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Der Schwur des Wolfes

von

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2. Kapitel - Zwecklos

Ich ließ mich zurücksinken. Saß einfach so da, regungslos mitten in meinem Zimmer und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. So viele Bilder stürmten auf mich ein. Ich glaubte, keine Luft zu bekommen. Wie konnte ich nur so dumm sein? Es war so offensichtlich gewesen und ich hatte nicht daran geglaubt. Ich schloss meine Augen, holte tief Luft und atmete lautstark wieder aus. ‚Lilly, jetzt heißt es Ruhe bewahren.‘ Durchzudrehen half jetzt weder mir noch sonst irgendjemandem. Als ich glaubte, wieder klar denken zu können, lehnte ich mich ein kleines Stück aus dem Fenster. Der Wolf war verschwunden und ich konnte es ihm nicht verübeln. Aber er konnte von mir nicht verlangen, dass ich nicht so reagiere, wenn mir klar wird, was genau los war. Ich schloss mein Fenster und wollte von außen jetzt nichts mehr an mich ranlassen. Erst mal musste ich diese Erkenntnis verarbeiten, dann konnte das Nächste folgen. In meinem Zimmer tigerte ich auf und ab und erinnerte mich dabei an Sean. Mein Blick fiel auf die Uhr. Es war jetzt zwölf Uhr, heute war schon wieder Schule. Was sollte ich bloß tun? Ich konnte nicht weiter machen wie bisher und mir einreden, dass nichts geschehen wäre. Aber freudestrahlend durch die Weltgeschichte laufen und davon wissen, kam für mich auch nicht infrage. Ein Kissen an meine Brust gedrückt saß ich auf dem Bett und zermarterte mir meinen Kopf. Wie nur sollte ich es anstellen?

Ich hatte beschlossen zur Schule zu gehen und zu versuchen den Tag so gut wie möglich zu bestehen. Nachdem ich gefrühstückt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, schrieb ich Carly eine SMS, dass sie mich nicht abholen müsse, da ich ein wenig Zeit für mich brauchte und zu Fuß zur Schule gehen würde. Sie solle nicht böse sein und wir würden uns dann dort sehen. Ihre Antwort kam prompt. Sie meinte, sie würde es verstehen und auf dem Platz vor der Schule auf mich warten. Bevor mein Vater das Haus verließ, fiel mir ein, worum Carly mich gebeten hatte. „Ach, Dad, meinst du, du könntest dir vorstellen im Sommer eine Praktikantin aufzunehmen?“ „Wieso? Möchtest du bei uns anfangen?“ Er schien hellauf begeistert. „Nein, eine Freundin von mir würde gern. Ich sollte nur vorfühlen, aber fragen würde sie dich gern selbst.“ „So eine kleine Hilfe im Sommer wäre bestimmt nicht schlecht. Ich denke, das geht in Ordnung.“ „Super, ich richte es ihr aus. Danke. Schönen Tag!“ „Dir auch, hab dich lieb.“ Sagt‘s und verschwand. Ich stellte meine Tasse in die Spüle und machte mich auf den Weg zur Schule. Die Sonne schien mir ins Gesicht und ich war heilfroh darüber zu Fuß zu gehen. Ich hätte Carly niemals folgen können, wenn sie im Auto mit mir gesprochen hätte. Während ich meinen MP3-Player anschaltete und mir die Kopfhörer in die Ohren schob, machte ich mir so meine Gedanken über all das, was gestern geschehen war. Ich war mir noch immer nicht sicher, wie ich mich von jetzt an verhalten sollte. Nichts mehr war so wie zuvor und ich hatte Angst, dass es alles noch viel schlimmer zwischen uns werden würde. Mir war klar, dass er es mir niemals erzählt hätte, aber er hätte es dann wenigstens klüger anstellen und von unserem Haus fernbleiben können. Wie stellte er sich das jetzt vor? Was würde ich wohl tun, wenn er mich darauf ansprach? Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass er mir etwas antun würde. Aber ich kannte ihn nicht gut genug, vielleicht war er ganz anders, als es auf den ersten Blick schien. Vielleicht war er sehr aggressiv und hatte es bisher nur gut vor allen verborgen?! Schwarze Wolken schoben sich vor die Sonne und ich begann zu frieren. Mit einem Mal wünschte ich mir, ganz tief im Innern, dass er hier wäre. Und dann, innerhalb nur weniger Sekunden, brach ein solcher Schauer los, wie es lange nicht vorgekommen war. Ich war sofort klitschnass, aber ich rannte nicht zur Schule, denn dadurch würde ich auch nicht wieder trocken werden. Mit gesenktem Kopf ging ich weiter und hatte plötzlich das Gefühl, dass mich der Regen nicht mehr traf. Ich sah neben mich und da ging Sean und grinste mich an. Er hielt einen Schirm über uns beide und ich konnte nichts anderes tun, als ihn anzusehen. Nachdem ich die Kopfhörer herausgenommen und den MP3-Player in der Tasche verstaut hatte, schluckte ich vorsichtig und meinte: „Sag mal, arbeitest du überhaupt nicht?“ „Noch nicht.“ „Suchst du?“ „Ja, wenn ich dich nicht gerade aus der Schule reiße oder dich dorthin begleite…“ Er lachte leise, aber verstummte kurz darauf, weil ich es ihm nicht gleichtat. „Was willst du, Sean? Außer mir den Schirm zu halten.“ Mir lief es eiskalt den Rücken herunter, als er mich ernst mit seinen dunkelgrünen Augen musterte. Am liebsten wäre ich vor ihm davongerannt, aber ich hielt seinem Blick stand und wartete auf seine Antwort. „Du bist vollkommen anders als alle, denen wir zuvor begegnet sind.“ Was wollte er denn damit sagen? Ich meine, wenn er mich darauf hinweisen wollte, dass ich verrückt war, dann würde ich ihn enttäuschen müssen, das wusste ich schon. „Du hast meine Frage damit nicht beantwortet. Was willst du?“ „Ich schätze, ich muss dir einiges erklären.“ „Ich wüsste nicht was.“ Ich hatte mich also unbewusst für Verleugnung entschieden, na schön. Das würde ich durchziehen. So konnte ich mich wahrscheinlich am besten davor schützen. Aber wovor denn? Es gab nichts, wovor ich mich schützen müsste. Ich wurde weder von ihm angegriffen noch getötet. Er machte mir nicht ein bisschen Angst. „Okay, du willst es also leugnen! Wenn das deine Entscheidung ist…“ Abrupt blieb ich stehen. „Hör zu, das was da gestern Nacht in unserem Garten gewesen ist…meine Güte, das geht über den normalen Menschenverstand hinaus. Du kannst nicht von mir verlangen, so etwas für normal zu halten, es einfach hinzunehmen. Ich will nicht durchdrehen, ganz gewiss nicht und deswegen ist es wahrscheinlich besser, wenn wir uns darüber einig sind, dass ich dort gestern nicht…“ Ich schluckte, sollte ich es tatsächlich aussprechen? „…deinen Bruder gesehen habe. Mal abgesehen davon, dass er gestern gar nicht mehr hätte aufstehen sollen. Soweit ich mich erinnern kann, hatte ich ihm gesagt, dass er schlafen sollte, so viel er kann.“ Ich warf ihm einen Seitenblick zu und sah, wie kurz ein Lächeln über sein Gesicht huschte. Wir gingen weiter und für eine Weile herrschte Stille zwischen uns. „Nun, dann sind wir uns einig“, erklärte er vorsichtig. „Danke.“ Die Schule tauchte vor uns auf und ich verabschiedete mich von ihm: „Man sieht sich.“ „Ja, da bin ich mir sicher.“

Carly wartete, wie verabredet, auf dem Schulhof und ich umarmte sie erleichtert. Es würde alles seinen gewohnten Gang gehen, alles würde normal weiterlaufen. Zumindest so normal, wie es in einer Stadt wie unserer laufen konnte. Und dann fiel mir ein, dass ich Mr. Hastings heute eine Entschuldigung für mein Fehlen beziehungsweise mein schnelles Verschwinden liefern musste. So viel zum Thema ‚normal weiterlaufen‘. „Was sag ich denn Hastings?“ Carly sah mich erschrocken an. „Nun ja, vielleicht die Wahrheit?!“ „Dann fragt er doch bei Taylors Vater nach und ich glaube, der weiß nichts davon. Dann wird er meinen Vater hinschicken und dem hab ich auch nichts gesagt…“ „Und einfach nur sagen, dass du einem Freund helfen musstest, wird ihm nicht reichen.“ Wir liefen jetzt ins Schulgebäude, denn langsam wurde es doch etwas unangenehm im Regen. Als wir im Flur standen, schüttelte ich meine Haare etwas durch und strich mir ein paar Strähnen aus der Stirn. „Ich habe nur leider keine Zeit mehr, mir noch etwas anderes zu überlegen. Wir haben jetzt mit ihm.“ „Meistens kommen einem die besten Ideen, wenn man es spontan auf sich zukommen lässt.“ Sie lächelte entschuldigend. „Mir wird auch gar nichts anderes übrig bleiben.“ Es war zum Verzweifeln. Gerade, als ich dachte, dass sich das schlimmste Thema soeben erledigt hatte, tauchte auch schon ein Neues auf. Wir traten in den Klassenraum. „Ms. Connor?! Ich höre…“ So war er schon immer. Präzise, auf den Punkt. Aber musste es vor der ganzen Klasse sein? Ich begann meinen Mund zu öffnen, aber ich schloss ihn wieder. Was nur sollte ich tun? Die Tür zum Klassenraum öffnete sich erneut und Mr. Hastings wurde kurz abgelenkt. „Mr. Wood! Beehren Sie uns also auch noch?!“ In diesem Moment wusste ich nicht, was größer war. Der Schock, die Verwirrung oder die Überraschung. Das konnte nicht sein. Sicher sprach er jetzt gerade mit Sean, der mir nicht gesagt hatte, dass er als Dozent an unsere Schule kam. Eine andere Erklärung wäre gar nicht möglich gewesen, denn Taylor lag zu Hause. Ja, zu Hause, um seine Wunde nicht wieder aufzureißen. Um sich zu schonen und zu erholen. „Entschuldigen Sie, der Regen hat mich auf dem Motorrad überrascht.“ „Setzen Sie sich. …Also, Ms. Connor, ich warte!“ Aus den Augenwinkeln konnte ich erkennen, dass Taylor völlig normal ging. Keine Schmerzen, er krümmte seinen Rücken nicht einmal ein bisschen. Was war los? Sollte das alles ein makaberer Scherz sein? Mein Blick huschte kurz zu Carly, genau darauf bedacht nicht zu dem Jungen zu sehen, der mich mit seiner Anwesenheit fast in den Wahnsinn trieb. Sie war genauso fassungslos wie ich. Ich blickte zu Hastings hoch, öffnete den Mund und konnte selbst kaum glauben, dass ich es aussprach: „Steht Ihr Angebot von vorgestern noch?“ Heute kann ich nicht mehr sagen, wer von uns beiden überraschter war. Aber der Mann mit dem schütteren Haar sah mich an, als wäre ich ein Engel. Er riss die Augen auf und…ich konnte es selbst kaum glauben…er lächelte. Fröhlich, nicht so wie sonst schadenfroh. „Sie nehmen also an?“ ‚Du kannst jetzt noch zurück und dir eine andere Geschichte einfallen lassen‘, schrie es in mir. ‚Sei nicht dumm, denk dir was anderes aus.‘ „Ähm…ja?“ „Oh, ich wusste, Sie würden es sich noch anders überlegen. Setzen Sie sich Ms. Connor. Bis morgen werde ich Ihnen die neuen Bücher besorgt haben. Ich kläre alles ab, keine Sorge.“ Wie betäubt ging ich zu meinem Platz. ‚Wie kann man nur so dumm sein‘, brüllte ich mich innerlich an. ‚Das hast du nun davon.‘ Ich sah niemanden in der Klasse an. Erst als ich saß, wandte ich meinen Kopf zur Seite, um Carly anzublicken. Sie verstand die Welt nicht mehr und runzelte die Stirn. „Was ist passiert?“ „Ich habe soeben eingewilligt, in den Leistungskurs Mathe zu wechseln.“ Sie starrte mich mit offenem Mund an und nahm dann einfach nur meine Hand, um mich zu trösten.

