter ihr platschte es erneut als sie sich nach vorne fallen ließ, auf ihre freie Hand stützte und mit dem ganzen Körper nach vorne beugte. Eine leise Stimme wurde irgendwo in ihrem Hinterkopf laut und drängte sich nach vorn in ihr Bewusstsein.

Bitte nicht!

Sophias zierlicher Unterarm lag ausgestreckt auf dem schmutzigen Boden, die Finger hielten immer noch den silbergrauen Stein. Ihre helle Haut war übersät mit braunen Erdflecken und … da war doch noch etwas … Eine andere Farbe …

Nein!

Die Stimme in Hannas Kopf wurde ungeduldig, wollte ihr unbedingt etwas mitteilen, doch sie ignorierte sie so gut sie konnte.

Oh Gott, bitte, bitte nicht!!

Hanna berührte unendlich zärtlich die Hand ihrer Schwester und musterte sie mit sorgenvollem Blick. Das Zittern ihrer Hände breitete sich auf ihre Arme, ihre Schultern aus und sie konnte sie kaum noch ruhig halten. Sie zog sich dicht an ihre Schwester, setzte sich vorsichtig neben sie. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf:

 

Hoffentlich hat sie sich nichts gebrochen. Hoffentlich hat sie sich nicht zu arg wehgetan.

 

Wie auf Stichwort brach die Stimme aus ihrem Unterbewusstsein hervor und zerschmetterte mit grässlichen, boshaften Worten Hannas Herz.

 

Ein paar gebrochene Knochen dürften hier das geringste Problem sein.

 

Tränen schossen Hanna in die Augen als sie den Kopf schüttelte und ihre kinnlangen Haare wild hin- und herflogen. Es war alles in Ordnung, Sophia ging es bestimmt gut. Vielleicht hatte sie sich das Bein gebrochen, aber das würde schon wied- …

 

Die Steine haben sie zerquetscht!

 

Nein, nein, oh bitte, nein!

Unaufhaltsam strömten die Tränen über Hannas Gesicht als sie liebevoll mit bebenden Fingern die Hand ihrer Schwester hielt und über die kälter werdende Haut strich. Der Fleck auf Hannas Hand verschmierte und ruinierte Sophias helle Haut.

Bitte sag, dass das nicht wahr ist! Das kann einfach nicht wahr sein!

 

Du bist Schuld, du wusstest, dass Mama euch verboten hat hier zu spielen!

 

Hannas Schluchzen erfüllte die Luft und sie begann vor- und zurückzuschaukeln, Sophias kleine Hand immer noch zwischen ihren Fingern. Der silbergraue Stein fiel zu Boden und blieb dort unbeachtet liegen. In der Ferne zwitscherten die Vögel.

 

Sie hat euch sooft gesagt, dass es gefährlich ist, aber du wolltest nicht hören!

 

Hannas ganzer Körper schüttelte sich und bebte ohne Ende, die Tränen flossen über ihre Wangen, tropften auf die trockene Erde unter ihr. Sie versuchte, Sophia herauszuziehen, doch sie rührte sich keinen Millimeter. Als sie Anstalten machte, ihre Schwester beim Namen zu rufen, entstieg ihrer Kehle nur ein jämmerliches Krächzen.

 

Schau, was du angerichtet hast!!

 

Es zerriss ihr das Herz, den Verstand, einfach alles. Die Welt um sie herum verlor alle Farbe, das Singen der Vögel seine Schönheit, das Strahlen der Sonne seine Wärme. Das Rascheln der Blätter um sie herum schien sie zu verhöhnen, ihr zuzuflüstern, dass es ihre Schuld war. Sie konnte es nicht ertragen, ihr Herz schien zu zerreißen und ihr Kopf zu zerplatzen unter den unermüdlichen Anschuldigungen ihres Unterbewusstseins und ihrer eigenen Stimme, die nur immer und immer und immer wieder flehte, Sophia möge sich bewegen. Doch das tat sie nicht.

BITTE NICHT!!!

Angst schnürte Hanna die Kehle zu, Schuld und Schmerz überfluteten sie. Was sollte sie jetzt nur tun? Was konnte sie tun? Was würde ihre Mutter, ihr Vater sagen? Sie wusste, dass sie die Rettung verständigen musste, aber sie schaffte es einfach nicht, sich zu bewegen.

 

Ein Arzt kann ihr nicht mehr helfen! Niemand kann das!!

 

Gott, sie konnte Sophia doch nicht so liegen lassen! Schniefend und tränenüberströmt bemerkte sie den kleinen silbergrauen Kieselstein am Boden, das letzte Erinnerungsstück an ihre Schwester.

NEIN!

Sie musste mehrmals danach greifen, ihre zitternden Finger ließen ihn immer wieder auf die Erde zurückfallen. Er war so unglaublich schön, wie er glänzte und sich von seiner besten Seite zu präsentieren schien. Wie er sich dem Sonnenlicht förmlich entgegen reckte um noch strahlender, noch perfekter zu sein. Hanna drehte sich der Magen um als sie auf seiner Oberfläche dieselben kleinen farbenfrohen Sprenkel entdeckte wie sie auch auf Sophias Unterarm strahlten und ihre eigenen Hände verunreinigten.

SOPHIA!!

Ihre bebenden Finger schlossen sich um den Stein, hielten Sophias leblose Hand. Sie schloss die Augen, immer noch kullerten die Tränen ihre Wangen hinunter.

Ich kann nie mehr nach Hause! Sophia! SIE IST TOT!!

Ein leises, schnell lauter werdendes Grollen überdeckte das Geräusch ihres Kummers, übertönte ihr Schluchzen und Klagen. Das Knacken von Ästen gesellte sich hinzu, der Lärm schwoll immer weiter an, wurde immer lauter, immer lauter, immer lauter …

Hanna erkannte das Geräusch, hatte sie es doch nur Minuten zuvor schon einmal gehört. Trotz ihrer geschlossenen Augen bemerkte sie den Schatten, der rasend schnell auf sie zustürzte. Sie hob den Kopf, die letzten Tränen bahnten sich ihren Weg nach unten, die letzten Sonnenstrahlen fielen auf ihr Gesicht, ein letzte Gedanke erfüllte ihren Geist.

Es tut mir Leid, Sophia!!



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