Es sprach sich wie ein Lauffeuer in meinem Freundeskreis herum. Bald darauf wusste es die ganze Schule. Ständig wurde ich mit Fragen bombardiert, wie ich zu so etwas auch noch Ja sagen konnte. Wie lange ich diese Idee schon hatte, was ich mir davon versprach? Ich hörte keinem von ihnen zu. Warum die gleich annahmen, dass es von Anfang an meine Idee gewesen war, in diesen Kurs zu gehen, war mir im Nachhinein ein Rätsel, aber ich konnte mich darum jetzt nicht kümmern. Mir bereitete es viel mehr Kopfzerbrechen, warum zum Teufel, Taylor Wood in der Schule war. Den ganzen Tag verhielt er sich völlig normal, so als wäre er nie verletzt gewesen. Selbst als ihn Farrah bedrängte und ich kurz davor war, sie von ihm weg zu schubsen, weil sie sich immer wieder an die Seite lehnte, die verletzt war, verzog er nicht mal das Gesicht. Da konnte doch irgendetwas nicht stimmen. Und ich hatte mir das gewiss nicht eingebildet. Ich sah noch immer die Verletzung vor mir, wenn ich die Augen schloss oder war das am Ende doch ein total makaberer Scherz der Wood-Brüder? Aber wer bitte ist so grausam zu Menschen, die sich zuvor noch Sorgen um jemanden gemacht haben? Und den Blutgeruch hatte ich mir doch auch nicht eingebildet. Hier lief etwas ganz furchtbar falsch.

 

Kurz vor Ende der Mittagspause hatte ich die Mädels in der Cafeteria sitzen lassen und war zu meinem Schließfach gegangen, um meine Bücher zu holen. Meine Haare waren noch immer nass und hatten ein Eigenleben entwickelt. Ich ordnete sie, machte mir einen provisorischen Knoten ins Haar, schnappte mir die Bücher und klappte die Tür des Schließfaches zu. Mir entfuhr ein leiser Aufschrei. Mit der einen Hand umklammerte ich die Bücher und die andere lag über meiner Brust, um mein Herz zu beruhigen. „Meine Güte, hast du mich erschreckt.“ „Entschuldige“, sagte er, aber seine Miene verriet nicht, ob er es ehrlich meinte. „Kann ich dir irgendwie behilflich sein, Taylor?“ Ich umfasste jetzt mit den Armen die Wälzer und drückte sie fest an mich. Ein geringer Schutz, wenn ich daran dachte, was er für Kräfte haben musste. ‚Oh, Lilly, du wolltest es doch leugnen.‘ Innerlich schlug ich mir selbst gegen den Hinterkopf und blickte zu ihm auf. Er lehnte lässig an der Wand mit den Schließfächern und ich hörte ihn leise atmen. Sein Blick huschte für einen kleinen Moment über die Bücher und meine Hände und ganz kurz entstand eine Falte zwischen seinen Augenbrauen, die ich mir nicht erklären konnte. Dann sah er mir wieder ernst in die Augen. „Ich hab gehört, du hast mit Sean gesprochen heute Morgen…“ „Du nicht auch noch, bitte!“ Ich seufzte leise. „Und was willst du mir zu diesem Thema noch sagen, was dein Bruder nicht schon gesagt hat?“ „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob es dir gut geht?!“ Ich biss mir leicht auf die Unterlippe und sagte dann verlegen: „Ich zweifle noch ein bisschen an meinem Geisteszustand, aber ansonsten ist alles okay.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. War das wirklich Taylor, der da vor mir stand? Der, der mich so finster angeblickt hatte, als wir uns beim Volleyball gegenüber standen? Der, der mich gestern anfangs nicht an seine Wunden lassen wollte? Der, dessen Augen mich gerade in seinen Bann zogen? „An deinem Geisteszustand, wieso?“ Ich war zurück in der Wirklichkeit. Er klang nicht belustigt, nahm mich also ernst. „Warum bist du heute schon wieder in der Schule? Deine Wunde war…das war furchtbar. Versteh mich nicht falsch, es ist natürlich toll, dass du keine Schmerzen mehr hast und so, aber…“ Er beugte sich ein kleines Stück zu mir hinunter und wisperte: „Du hast dich fürs Leugnen entschieden!“ Mehr nicht. Der Duft seines Aftershaves umhüllte mich leicht und ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich mich immer mehr zu ihm beugte. So als wolle ich den Duft für mich ganz allein. Als wolle ich ihn tief in mich aufsaugen, um ihn für den Rest meines Lebens tief in mir zu bewahren. „Ich verstehe.“ Er schien die Enttäuschung, die in meiner Stimme schwang, herauszuhören. Sein rechter Mundwinkel zuckte, aber es ging so schnell, dass ich mir nicht sicher war. Taylor legte seinen Kopf schief und blickte kurz den Flur runter. „Danke“, flüsterte er und ich lächelte kurz. „Das sagtest du doch gestern schon.“ „Ich weiß, aber ich war…anfangs nicht sehr nett zu dir. Und das hätte nicht jeder getan.“ „Du warst verletzt und ich hab gern geholfen. Es freut mich jedenfalls, dass es dir jetzt wieder besser geht.“ ‚Auf wundersame Weise‘, dachte ich und versuchte eine Antwort in seinen Augen zu finden, aber da war einfach nichts. ‚Du wolltest es abstreiten. Willst du es wieder zurücknehmen, nur um zu erfahren, warum er heute schon wieder lässig durch den Flur wandert?‘ ‚Ja‘, schrie es in mir, doch ich ignorierte die Stimme, die mich zu ihm drängte. Die mich aufforderte, ihn näher kennen zu lernen. Die mich anflehte, ihn nie wieder fortzulassen. Ich strich mir über den Kopf und sagte dann leise: „Ich werde dann mal zum Klassenraum gehen. Klingelt bestimmt gleich.“ „Ja, ich muss auch wieder.“ Er stieß sich mit der Schulter von der Wand ab und nickte zum Abschied. Ich sah ihm nach, bis er hinter einer Ecke verschwand. Als er weg war und es zum Ende der Mittagspause klingelte, merkte ich erst wie butterweich meine Knie sich anfühlten. Die ersten paar Schritte waren merkwürdig, aber ich atmete tief durch und ging dann mit den Mädels zur nächsten Stunde. Ich erzählte keiner von ihnen, auch nicht Carly, was eben passiert war. Und das war, wie ich feststellen musste, noch nie geschehen.

 

Endlich hatten wir das Wochenende erreicht. Ich war noch nie so froh gewesen. Mein Vater hatte sich mit ein paar Freunden in die Natur begeben und war fischen. Ich hatte also das ganze Haus für mich. Kurz nachdem ich aufgestanden war und kontrolliert hatte, ob mein Vater bereits gefahren war, wusste ich jedoch nichts mit mir anzufangen. Carly und ihre Eltern waren mit Kelly zu Verwandten gefahren. Mia und Elli waren wegen des Gipses auch nicht in der Lage etwas zu unternehmen und auf die anderen Mädels hatte ich keine Lust. Die waren immer so begeistert vom Shoppen und anderem ‚Mädchenkram‘. Nicht, dass ich mir nicht gern neue Klamotten kaufte oder einfach einen Wellness-Tag veranstaltete, aber dieses Wochenende musste doch noch etwas anderes für mich bereit halten. Mein Vater hatte gesagt, dass ich nicht zu nah an die Wälder im Osten der Stadt gehen sollte, da dort die Wölfe herumschlichen. Sie hatten sich wohl dort einquartiert. Was merkwürdig war, denn das Haus der Woods befand sich auf der westlichen Seite des kleinen Städtchens. Es hatten sich also noch mehr Wölfe hierher begeben. Ich wusste, dass ich so etwas gar nicht denken durfte, denn ich wollte ja nicht zugeben, was ich vor ein paar Tagen in unserem Garten gesehen hatte, aber ich machte mir immer wieder solche Gedanken und irgendwie ließ es mich nicht los. Taylor hatte die letzten Tage vor dem Wochenende noch nicht mit Carly gesprochen. Jedes Mal hatte ich darauf gewartet, dass sie nach einer Stunde, die wir nicht gemeinsam hatten, auf mich zulief und es mir in jeder Einzelheit erzählte. Doch es geschah nicht. Eine leise Hoffnung keimte in mir auf, aber ich verbannte den Gedanken jeden Tag aufs Neue. Eigentlich hatte ich mir geschworen am Wochenende nicht an ihn zu denken, aber ich tat es. Und ich hatte das Gefühl, dass es mir gefiel. Ja, und wie. Immer wenn ich ihn mir vorstellte, war da dieses rasende Herzklopfen und die stoßweise Atmung. Ich bekam weiche Knie, tat vor den anderen Mädels aber immer so, als würde es mich nicht interessieren, wenn sie wieder darüber rätselten, wie muskulös er war. Schließlich kannte ich ja seine Bauchmuskeln.

Nachdem ich gefrühstückt hatte, erledigte ich den Abwasch, schnappte mir meine Tasche, den vorbereiteten Einkaufszettel und schritt die blühende Allee hinunter zum Supermarkt. Die Sonnenstrahlen taten mir gut und ich hielt mein Gesicht in dieses wunderbare Licht. Es war mir egal, wie viel Zeit ich dadurch vertrödelte, schließlich hetzte mich ja keiner beziehungsweise wartete niemand. Es war nicht voll bei Mr. Darren und ich hatte schnell alles, was ich wollte. „Einen wunderschönen Tag wünsche ich noch…“ „Ebenso, meine Liebe“, antwortete er mir, als ich den Laden verließ und sah mir erstaunt nach. Das konnte ich spüren, aber es war so wundervoll in die Sonne zu kommen, dass ich mir nichts anmerken ließ. Ein paar Meter vor unserem Haus jedoch erstarrte ich. Ich dachte nicht, dass ich das je wieder spüren würde, aber da war es. Dieses beklemmende Gefühl in der Lunge und diese Last auf den Schultern. Ich glaubte, dass mich Jemand oder Etwas beobachtete und konnte mir geradezu vorstellen, wie schwarze böse Augen mich anstarrten. Es war so albern von mir gleich an etwas Böses zu denken, aber nur das konnte es bedeuten, dass ich fast ohnmächtig wurde, weil mir die Luft aus der Lunge entwich. So als hätte ich vergessen, wie man einatmete. Wie durch einen dicken wabernden Nebel drang das Geräusch eines Motorrades an meine Ohren und ich hoffte inständig, dass mir irgendjemand half. Wie durch ein Wunder hielt die Maschine direkt neben dem Bordstein an meiner linken Seite und eine Hand fasste mich an der Schulter und drehte mich zu sich. Urplötzlich schnappte ich nach Luft und das brachte meinen Brustkorb fast zum Bersten. „Lilly, ist alles in Ordnung? Geht es dir gut? Was ist denn passiert?“ Es war Taylor und noch nie in meinem Leben war ich ihm dankbarer gewesen. Ganz sachte nickte ich, konnte ihn aber dennoch nicht ansehen. Meine Lippen waren leicht geöffnet und mein Brustkorb hob und senkte sich heftig bei jedem weiteren befreienden Atemzug. Endlich blickte ich zu ihm auf, doch er beobachtete das kleine Waldstück hinter mir. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich vor einigen Tagen selbst genau hier stehen geblieben war, um dem Knacken zu lauschen. Anscheinend war er zum gleichen Ergebnis wie ich damals gekommen, dass es wohl nichts gewesen zu sein schien. Jetzt sah er mich forschend an. Ich hatte mich langsam wieder unter Kontrolle und richtete mich auf. Unbewusst war ich in mir zusammen gesunken. „Geht es wieder?“ Ich nickte zaghaft und fragte: „Was zur Hölle war das?“ Noch immer lag seine Hand auf meiner Schulter und ich glaubte, dass mir gleich auch noch die Knie wegknicken würden. Sein Unterkiefer spannte sich an und er antwortete ernst: „Ich habe keine Ahnung, aber ich wünschte, ich wüsste es.“ Er bemerkte meinen fragenden Ausdruck und tat so, als könnte es auch gar nichts Gefährliches sein. Doch ich wusste tief in mir, dass es doch so etwas in der Art sein musste. Und ich wusste auch, dass er es mir selbst dann nicht erzählen würde, wenn ich ihn direkt danach fragte. „Hattest du hier in der Gegend was zu tun?“ Ich umfasste den Einkaufsbeutel fester und wandte mich zu unserem Haus um. Taylor ahnte, was ich vorhatte, hob sein Motorrad auf - das er nicht einmal aufgebockt hatte - und schritt neben mir her. „Ich wollte einfach mal die Straßen abfahren. Ich hab noch nicht viel von der Stadt gesehen und da mein Vater jetzt hier ist, wollte ich kurz aus dem Haus kommen.“ Mein Gefühl sagte mir, dass das nicht der einzige Grund war, aber er wollte mir nicht mehr erzählen und ich fragte nicht weiter. „Ihr habt die Woche noch ohne euren Vater hier gewohnt?“ „Er musste sich noch um die letzten Formalitäten in unserem alten Haus kümmern. Deshalb waren auch noch nicht viele Möbel drin als du am Dienstag da warst.“ „Ich habe mich nicht umgesehen damals, ist mir nicht aufgefallen.“ „Aha.“ Aus den Augenwinkeln sah ich, dass er kurz lächelte. In unserer Auffahrt bockte er sein Motorrad dann auf und nahm mir den Einkaufsbeutel ohne ein weiteres Wort ab. Ich war ihm dankbar, denn als ich die wenigen Stufen zur Veranda hinauf ging, um die Tür zu öffnen, tat meine Lunge noch ein wenig weh. Er schob mich sanft in die Haustür, ehe ich ihm die Sachen abnehmen konnte und folgte mir langsam in die Küche. Erst dort stellte er die Tüte auf der Theke ab. „Danke, nicht nur für das Reintragen.“ „Keine Ursache.“ Während ich mich daran machte, den Einkauf in die vorgesehenen Schränke zu packen, ließ er sich auf einen der Stühle sinken. „Ein wirklich chices Haus…“ „Meine Mutter hat es damals ausfindig gemacht und sich sofort darin verliebt. Ich verstehe sie noch immer.“ „Ist sie das?“ Sein Finger deutete auf ein Bild an der Wand im Flur. Es zeigte eine blonde wunderschöne Frau, mit kristallklaren blauen Augen und einem Mund, der einem kleinen Schmetterling ähnelte. Die Augen hatte ich von ihr. Mein Haar ähnelte ihrem, aber die Farbe ihres war ein paar Nuancen heller. Ich nickte nur und allein mein Blick schien zu verraten, was geschehen war. „Tut mir leid, ich wollte nicht…“ „Nein, ist schon in Ordnung. Es ist über fünf Jahre her, aber sie fehlt mir wahnsinnig.“ Ich seufzte kurz, ließ mich auf den anderen Stuhl sinken und betrachtete meine Finger. „Sie war Krankenschwester. Eine Wundervolle, sollte ich dazu sagen. Als sie damals mit dem Auto, aus mir noch heute unerklärlichen Gründen, von der Straße abkam, war sie gerade auf dem Rückweg von der Arbeit. Sie hat in dem großen Krankenhaus, hinten an der 69ten gearbeitet und eigentlich gibt es da keine sonderlich schwierigen Kurven, aber…“ Ich schüttelte leicht den Kopf und fuhr fort: „Mein Vater wurde gerufen, um als Erster am Unfallort Hilfe zu leisten. Es war ein Schock für ihn, als er feststellte, dass sie es war und er ihr nicht mehr helfen konnte. Für uns beide war es nicht einfach, aber“, ich wandte meinen Blick zum Foto, „wir sind ein eingespieltes Team und ich bin für jeden Tag mit ihm dankbar.“ Taylor blickte mich an und ich schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. „So, genug Trübsal geblasen!“ Während ich die leere Tüte wegpackte, richtete er sich auf. „Ich werde mal wieder, schließlich hab ich dich lange genug aufgehalten.“ „Hast du ganz und gar nicht. Wirklich nicht. Wärst du nicht vorbei gekommen, wüsste ich jetzt immer noch nichts mit mir anzufangen.“ „Ach komm, so schlimm kann es doch nicht sein?!“ Ich zog meine Schultern wortlos nach oben, während ich ihn zur Tür begleitete. „Mein Vater kommt irgendwann heute Nacht vom Angeln zurück, Carly ist das Wochenende über bei Verwandten und die anderen Mädels, na ja…Zwei sind in Gips und die anderen tun Dinge, die ich nicht so wirklich amüsant finde. Ich werde also das Haus auf Vordermann bringen…“ „Ich werde Möbel schleppen müssen, ist auch nicht gerade lustig, aber es muss gemacht werden. Wir sind ja nur zu dritt.“ „Ja, klingt für uns doch nach einem spaßigen Wochenende.“ „Tut es! Wir sehen uns dann am Montag.“ Er hob kurz die Hand und wandte sich zu seinem Motorrad um. „Bis Montag und danke noch mal…für vorhin!“ „Ich sagte doch, keine Ursache.“ Taylor startete seine Maschine und fuhr dann die Straße wieder runter, Richtung des Wood-Hauses.

Nachdem die Waschmaschine befüllt und angestellt war, ging ich hoch in mein Zimmer und stellte Musik an. Dann krempelte ich die Ärmel hoch und reinigte einmal das obere Stockwerk gründlich durch. Ich war so gegen halb Drei damit fertig und hatte gerade die Wäsche zum Trocknen aufgehängt, als mir wieder das furchtbare Gefühl in den Sinn kam, dass ich vorhin auf dem Nachhauseweg gespürt hatte. Dieses Beobachtet werden und die Schmerzen in der Lunge waren einfach zu oft vorgefallen, als das es mir jetzt noch wie ein Zufall vorkam. Ich konnte das nicht länger ignorieren… Wie von Sinnen schnappte ich mir die Hausschlüssel und zog mir festere Schuhe an. Dann trat ich aus der Hintertür in den Garten und machte mich weiter auf den Weg in den angrenzenden Wald. Was immer es gewesen war, ich würde es herausfinden. Egal, was auch auf mich zukommen würde.

 

Ich war jetzt bereits eine Stunde unterwegs und achtete darauf, die Richtung nicht zu östlich einzuschlagen. Schön und gut, dass ich herausfinden wollte, was es gewesen war, aber ich musste nicht direkt den Wölfen in die Arme laufen. ‚Lächerlich‘, dachte ich, ‚du hattest schon Wölfe im Haus und lebst noch.‘ Mit jedem weiteren Schritt wurde mir klar, dass ich es gar nicht mehr leugnen wollte. Oh ja, ich wusste es. Taylor auf jeden Fall und wahrscheinlich sein Vater und Bruder ebenso, waren Wölfe. So, jetzt war es raus. Mein Mitschüler war ein großes Raubtier. Ein wunderschönes aber gefährliches Raubtier, das mich mit einem Hieb töten könnte, wenn es nur Lust dazu hätte. Ich hoffte inständig, dass es niemals dazu kam.

 

Dann plötzlich stand ich auf einer der schönsten Lichtungen, die ich je gesehen hatte. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass es so etwas Wundervolles hier in der Nähe gab. Weiches, grünes Moos überwucherte den Boden und die Baumstämme. Eichen, Kiefern, Tannen und Buchen wuchsen dicht an dicht nebeneinander. Warme zarte Sonnenstrahlen brachen durch die Blätter und ich wandte meinen Blick gen Himmel. Die weißen Wolken zogen kaum merklich darüber hinfort und die Vögel zwitscherten vergnüglich vor sich hin. Irgendetwas hatte mich hierher gezogen. Es war erstaunlich, mit welcher Klarheit ich das plötzlich wusste. Nicht ein Windhauch war zu spüren, als es plötzlich zwischen den Bäumen vor mir knackte. Ich wandte mein Gesicht der Stelle zu, von der ich das Geräusch vermutete und kniff die Augen ein Stück zusammen. Eine ganze Weile war weder etwas zu hören noch zu sehen, aber dann war da dieses merkwürdige Knurren. Innerlich betete ich zum Himmel, dass es sich nur um einen Hund aus der Stadt handelte, der aus einem der Gärten ausgebüchst war, aber ich erkannte schnell, dass es das nicht war. Eine schwarze riesige Pfote erschien im Sonnenlicht und es folgte eine noch dunklere Schnauze mit gefletschten Zähnen. Mich trennten nur fünf Meter von diesem monströsen Wolf und seinen scharfen Klauen, aber ich wagte nicht mich zu bewegen. Ich wusste, dass es sowieso keinen Sinn hatte, denn er würde sowohl schneller als auch stärker sein und ich hatte nicht die geringste Chance zum sicheren Haus zu flüchten. Seine schwarzen Augen beobachteten mich und ein Schrei blieb in meiner Kehle stecken. Wer sollte mich auch hören? Ich war zu weit entfernt von den Wanderwegen und selbst wenn, hätte ich niemand anderen da hinein ziehen wollen. Es würde reichen, wenn ich einem Wolf zum Opfer fiel. Langsam kam er auf mich zu und ich spürte, wie die Angst meine Beine zum Zittern brachte und ich heftig zu atmen begann. Erst jetzt hörte ich diese vollkommene Stille, in der wir uns befanden. Es war als ständen wir im Auge eines Sturms. Die Vögel waren verschwunden. Er verringerte den Abstand zwischen uns auf drei Meter und blieb dann stehen. Ich war mir nicht sicher, ob er überlegte, wie er mich am ehesten fressen wollte oder ob er darauf wartete, dass ich vor ihm floh, um ihm noch mehr Appetit zu machen. Aber ich wusste irgendwie, dass ich mich nicht rühren sollte. Abgesehen davon, hätte ich es sowieso nicht gekonnt. Er schien das zu ahnen und schlich langsam weiter. Es waren jetzt nur noch zwei Meter und er zog den Kopf tief zwischen seine Schultern. Obwohl ich panische Angst vor ihm hatte, bewunderte ich seine Beschaffenheit. Er war fast so schön wie Taylor, als der nachts in unserem Garten aufgetaucht war. Das schwarze Fell glänzte in der Sonne und die Ohren zuckten zu den Seiten, um jedes störende Geräusch sofort orten zu können. Seine Augen behielten mich fest im Blick und der Schwanz wippte leicht hin und her. Der schwarze Wolf knickte seine Vorderbeine ein Stück ein, um zum Sprung anzusetzen und ich zog scharf die Luft ein, als wir beide das Knurren hinter mir hörten. Es klang noch beängstigender als das des Wolfes vor mir. Jetzt würden sich also gleich Zwei um ihre Mahlzeit streiten…

 

Ich wagte es nicht, meinen Blick von dem Tier vor mir zu nehmen. Wenn ich eben von hinten zuerst angegriffen werden würde, war das nicht zu ändern. Und um ehrlich zu sein, machte mir das Knurren hinter mir nur halb so viel Angst. Es klang gefährlich, keine Frage und dennoch beruhigte es mich auf eine Art und Weise, die mir unvorstellbar erschien. So als würde es sagen wollen: Wenn du dich bewegst, kann ich dich nicht vor ihm beschützen. Bleib, bitte, ruhig! Ich traute mich nicht zu hoffen, dass es sich um den Jungen handelte, der mich schon einmal beschützt hatte. Die Enttäuschung wäre zu schmerzhaft gewesen und doch schlug mir das Herz bis zum Hals. Wenn er es nun doch war…? Das schwarze wilde Tier vor mir starrte nun das an, welches sich hinter mir befand. In seinen Augen war zu erkennen, dass er wankte. Vielleicht überlegte er gerade, wie viel Zeit ihm blieb, mich tödlich zu verletzen, um nicht ohne Fressen vertrieben zu werden. Oder aber, er fürchtete seinen Gegner mehr, als mir lieb war. Möglicherweise täuschte ich mich doch und es war ein Wolf, der ebenso plante mich zu verspeisen, wie der vor mir. Der Hunger schien größer zu sein, als die Angst und das schwarze Tier duckte sich zum Sprung. Langsam schloss ich die Augen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Es tat mir so leid, dass ich meinem Vater keine Nachricht hinterlassen hatte, wo ich hingegangen war. Ich hatte mich heute Morgen noch nicht einmal von ihm verabschiedet. Aber ich war mit niemandem im Streit auseinander gegangen und ich wusste, dass mein Vater nach ein wenig Trauerzeit seinen Weg gehen würde. Er war stark und hatte genug Freunde, die ihm beistehen würden. Ja, ich war bereit. ‚Ich bereue nichts, dass ich in meinem Leben getan habe, wenn er mich jetzt wirklich töten will‘, dachte ich und sah ihm fest in die Augen. Seine Pupillen waren stark erweitert. Nur ein schmaler Rand der schwarzen Iris war noch erkennbar. Der Wolf schüttelte seinen Kopf, so als könne er irgendetwas nicht ganz glauben, legte ihn dann schief. Und dann schob sich ein breitschultriger junger Mann an mir vorbei und versperrte dem Tier die Sicht auf mich. Er spannte Muskeln und Sehnen an und ein Angst einflößendes Knurren entsprang seiner Kehle.

 

„Verschwinde, du hast hier nichts zu suchen“, wisperte er bedrohlich, „Das hier ist unser Gebiet, also gehört sie uns.“ Ich zuckte kaum merklich zusammen und hoffte sehr, dass er das nur sagte, um den Anderen zu vertreiben. Der Wolf fletschte die Zähne weiter und fauchte wild. Instinktiv drückte ich mich an Taylors Rücken und spürte, sogar durch sein schwarzes T-Shirt hindurch, die beruhigende Wärme, die von ihm ausging. Erst dadurch fiel mir wieder ein, wie warm Sean an dem Abend gewesen war, als er mich von Henrys Billardhalle nach Hause brachte. Damals hatte ich gedacht, es läge daran, wie erschöpft ich war, dass mir alle Anderen viel wärmer vorkamen, aber das schien bei Wölfen so üblich zu sein. ‚Dann hatte Taylor also auch kein Fieber gehabt, als ich ihn behandelte‘, dachte ich. Ich kam mir so dumm vor. Alles war so offensichtlich gewesen und ich hatte nichts begriffen. Erneut fauchte und knurrte der Wolf, doch Taylor zuckte nicht einmal mit der Wimper und wisperte: „Ich werde nicht vor dir zurückweichen. Such dir gefälligst so wie die anderen dein Fressen. Es gibt genug kleine Tiere in den Wäldern!“ Sie starrten einander an und das Raubtier fletschte wieder die Zähne. „Ich sagte, sie gehört UNS!“ Das Brüllen hallte von den Bäumen wider und als es verebbte, warf der Wolf ihm einen Blick zu, der sagte: ‚Ich werde sie mir holen, früher oder später!‘ Erschöpft und ängstlich lehnte ich meine Stirn an Taylors Rücken und schloss die Augen. Ich wusste genau, dass er es wahr machen würde. In diesem Blick lag so viel Zuversicht, so viel Zorn, dass es unmöglich war, etwas anderes anzunehmen. Dann plötzlich spürte ich eine warme Hand auf meinem Rücken. Taylor hatte einen Arm nach hinten geschlungen und drückte mich seitwärts, um mich noch ein wenig mehr abzuschirmen. Doch fürs Erste wandte sein Gegenüber sich von uns ab und verschwand im Schatten der Bäume. Einige Momente lang verharrte Taylor in seiner Position und lauschte auf die Geräusche rings um uns. Mir war bis jetzt gar nicht aufgefallen, dass ich wie Espenlaub zitterte. Erst als sich Taylor zu mir umdrehte und mich in seine Arme zog, spürte ich all die Angst, die sich in mir aufgestaut hatte. „Es ist alles in Ordnung, er ist weg…“ Sein Griff wurde fester und ich konnte gar nicht glauben, wie sehr ich es genoss. Ganz leise schluchzte ich ein Mal und blickte dann zu ihm auf. „Leugnen ist wohl zwecklos“, wisperte ich und drückte mich wieder an ihn. „Lass uns von hier verschwinden…“

 

Zuerst dachte ich, er würde mich nach Hause bringen, doch er hatte wohl gespürt, dass ich jetzt nicht alleine bleiben wollte bzw. konnte. Kurzerhand hatte er mich auf seine Maschine gesetzt, mir den zweiten Helm übergestülpt und war mit mir zu sich heim gefahren. Während der Fahrt musste ich mich an ihm festhalten und war geschockt, wie sehr es mir gefiel, die sich anspannenden Muskeln an seinem Bauch zu fühlen. Ein gewaltiger Umzugswagen stand vor dem Haus der Woods und Sean und sein Vater schleppten gerade einen Schrank hinein. Als beide wieder herauskamen, sah ich die Ähnlichkeit der Wood-Männer. Alle drei waren sie groß und braungebrannt. Sie schienen aus einer Gegend zu kommen, wo die Sonne häufig schien. Beneidenswert, dachte ich und ging schüchtern zu Taylors Vater, der sich, nach einem kurzen fragenden Blick zu seinem jüngsten Sohn, lächelnd vorstellte. „Kenneth Wood. Freut mich, dich kennen zu lernen, …“ „Lillian Connor, aber Lilly reicht vollkommen. Mich freut es ebenso, Sir. Hallo, Sean.“ Der nickte mir lächelnd zu und nahm dann einen kräftigen Schluck aus einer Wasserflasche. Mr. Wood hatte dunkelgrüne Augen, dunkler noch als Sean und braunes Haar. Also hatten seine Söhne die schwarzen Haare von ihrer Mutter geerbt. „Was führt dich in unser bescheidenes Heim?“, fragte Kenneth und ich blickte ihm in die Augen. Es war Taylor, der mir zu Hilfe kam. „Sie ist allein zu Hause und ehe ihr die Decke auf den Kopf fällt, dachte ich, bringe ich sie mit.“ Die beiden mussten in seinem Blick eine Menge gelesen haben und schauten mich erstaunt an. „Wenn Sie also Hilfe benötigen, ich stehe gern zur Verfügung.“ Ich war Taylor wahnsinnig dankbar, dass er nichts von dem Vorfall erwähnt hatte und schob bereits die Ärmel hoch. Kenneth lächelte leicht und meinte dann: „Das freut mich aufrichtig, aber denk nicht, du bist nur dann gern gesehen, wenn es um den Einzug geht…“ „Danke. Wirklich nett von Ihnen.“ Alle drei vermittelten mir das Gefühl, dass ich hier willkommen war und ich lenkte mich sofort von den Vorkommnissen im Wald ab, indem ich mir eine Kiste schnappte. Sie war beschriftet und so fand ich leicht ihren Bestimmungsort.

 

Es war ein beeindruckendes Haus, von innen wie außen. Obwohl es sich mitten im Wald befand, versprühte es einen Charme, der mich sofort ruhiger werden ließ. Und mal ehrlich, zwischen mindestens zwei Wölfen, musste ich mich vor dem einen Schwarzen dort draußen doch nicht fürchten. Von außen glich es einem alten Bauernhaus, an dessen Fassade sich wilder Wein und Hopfen heraufrankten. Innen waren dazu passende alte Bauernmöbel zu finden, aber auch neueres Mobiliar, wie zum Beispiel die Wohnzimmereinrichtung und die Küchenschränke. Vor den Fenstern waren die Bretter abgemacht worden, was mich sehr beruhigte und dennoch vermied ich es, das Zimmer zu betreten, wo ich Taylor blutüberströmt vorgefunden hatte. Der Abend neigte sich Neun Uhr zu und wir hatten alle Möbel und Kisten ins Haus geschafft. Sie würden noch eine Weile brauchen, bis sie sie geleert hatten, aber das Gröbste war erledigt. Gerade als sie sich auf die Couch gesetzt hatten, um eine Trinkpause zu machen, verschwand ich kurz ins Bad. Ich wusch mir das Gesicht und die Hände. Überprüfte die Frisur und entschloss mich dann, die Haare offen zu lassen. Da sich nur ein kleiner Flur zwischen dem Wohnzimmer und dem Gäste-WC befand, konnte ich, obwohl ich es wirklich nicht darauf anlegte, hören, worüber die Drei sprachen. „Dad, er kommt immer weiter in unser Gebiet. Ich weiß nicht, wie lange er sich von uns noch vertreiben lässt“, das war Taylor. „Was genau hat er gesagt?“, fragte ihn sein Vater und ich war überrascht diese Frage zu hören. Es war ein Wolf gewesen, wie hatte der etwas sagen können? Gefaucht und geknurrt hatte er, aber gesagt? „Er meinte, dass es nicht länger in unserer Hand liegen würde und er…“ Taylor unterbrach seinen Satz, um laut die Luft in seiner Lunge auszustoßen. „Er will SIE, Dad. Und ich konnte in seinen Augen erkennen, dass er es wahr machen wird. Wir können sie nicht ständig beschützen, aber ich lasse nicht zu, dass er sie sich holt.“ Jetzt wandte sich Sean an seinen Vater: „Er wird nicht der Einzige in der Gegend bleiben. Es werden mehr kommen und…du hast es doch auch gespürt. Sie alle werden merken, was für eine…, ich weiß nicht, ob ich es so nennen kann,…Kraft von ihr ausgeht.“ „Ja, da ist mehr als wir ahnen. Mehr als sie wahrscheinlich selbst ahnt“, wisperte Kenneth, während ich mein Gesicht fragend im Spiegel betrachtete. Dann fragte er: „Weiß sie über uns bescheid?“ Es klang, als wollte Sean gerade beginnen zu reden, doch Taylor schien ihn zu unterbrechen und ich konnte hören, wie er kurz schnaubte. Sollte wahrscheinlich ein kurzes Lachen sein. „Sie sagte vorhin, Leugnen ist wohl zwecklos.“ Sean brach in haltloses Gelächter aus und ich spürte, wie ich rot anlief. „Sie hat sich so vehement vor mir dagegen gewehrt, aber ich wusste, dass sie es nicht ewig abstreiten wird“, meinte er noch immer unter Lachen. „Sie weiß es also?!“ „Sagen wir mal, sie hat eine kleine Ahnung. Ich war etwas unvorsichtig an einem Abend…“ Es schien ihm peinlich zu sein, das ausgerechnet vor seinem Vater zugeben zu müssen. „Dann werden wir sie einweihen. Wenn sie es will!“ Ich versuchte so laut wie eben möglich, die Tür zum Bad aufzuschließen und trat gefasst über den Flur ins Wohnzimmer zurück. Sean grinste noch immer, nur Taylor und sein Vater schauten sich ernst über den Couchtisch hinweg an. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber wäre es vielleicht möglich, dass mich jemand nach Hause bringt? Es ist schon ziemlich spät und mein Vater wird bald vom Angeln kommen. Er weiß nicht, wo ich bin und ich will ihm keinen Herzinfarkt verpassen, wenn ich es vermeiden kann.“ Taylor stand schneller auf, als ich es erwartet hätte und auch Sean schien verblüfft über das Verhalten seines Bruders. Die beiden brachten uns zur Tür und ich drückte Sean zum Abschied und reichte Kenneth die Hand. „Du warst uns wirklich eine sehr große Hilfe, vielen Dank. Wenn du morgen wieder Lust hast vorbei zu schauen, dann ruf doch an und einer von uns holt dich ab.“ Er reichte mir einen Zettel mit der Telefonnummer des Hausanschlusses und lächelte auf mich hinunter. Meine Güte, die waren wirklich groß. „Ich habe gern geholfen und vielleicht komm ich auf das Angebot zurück, danke!“ Dann folgte ich Taylor die Treppe hinunter und er lotste mich zu einem schwarzen Ford, ehe ich zu seinem Motorrad abbog. „Um diese Uhrzeit wollen wir doch die Nachbarn nicht ärgern, oder?“ „Stimmt. Mrs. Dalloway würde wahrscheinlich sofort die Polizei rufen…“ Er blickte belustigt zu mir hinunter, als er mir - ganz der Gentleman - die Tür öffnete und ich einstieg. Als er neben mir am Steuer Platz nahm, sagte ich: „Das war kein Witz, Taylor. Die macht das wirklich. Sie hat mal die Polizei benachrichtigt, als ein paar Scheinwerfer eines Autos zu lange an waren. Die hätten wohl direkt in ihr Haus geleuchtet und sie konnte nicht schlafen.“ Sein Lächeln erstarb und er fuhr Richtung Straße. Ich winkte seiner Familie zum Abschied und er fragte: „Wie ist die Geschichte ausgegangen?“ „Leider kann man sie nicht ignorieren, deshalb ist die Polizei wirklich zu uns raus gefahren. Als sie eintrafen war Scott längst weg und mir war das Ganze natürlich ultrapeinlich, gerade weil mein Vater nicht gewusst hatte, dass ich an dem Abend weg war. So konnte ich es ihm und den netten Herrn von der Polizei, natürlich Freunde meines Vaters, erklären. Dabei war Scott nicht mal fünf Minuten in der Auffahrt stehen geblieben. Und mit diesem Tag war auch meine böse Zeit der Jugend vorbei, obwohl sie, wenn ich es recht bedenke, nie richtig begonnen hat. Ich war nie der Typ fürs heimlich wegschleichen und mit Jungs wild in einer dunklen Ecke rumknutschen.“ „Und wie lange ist deine kurze böse Phase jetzt vorbei?“ Er versuchte, nicht allzu interessiert zu klingen, das spürte ich, aber ich ließ es mir nicht anmerken. „Drei Jahre. Scott war damals 17 und hatte den Führerschein gleich mit 16 gemacht, um Mädchen aufzureißen. Heute lebt er mit seiner festen Freundin in einer kleinen Wohnung im Süden der Stadt. Sie ist schwanger und die beiden werden wohl demnächst heiraten.“ Ich blickte nach draußen in die Dunkelheit und sagte dann nach einer kurzen Pause: „Mich hat in den letzten drei Jahren nicht ein Junge an der Schule ernsthaft interessiert. Die meisten verfallen sowieso eher Farrah oder Carly.“ Weil ich ihn nicht ansah, konnte ich nur aus tiefstem Herzen hoffen, dass er herausgehört hatte, was ich damit eigentlich meinte. Er sagte nichts dazu, aber ich konnte sehen, dass er ganz leicht lächelte, als ich mich soweit unter Kontrolle hatte, um mich zu ihm umzudrehen. „Von wo seid ihr eigentlich hergezogen?“ ‚Ganz schlaue Frage, Lilly. Ehrlich. Willst du nicht noch mit ihm übers Wetter reden?‘ „Wundert mich, dass du das noch gar nicht von jemand anderem in der Stadt gehört hast…“ Erst da fiel mir wieder ein, was Holly aus der Drogerie erzählt hatte. „Es soll eine kleinere Stadt gewesen sein als unsere. Wenn du mich fragst unmöglich, aber ich lass mich da gern eines besseren belehren.“ „Wusste ich doch, dass über uns schon getratscht wird… Sagt dir die Stadt Kentwood in Louisiana was?“ „Nein, im Moment nichts.“ „Liegt ziemlich weit im Süden, deshalb war ich auch etwas geschockt, als mein Vater verkündete, dass wir in eine kleine Stadt im Norden ziehen, wo es öfter Regen als Sonne gibt.“ „Kulturschock, ja?“ „Nah dran zumindest. Trotzdem bin ich froh, dass wir von da weg sind. Irgendwann merkst du einfach, wenn die Leute dich nicht mehr da haben wollen. Sie waren von Anfang an ziemlich merkwürdig, aber nach dem Tod meiner Mutter vor acht Jahren, haben sie sich völlig von uns abgewandt. Sie war wohl das Einzige, was uns je mit ihnen verbunden hat.“ Ich sah ihn von der Seite an und wagte nicht zu fragen, was passiert war. Allein das traurige Glitzern in seinen Augen zu bemerken, war schlimm genug. Jetzt wandte er seinen Kopf zu mir um und sagte nur das eine Wort: „Raubtiere!“ Ganz kurz nur hoben sich seine Fingerknöchel weiß vom Lenkrad hervor und ich wisperte: „Oh, Taylor, das tut mir so wahnsinnig leid.“ „Das ist doch nicht deine Schuld. …Wir haben es gemacht wie du und dein Vater. Zusammengehalten und die Tage miteinander noch mehr geschätzt.“ Ich wollte ihm so gern sein Lächeln zurückbringen, aber da bemerkte ich schon, dass er in meine Straße fuhr und kurz darauf hielten wir vor dem Haus. Das Auto meines Vaters stand noch nicht in der Einfahrt und innerlich hüpfte mein Herz auf und ab. Gerade als ich mich abschnallte und mich von ihm verabschieden wollte, sah er mich an und meinte: „Ich bring dich noch zur Tür, wenn du erlaubst.“ „Okay.“ Wir stiegen gemeinsam aus und gingen wortlos nebeneinander den Weg zur Haustür. Während ich meinen Schlüssel hervorkramte - ich ließ mir dabei mehr Zeit als sonst -, schob er die Hände in die Taschen seiner Jeans. Ich schloss auf und stellte mich in den Hausflur. „Tja,…“, entwich es ihm und ich konnte ihm nur beipflichten. „Ja,…“ „Vielleicht kommst du ja morgen vorbei?“ „Ja, vielleicht. Wenn mein Vater nichts weiter vorhat. Er ist da ziemlich spontan.“ „Die Nummer hast du ja. Die Zeit ist uns eigentlich auch immer egal.“ „Ist gut.“ „Dann…werde ich mal wieder fahren.“ Taylor wandte sich um und ich berührte ihn an der Schulter. Nur ganz kurz sah ich dieses wundervolle Glänzen in seinen Augen, aber das reichte mir, um genug Mut zu fassen. Ich küsste ihn ganz sanft auf die Wange und flüsterte nahe seines Gesichtes: „Danke, für Alles!“ Dann trat ich in den Flur zurück und er verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. Es sah zum Niederknien aus. „Hab ich sehr gern gemacht.“ ‚Gleich ist es soweit und ich werde ohnmächtig‘, dachte ich und umfasste mit einer Hand den Türgriff von innen, um mich abzustützen. „Schlaf gut!“ „Du auch, Lilly.“ Er wandte sich jetzt endgültig um und ich schloss die Tür hinter ihm. Mein Herz raste wie wild und ich glaubte, dass es im ganzen Haus zu hören sein musste. Wieder waren meine Knie butterweich und ich wusste, wo ich am nächsten Tag sein würde. Der Motor des Wagens wurde gestartet und ich lief überglücklich die Treppe hinauf. Am liebsten hätte ich vor Glück geschrien, aber ich wollte Mrs. Dalloway keinen Grund zur Benachrichtigung der Polizei geben.
 

Es war seit langem die erste Nacht, die ich ohne furchtbar beängstigende Träume verbrachte. Mitten in der Nacht kam mein Vater noch mal in mein Zimmer, aber ich war zu müde vom Kisten schleppen, und reagierte nicht auf ihn. Er schloss die Tür wieder und ich ließ mich endgültig in den Schlaf fallen.
 

Am nächsten Morgen stand ich mit meinem Vater um Acht Uhr auf. Während ich mich duschte und nur mit einem, fest um meinen Körper geschlungenen, Handtuch vor meinem Kleiderschrank stand, deckte er den Tisch. Egal, was er plante, ich würde wieder zu den Woods fahren. Nichts und niemand würde mich davon abhalten können. Ich zog mir ein weißes Tanktop und eine schwarze Röhrenjeans an und schlüpfte in meine lilafarbene Lieblingsfleecejacke. Im Wetterbericht hatten sie wieder Regen und heftigen Wind angekündigt und ich wollte auf alles gefasst sein. Als ich die Treppe hinunterstieg, schüttelte ich das noch leicht nasse Haar durch. Ein Hauch von meinem Lavendelshampoo umfing mich und mein Vater schnupperte mit seiner Nase in meine Richtung. „Du riechst wie deine Mutter.“ „Tatsächlich?“ Er lächelte fröhlich und traurig zugleich. „Ja, himmlisch. Komm, Frühstück ist fertig.“ Wir begannen zunächst still zu essen und tranken unseren Kaffee, dann setzte er an: „Und irgendwas vor heute?“ „Eventuell. Hast du denn was für uns geplant?“ „Nein, um ehrlich zu sein, kommen Steve, Murray und Doug vorbei, um mit mir das Spiel anzusehen.“ Ich hatte vergessen, dass wieder Baseball-Zeit war. „Da klink ich mich dann wohl eher aus.“ „Das habe ich mir gedacht. Aber, wenn du was mit mir machen willst. Ich weiß, dass Carly nicht da ist und…“ „Wer bin ich denn, dass ich dir das Spiel verbiete?! Wenn du nichts dagegen hast, leih ich mir dein Auto aus und fahr zu Freunden.“ „Zu welchen Freunden?“ Mein Blick musste mich verraten haben. So ein Mist, ich war für ihn schon immer ein offenes Buch gewesen. Er schien aber auch aufmerksamer als sonst, wenn ich mir sein Auto auslieh. „Fährst du zu einem Jungen?“ „Nun ja, es sind drei. Eher ein Mann und seine zwei Söhne. Kenneth Wood hat mich eingeladen.“ „Aha…“ Noch immer hielt ich seinem Blick stand. „Zum Essen eingeladen?“ „Nein, sie haben gestern die Möbel bekommen und ich habe meine Hilfe angeboten. Sie werden sicher noch nicht fertig sein und er meinte, dass ich herzlich willkommen bin. Natürlich nicht nur als Hilfe beim Einzug.“ „Natürlich nicht… Ist nicht einer von seinen Söhnen in deinem Alter?!“ „Ja, Taylor.“ Ich trank einen Schluck und erst dann fiel mir auf, was er damit meinte. „Oh, Dad. Ich fahre da nicht hin, um mich verkuppeln zu lassen und das hat Mr. Wood auch gewiss nicht vor.“ „Da fällt mir ein, wollte nicht einer von denen am Dienstag lang kommen?“ „Ja, aber das Thema hatte sich dann schon wieder erledigt.“ Er grummelte so etwas wie: „Na, die sind ja zuverlässig!“ Aber ich reagierte nicht. Er würde sie früh genug kennen lernen und merken, wie toll und nett sie alle waren. Wir frühstückten zu Ende und er schnitt das Thema nicht mehr an. Als wir das Geschirr weggestellt und den Tisch abgeräumt hatten, sagte er: „Denk an die Versammlung heute Abend.“ „Ja, Acht Uhr, wie immer.“ „Mhm!“ Ich ging nach oben, um meine Zähne zu putzen und meine Haare trocken zu föhnen. Als ich sie dann zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte und die Treppe hinunter gegangen war, schnappte ich mir den Hörer und wählte die Nummer der Woods. Es klingelte zwei Mal, dann hob jemand den Hörer ab. „Wood!? Sean am Apparat. …Mann, Taylor, verschwinde.“ Es klang, als würde sich jemand prügeln. Ich wusste nicht, was los war und brauchte ein paar Sekunden, um zu reagieren. „Ähm…hier ist Lilly. Hey.“ „Lilly…“, er zog meinen Namen so merkwürdig in die Länge und sagte dann: „Was kann ich für dich tun, Teuerste?“ „Ich wollte nur fragen, ob es okay ist, wenn ich jetzt von zu Hause los fahre und zu euch komme. Es geht aber auch später, wenn es jetzt nicht passt.“ Innerlich betete ich, dass er zusagte und kreuzte die Finger meiner freien Hand. „Du willst alleine fahren?“ Am anderen Ende wurde es still und er war plötzlich so ernst. „Ja, wieso nicht? Ich kriege das Auto von meinem Vater oder denkst du, ich habe noch keinen Führerschein? Ich kann dich beruhigen, mit Bravur bestanden.“ „Das glaube ich dir gern, aber es wäre uns schon lieber, wenn einer von uns dich abholt.“ „Wieso?“ „Kennst du den Weg gut genug?“ „Natürlich, ich war ja jetzt…“ Fast hätte ich gesagt, schon zwei Mal da, aber ich spürte die Blicke meines Vaters auf meinem Rücken und verstummte. „Meinetwegen… Würde mich dann, bitte, jemand abholen, sobald ihr Zeit habt?“ „Wie ich höre, ist mein lieber kleiner Bruder gerade eben leichtfüßig in sein Auto gesprungen. Er müsste in ein paar Minuten bei dir sein, so wie der fährt.“ „Ich höre doch nicht etwa Neid in deiner Stimme?“ Mein Herz wollte sich gerade selbst aus meiner Brust katapultieren und am liebsten wäre ich Taylor auf halbem Weg entgegengelaufen. Aber ich riss mich zusammen und krallte meine Hände um den Hörer. „Niemals… Schließlich bin ich älter ergo weiser als er. Und wir wissen beide, Lilly, das Weisheit viel anziehender ist, als Schnelligkeit.“ „In Kombination wäre es natürlich die perfekte Mischung.“ „Dann gefällt dir also unser Vater?“ „Oh nein, jetzt habe ich mich doch verraten. Wie konnte ich nur?“ Er lachte und es erinnerte mich an den gestrigen Abend, als er von Taylor erfahren hatte, dass ich nicht länger leugnen wollte, was sie waren. „Keine Angst, dein Geheimnis ist bei mir sicher.“ „Da bin ich aber erleichtert.“ „Ich denke, mein teurer kleiner Bruder wird jetzt gerade vor eurer Auffahrt halten, also bis gleich.“ Ich spähte kurz aus dem Küchenfenster und schluckte. Sean hatte vollkommen recht. Gerade fuhr der schwarze Ford vor und mein Vater erschien umgezogen hinter mir und folgte meinem Blick. „Bis gleich, Sean.“ Ehe mein Vater begriff, was geschah, legte ich den Hörer weg und schlüpfte an ihm vorbei zur Eingangstür. Es war beeindruckend, wie schnell Taylor hierher gekommen war. Eigentlich war das eine Autofahrt von einer Viertelstunde. Er musste tatsächlich gerast sein. Mit klopfendem Herzen öffnete ich die Tür und begrüßte ihn lächelnd. Während er die Treppen hinaufschritt, ließ ich ihn nicht aus den Augen. Er trug eine dunkelgraue verwaschene Jeans, einen schwarzen Pullover und darüber ein olive-weiß kariertes kurzärmeliges Hemd. Seine schwarzen Sneaker passten perfekt dazu. Auch er grinste jetzt, verringerte aber die Intensität als mein Vater sich dicht hinter mich stellte. Man konnte regelrecht spüren, wie viel er davon hielt, mich mit einem Jungen weggehen zu lassen. Alles in ihm sträubte sich dagegen und er brachte sich in eine abwehrende Position. Die Arme vor der Brust verschränkt und sich leicht schräg vor mich stellend, blickte er zu dem Jungen, der es wagte, mich aus seinem Haus zu holen. „Dr. Connor?!“ „Einer der Wood-Jungs, nehme ich an“, antwortete er nur. ‚Oh, als würdest du das nicht wissen‘, dachte ich und stieß ihm meinen Ellenbogen leicht in die Rippen. „Ja, Taylor Wood. Freut mich, Sie kennen zu lernen.“ Er ließ sich davon nicht nervös machen und streckte meinem Vater die Hand entgegen. Der nahm sie nach kurzem Zögern entgegen und nickte nur kurz. Es war einfach nur peinlich, dass er sich wie ein kleiner trotziger Junge anstellte. Drei Jahre hatte er Ruhe gehabt, ohne mich zu einem Date gehen zu sehen und da veranstaltete er jetzt so einen Zirkus, weil es gleich ein so beeindruckender junger Mann war. Ich würde ihn mir heute Abend wohl noch zur Brust nehmen müssen. „Was habt ihr denn so vor?“, fragte mein Vater und ich seufzte. „Dad, das hab ich dir vorhin gesagt. Ich helfe beim Einzug.“ „Und mein Vater lässt ausrichten, dass Sie sich keine Sorgen machen sollen. Lilly bekommt natürlich ein wunderbares Mittagessen und, wenn sie länger bleiben sollte…“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, vielleicht um zu sehen, ob ich zustimmend nickte. ‚Worauf du dich verlassen kannst‘, dachte ich. „…dann werden wir ihr selbstverständlich auch Kaffee machen. Oder, was immer sie möchte.“ Meinem Vater war anzusehen, wie sehr ihm diese Freundlichkeit und Ehrlichkeit missfiel. Es würde immer schwerer für ihn werden, sie nicht zu mögen. Ich zog mir meine Turnschuhe an. „Schatz, denk bitte unbedingt an die Versammlung. Es gibt ein paar wichtige Themen dieses Mal, sei also pünktlich.“ „War ich irgendwann mal nicht rechtzeitig da?“ Wir wussten beide, dass es stimmte. Ich hatte noch nicht eine verpasst. „Das mit dem Mittag machen kriegst du alleine hin?“, fragte ich nun und suchte meine Schlüssel aus der Schale auf der Kommode im Flur. „Erstens kann ich sehr wohl kochen und zweitens werde ich Pizza bestellen, wenn die Männer da sind. Wir haben ja nicht wirklich Zeit auf den Herd zu achten, wenn das Spiel läuft, nicht wahr? Mögen Sie Baseball, Taylor?“ ‚Ach ja, der spezielle Test. Bitte, lass das bald vorbei sein.‘ „Ich sehe mir die Spiele mal eins an, aber wenn dann spiele ich lieber selbst, als das ich anderen dabei zusehe. Mein Bruder, Sean, und ich sind ziemlich sportbegeistert.“ „Aha.“ Test bestanden. Ich wusste, dass er perfekt war. Und dem Gesichtsausdruck meines Vaters nach zu urteilen, hatte der das soeben auch festgestellt. „Wir sehen uns dann spätestens bei der Versammlung, Dad. Viel Spaß und grüß die Männer von mir.“ Ich umfasste Taylors Handgelenk und zog ihn mit mir die Treppe hinunter. „Wiedersehen, Dr. Connor. Hat mich gefreut.“ „Mhm. Bis heute Abend, Lils, und pass auf dich auf.“ Das war der geheime Code für: Lass dir nicht zu nahe kommen, ich würde es ja doch merken! „Ja, ist gut.“ Wir stiegen ins Auto und Taylor startete den Motor, um dann ganz vorbildlich den Wagen aus der Ausfahrt zu rangieren und zum Wood-Haus zu fahren. In vernünftigem Tempo.

 

„Oh Gott, es tut mir so wahnsinnig leid. Ich hatte befürchtet, dass er peinlich werden würde, aber so…?!“ Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und schüttelte den Kopf hin und her. „Ach was. Er macht sich doch nur Sorgen. Das ist bei Vätern eben so.“ Der Blick, dem ich ihm zuwarf, brachte all meine Gefühle zum Ausdruck, die ich über dieses Thema hatte. „Na schön, es sind nicht alle so, aber die meisten. Vor allen Dingen die, die nur eine Tochter haben.“ „Ach so?!“ Irgendetwas stach mir ganz tief ins Herz. Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, dass er vor mir bereits mit anderen Mädchen in diesem Auto gesessen hatte, aber natürlich hatte er das. Er war einfach wundervoll. Gut aussehend, klug, witzig und er war ein wahrer Beschützer. Welches Mädchen hätte sich ihm denn entziehen können? Ich wandte meinen Blick aus dem Fenster und versuchte, mich wieder unter Kontrolle zu bringen. Warum ich jetzt kurz davor stand in Tränen auszubrechen, konnte ich mir selbst nicht erklären. Es war einfach lächerlich und dennoch rang ich um Fassung. „Lilly, ich meinte nicht, dass…“ Ich holte tief Luft und sah ihn dann wieder an. Mir ein Lächeln abzuringen, erforderte eine Menge Kraft, doch ich schaffte es, irgendwie. „Ich benehme mich so furchtbar albern, entschuldige. Ich bin wie mein Vater.“ Er blickte mich kurz an und sagte dann: „Nein, das tust du nicht. Ich meine, so benimmst du dich nicht.“ „Danke, dass du dich von ihm nicht hast nervös machen lassen. Das hätten nicht viele geschafft.“ „Ich sagte doch, er macht sich nur Sorgen. Er liebt dich, da ist das doch normal.“ Als wir am Haus ankamen, saßen Sean und sein Vater gerade auf der Holzveranda und machten eine kleine Trinkpause. Vielleicht hatten sie aber auch nur gewartet, weil sie sich um die Fahrweise Taylors Sorgen machten. Auf ihren Gesichtern jedenfalls konnte man nichts ablesen. Stattdessen lächelten beide freudig, als ich zu ihnen die Treppen hochkam. Sean riss mich gleich besitzergreifend an sich und warf dabei Taylor einen herausfordernden Blick zu. Der jedoch schien noch etwas,…nun ja, ich wusste nicht, ob man es so nennen konnte, angeschlagen von unserem Gespräch zu sein. Mr. Wood stand ebenfalls auf und drückte mich seitlich an sich, um mich dann ins Haus zu führen. „Lilly, es freut mich, dir verkünden zu können, dass wir nur noch einen kleinen Raum voller Kartons vor uns haben. Wir haben mehr geschafft, als ich dachte.“ „Wir sind ja auch zeitig genug dafür aufgestanden“, kommentierte dies Sean und gähnte kurz. „Ach, hör bloß auf rumzuquengeln. Wärst du gestern Nacht deinem Bruder nicht so lange auf die Nerven gegangen, hättest du auch lange genug geschlafen.“ Ich warf Taylor einen fragenden Blick zu, doch der blickte sich kurz zum Wald um. Mich beschlich die leise Vorahnung, dass er kontrollierte, ob sich ein bestimmter schwarzer Wolf in der Nähe befand. Wir traten gerade durch die Tür, als mich wieder diese wundervolle Wärme umfing. Ich wusste, dass ich hier vollkommen sicher war und staunend blickte ich ins Wohnzimmer. Sie hatten wirklich eine Menge geschafft. Alle Möbel standen an Ort und Stelle. Es lagen Teppiche auf den Böden, Bilder und Lampen waren angebracht worden. „Wenn du möchtest, kannst du Sean helfen, die Bücher in die Regale zu sortieren. Taylor, würdest du bitte mit mir nach oben kommen und das Bett fürs Gästezimmer aufbauen helfen?“ „Na klar.“ Dann wandte er sich zu mir um. „Wenn Sean dir blöde kommt, dann ruf mich.“ „Mit dem werde ich fertig, aber ich werde dran denken, wenn er zu aufdringlich wird.“ Er berührte kurz meinen Arm und folgte dann seinem Vater. Meine Haut an dieser Stelle war ganz plötzlich heiß und prickelte. Als ich zu Sean blickte, grinste der breit. „Ja, ja. Liebe ist doch schön, nicht wahr?“ „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst?!“ Mir schoss das Blut in meine Wangen und ich tauchte meine Hand in einen der Kartons, in dem sich die Bücher befanden. Eine ganze Wand voller Regale war zu füllen und ich ahnte, dass der kleine Raum mit Kartons, nur mit Büchern gefüllte Kisten waren. „Meine Güte, wer von euch liest denn so viel, dass er eine ganze Wand voll bekommt?“ „Mein Vater hat damit angefangen und Taylor führt sie mit ihm fort. Die beiden sind ziemliche Leseratten, daher hat Taylor auch seinen bemerkenswerten Wissensschatz ebenso wie Dad.“ „Und du?“ „Ich finde es besser, etwas zu tun, als nur darüber zu lesen. Obwohl ich sie gerne um Rat frage, wenn ich mal nicht weiter weiß. Da ich aber stärker bin als Taylor, hat er nicht die geringste Chance gegen mich.“ Er lächelte rebellisch. „Du bist also der Bad-Boy?“ „Hey, ich lass mich ungern auf ein Klischee reduzieren…“ Während er mich in die Seite piekste, konnte er sich jedoch ein Lachen nicht verkneifen. „Nein, jetzt mal im Ernst. Ich bin kein Prügelknabe, ich kann auch mit Worten umgehen, aber…“ „Du tust eben lieber etwas.“ „Richtig!“ Ich holte weitere Bücher aus den Kartons. Es war beeindruckend, was für Literatur sie hatten. Sie reichte von Fachbüchern bis hin zu Belletristik. Und es schien als hätten sie jede Art von Nachschlagewerk, das man sich vorstellen konnte. Wir hatten noch nicht einmal das zweite deckenhohe Regal voll und die Kartons hier unten waren leer. „Komm, wir holen uns Nachschub.“ Ich folgte Sean in eines der Nebenzimmer. Es war wohl als Arbeitszimmer gedacht, jetzt aber waren der Computer und die anderen technischen Geräte noch nicht angeschlossen, sodass die Kisten bedenkenlos hier hereingestellt worden waren. „Wie viele Zimmer umfasst denn das Haus?“ „Warte mal,…drei Badezimmer, Wohnzimmer, drei Schlaf…nein, mit Gästezimmer vier Schlafzimmer, eine Küche, zwei Arbeitszimmer und hinten ist noch eine Art Wintergarten.“ „Also 12 Zimmer!? Meine Güte, das gleicht ja einem Schloss.“ „Ach was!“ „Stimmt, wäre es ein Schloss, gäbe es ein Badezimmer mehr“, meinte ich sarkastisch und wieder lachte Sean. „Ich wusste, du würdest in unsere Familie passen. Und eines sage ich dir, wenn Taylor dich nicht als Freundin nimmt, dann tu ich es.“ Wieder lief ich rot an, doch ich ging vor ihm und er sah es nicht.

 

Nach zwei Stunden kamen Kenneth und Taylor wieder runter und wir hatten gerade den letzten Karton geleert. „Ihr wollt mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass ihr für ein Bett so lange gebraucht habt…?“, begann Sean und ich zog meine Fleecejacke aus. Taylor blickte mich länger und intensiver an, als er es sonst getan hatte, wandte sich dann jedoch an seinen Bruder, als er meinen Blick bemerkte. „Und du tu bloß nicht so, als hätte es dich gestört, dass wir so lange oben waren.“ „Tja, da muss ich dir wirklich Recht geben, das hat es nicht.“ Er legte mir einen Arm um die Schulter und mir wurde noch wärmer. Kenneth schien diese ewigen Streitereien bereits in- und auswendig zu kennen und meinte: „So, ich habe jetzt Hunger. Wenn ihr also derselben Meinung seid, dann werde ich mich mal an den Herd stellen.“ „Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?“, fragte ich und löste mich gekonnt aus Seans Griff. „Sicher, wenn du möchtest.“

Die Küche war in rot und schwarz gehalten und hatte glänzende Oberflächen. Mitten im Raum gab es eine Kochinsel und die Wand am Ende bestand nur aus Fenstern, vor denen ein großer Esstisch stand. Daran befanden sich sechs Stühle und ich hing meine Jacke über eine der Lehnen. „Irgendeinen besonderen Wunsch, Lilly?“ „Nein, kochen Sie, was Sie möchten. Ich bin nicht so wählerisch mit dem Essen.“ „Das freut mich zu hören. Was hältst du von Klößen, Rotkohl und Ente?“ „Sie machen sich hoffentlich keine Umstände…wegen mir.“ „Um ehrlich zu sein, die Ente hatte ich schon vorbereitet.“ Er grinste breit und erinnerte mich dabei an Sean. „Da bin ich aber beruhigt. …Aber dann hätten Sie mich doch gar nicht nach meinen Wünschen fragen müssen.“ „Nun, ich habe aber eine gute Kinderstube genossen, also…“ Ich kicherte. Während er die letzten Handgriffe an der Ente tat und wir Klöße und Rotkohl fertig machten, unterhielten wir uns über die beachtliche Sammlung an Büchern, über die Schule und über die Arbeit meines Vaters. Er sagte mir, wo sich die Teller und das Besteck befanden und ich wandte mich zum Tisch. „Irgendeine besondere Sitzordnung, die ich einhalten muss?“ „Sean und ich sitzen mit dem Rücken zum Fenster, Taylor blickt gern hinaus. Wenn du willst, kannst du neben ihm sitzen, dann haben wir ein gewisses Gleichgewicht am Tisch.“ Ich nickte nur und zeigte nicht, dass ich es auch so angeordnet hätte. Er füllte Klöße, Rotkohl und die abgeschöpfte Sauce in Schalen, die ich auf dem Tisch arrangierte. Dann drapierte er die golden-braungebrannte Ente auf einer Platte und schnitt sie in Stücke. „Sieht wunderbar aus, Mr. Wood.“ „Danke, Liebes. Sagst du den Jungs bescheid?“ „Sicher.“ Ich ging ins Wohnzimmer zurück und löste meinen Zopf, um ihn noch einmal neu zu machen. Mit offenen Haaren stand ich vor Taylor und Sean, die auf der Couch saßen und gleichzeitig zu mir aufblickten. Während ich die Haare einmal kurz aufschüttelte und dann einen neuen Pferdeschwanz band, sagte ich: „Essen ist fertig!“ Beide blickten mich noch immer an und sagten nichts. „Wenn ihr nicht wollt…umso mehr bleibt für mich und euren Vater.“ Ich zuckte mit den Schultern und wollte gerade zurückgehen, als Sean aufsprang und sich an mir vorbeidrängelte. „Ich und nichts essen? Ha!“ Aus diesem Jungen wurde ich einfach nicht schlau, obwohl er leichter zu durchschauen schien als sein Bruder. Ich blickte zu Taylor, der noch immer auf der Couch saß. „Willst du nichts?“ „Hat er sich vorhin daneben benommen?“ Das überraschte mich. Machte er sich etwa deswegen Sorgen? „Nein, aber…“ Er blickte mich erschrocken an. Sollte ich es ihm wirklich sagen? „Aber?“ Ich räusperte mich kurz, legte meine Hände auf die Armlehne und hockte mich neben die Couch. „Nur einen Spaß mit mir gemacht. Er meinte, wenn nicht du mich zur Freundin nimmst, tut er es.“ Ich hatte geflüstert und ihn dabei nicht angeblickt. Jetzt sah ich, wie er eine Hand über meine legte. „Und was hast du geantwortet?“, fragte er ebenso leise. „Nichts, ich bin nur rot geworden.“ Unsere Blicke trafen sich und ich erkannte, dass er innerlich einen Kampf mit sich führte. Ich konnte mir nicht erklären warum, denn eigentlich musste er doch nur Ja oder Nein zu mir sagen. So schwer konnte das doch nicht sein. „Lilly, Taylor. Kommt schon, sonst isst Sean alles alleine auf.“ Wir beide zuckten zusammen und er erhob sich langsam. „Komm, gehen wir essen.“ „Mhm.“ Er ging vor mir und ich war wieder einmal den Tränen nah. In meinem ganzen Leben, war ich nicht so emotional gewesen, wie an diesem Tag. Beim Essen waren wir beide in uns gekehrt und ich versuchte mich auf die anderen beiden zu konzentrieren, doch es gelang mir nicht richtig. Seine Anwesenheit so nah bei mir, war schlimmer als je zuvor. Eigentlich hatte ich mich gefreut beim Essen neben ihm zu sitzen, aber jetzt so im Unklaren darüber zu sein, was er über den Satz von Sean dachte, war schrecklich. Ich spürte, dass er noch immer einen Kampf mit sich führte. War denn der Gedanke daran, mit mir zusammen zu sein, eine Beziehung mit mir zu führen, so furchtbar? „Entschuldigt mich kurz…“, meinte er plötzlich und stand auf, um schnurstracks aus der Küche zu gehen. Wir drei hörten nur noch eine Tür, die zugeschlagen wurde und Sean sagte: „Er ist durch die Hintertür verschwunden. Will er in den Wald?“ Ich bekam Angst und machte mir Sorgen. Was wollte er denn da? Nicht, dass er dem Wolf in die Arme lief und sich mit dem anlegte. Denn der war es wohl auch gewesen, der ihn letztes Mal so schwer verwundet hatte. Gerade als ich ihm folgen wollte, berührte mich Mr. Wood am Handgelenk. „Gib ihm ein bisschen Zeit. Er beruhigt sich wieder und kommt zurück.“ „Sind Sie sich da sicher?“ Er nickte nur und ich blickte ihn traurig an. „Ich fühl mich nur so schuldig. Wegen mir ist er jetzt rausgelaufen und macht, was weiß ich für Dummheiten.“ „Taylor ist nicht der Typ dafür, glaub mir. Das ist eher Seans Bereich.“ „Hey, ich kann dich hören.“ Ein kleines Lächeln huschte über mein Gesicht. Kenneth erhob sich und räumte den Tisch ab. „Geht ihr beiden doch ins Wohnzimmer. Lilly, möchtest du vielleicht einen Kaffee oder Tee?“ „Ein Kaffee mit Milch wäre nett, danke!“ Sean zog meinen Stuhl zurück und begleitete mich ins Wohnzimmer. Im Gehen zog ich meine Fleecejacke wieder an, die ich von der Lehne genommen hatte. Mir war plötzlich so furchtbar kalt. Während Sean sich auf die Couch sinken ließ, kuschelte ich mich in einen der zwei Sessel. Er musste gesehen haben, dass ich fror, denn ohne ein weiteres Wort zu sagen, stand er auf und wickelte mich in eine Wolldecke. „Danke.“ „Gerne doch!“ Dann setzte er sich wieder auf das Ledersofa und blickte mich an. „Was hast du denn zu ihm gesagt, dass er so aus dem Haus gestürmt ist?“ „Gar nichts!“ „Ach, gar nichts…“ „Nur das, was du vorhin gesagt hast.“ „Oje. Was davon genau? Ich rede so viel.“ „Na ja, dass…dass, wenn er mich nicht als Freundin nimmt, du es tust.“ „Dann musst du dir gewiss keine Sorgen machen. Ehe er das zulässt, friert die Hölle ein.“ „So schien er aber nicht darüber zu denken.“ „Hör zu, mein Bruder ist seit Jahren alleine und er… Es ist besser, wenn er dir das erklärt. Ich misch mich zwar gerne ein, aber bei dem Thema musst du mit ihm sprechen.“ Ich nickte einsichtig und Kenneth kam mit drei Tassen Kaffee herein. „Hier, nimm. Der wird dich ein bisschen wärmen.“ „Danke.“ Die Wärme der Tasse erklomm meine Fingerspitzen und das Gefühl in den Fingern beruhigte mich ein wenig. Wir sprachen die nächste Stunde nicht viel, immer darauf bedacht, die Geräusche zu verfolgen, die uns neu erschienen. Dann endlich hörten wir Schritte auf der Treppe und Taylor stand in der Tür. Ich hörte, wie heftig er atmete, sah ihn jedoch nicht an. Wenn er mit mir reden wollte, dann würde er es tun. Er schloss die Tür leise hinter sich und kam dann zu uns. Sean und Kenneth sagten nichts und schnappten sich die Tassen, um sie gemeinsam in die Küche zu bringen. Taylor hockte sich neben dem Sessel hin und betrachtete mich. Erst jetzt wandte ich ihm mein Gesicht zu. Er hatte seinen Atem wieder unter Kontrolle und auch der Kampf in seinem Innern schien vorüber zu sein. Ich konnte nur nicht erkennen, welche Entscheidung er getroffen hatte. „Geht es dir wieder gut?“ „Ja!“ „Schön“, meinte ich und schlug ihm leicht gegen die Stirn. „Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht. Tu das, verdammt noch mal, nie wieder!“ „Entschuldige“, murmelte er zurück, sah mich aber ganz kurz belustigt an. Dann wurde er wieder ernst. „Es war nicht leicht für mich, mir zu überlegen, was ich tun soll.“ „Ich habe vorhin nicht gemeint, dass du dich gleich entscheiden sollst. Ich setze dir doch keine Pistole auf die Brust.“ „Und doch wäre es interessant für dich gewesen, wie ich darüber denke, oder nicht?“ „Natürlich.“ „Na, siehst du.“ „Wo warst du überhaupt?“ „Ich bin ein bisschen durch die Gegend gelaufen. Willst du jetzt wissen, was ich sage?“ Durch die Gegend, ha. Durch den Wald, meinte er wohl. Nahe dieses schwarzen Wolfes womöglich noch. Dieser Blödmann. Sich in solche Gefahr zu bringen, ließ mich auch nicht gerade ruhiger werden. Dann zögerte ich kurz. „Warte!“, sagte ich, als er beginnen wollte. „Erst möchte ich die ganze Geschichte hören.“ „Was für eine Geschichte?“ Er schien ernsthaft verwirrt. „Die ganze Wahrheit über dich und deine Familie…bitte.“
 

18. März

Mir sind in meinen Leben bisher viele Menschen begegnet und es ist nicht immer leicht zu entscheiden, ob sie Gutes im Sinn haben oder nur auf ihren Vorteil aus sind. Manche ahnen wohl, was mit mir los ist. Andere haben nicht den geringsten Verdacht oder sie wollen es nicht sehen. Manchmal wünschte ich, ich könnte die Zeit zurückdrehen und es verhindern. Ich weiß nicht einmal, warum es das in meiner Familie gibt. Vielleicht sind wir so eine Art Medium oder es dient unserem Schutz und dem unserer Liebsten. Aber oft wäre unser Leben leichter, wenn wir es nicht besäßen. Ich wünsche mir sehr, dass dies meinen Kindern, die ich hoffentlich irgendwann haben werde, erspart bleibt. Auch wenn es gewisse Vorteile birgt.

Heute habe ich zum ersten Mal mit dem süßen Jungen aus meiner Parallelklasse gesprochen. Er scheint sehr nett und ich glaube, ich möchte ihn näher kennen lernen. Und im ersten Moment hatte ich sogar das Gefühl ihn von irgendwoher zu kennen. Ob ich ihn schon einmal im Traum gesehen habe? Ich werde es auf mich zukommen lassen müssen…



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