[Weltzugvogeltag 2018] - Manches fängt klein an
Leise Radiomusik düdelte durch das Wohnzimmer, irgendein Weihnachtshit der letzten Jahrzehnte, aber leise genug gedreht, dass das Rascheln von Papier, das Tippen der Laptop-Tastatur und das Ächzen belasteter Couchfedern nicht zu überhören waren. Genauso wenig wie das Klappern des undichten Holzfensterrahmens, dessen Reparatur eigentlich schon vor vier Wochen hätte geschehen sollen. Draußen pfiff der eisig kalte Wind erbarmungslos und dann und wann schaffte er es, einen Schwall Kälte in das Wohnzimmer zu schicken und die harte Arbeit der fast schon antiken – nebenbei bemerkt, verzweifelt pfeifenden – Heizkörper für einige Minuten zunichte zu machen.
Zum Schutz gegen die Kälte hatte Sting sich den dicken Pullover übergezogen, den Yukino ihm letztes Jahr in der Weihnachtszeit gestrickt hatte, als die Heizungen im gesamten Gebäude ausgefallen waren. Es war nicht so kalt wie damals – noch nicht –, aber als er vorhin durchgefroren und abermals erfolglos heimgekommen war, hatte Sting etwas gebraucht, das ihn aufmunterte. Quasi einen Yukino-Ersatz.
Seufzend klappte Sting seinen Laptop mit mehr Schwung als nötig zu und ließ sich auf der uralten Couch zurücksinken, um das Chaos zu überblicken, das er auf dem Wohnzimmertisch angerichtet hatte. Bei ihrem Telefonat gestern Abend hatte Yukino ihm geraten, mal einen Ortswechsel vorzunehmen, um seine Arbeitsatmosphäre zu verändern. Das könnte ihm vielleicht durch seine Krise helfen.
Krise! Yukino hatte tatsächlich Krise gesagt!
Das Wort klang viel zu harmlos für das, was Sting seit Wochen durch den Kopf ging. Er musste verdammt noch mal bis Ende des Jahres ein Konzept für sein Abschlussprojekt auf die Beine stellen, damit er im nächsten Semester sein Studium erfolgreich beenden konnte. Und nach viereinhalb Jahren, in denen er jede Hürde gemeistert, sich mit Nebenjobs besseres Equipment finanziert, irrsinnig viel dazu gelernt und jeden noch so kritischen Dozenten von seinem Doppelstudium für Fotografie und Malerei überzeugt hatte, fiel ihm nichts ein!!!
Denn es musste etwas Großes und Bedeutendes sein! Es sollte die Betrachter in seinen Bann schlagen, sollte sie beeindrucken, ja, am besten sollte es ihnen sogar Ehrfurcht einflößen. Es sollte der fundamentale Beweis dafür sein, dass Sting ein grandioser Fotograf und ein grandioser Künstler war!
Und ganz nebenbei sollte es seinem Spitzenzeugnis, für das er bisher so hart gearbeitet hatte, den letzten Schliff geben und ihm eine Daseinsberechtigung in den großen Künstlerateliers von Margaret verschaffen. Denn dass das ein hartes Gewerbe war, davor hatte sein Vater ihn immer gewarnt, seit Sting ihm von seinem Wunsch erzählt hatte, Kunst und Fotografie zu kombinieren. Weißlogia selbst hatte seinerzeit Architektur studiert, um für seine junge Familie eine sichere Basis schaffen zu können. Von ihm hatte Sting jedoch seine Liebe und sein Talent für die Kunst geerbt und das war einer der Gründe gewesen, warum Sting sich zu Beginn seines Studiums geschworen hatte, seinen Vater stolz zu machen.
Bisher sah es aber ganz danach aus, als würde Sting ihn bitter enttäuschen. All die Jahre hatte er sich aufgespielt, war voller Selbstvertrauen für seinen auserwählten Weg eingestanden, aber im alles entscheidenden Projekt geriet er ins Stocken!
Weil nichts richtig war. Was er auch zeichnete oder fotografierte, es fehlte einfach immer das bestimmte Etwas – jener besondere Funken, der seinen Bildern eine Seele verlieh. Am Anfang hatte Yukino – die geduldigste Mitbewohnerin auf der ganzen weiten Welt! – vorsichtig angemerkt, dass Sting mit zu viel Perfektionsdrang an die Sache heran gehen würde. Also hatte Sting versucht, seine alte Kompaktkamera zu verwenden und nur Skizzen auf Schmierpapier zu kritzeln, aber es hatte ihn dennoch nichts überzeugt.
Ob es nun Portraits oder Gebäudebilder waren, Fotos von Hunden oder Stadtimpressionen, Wetterereignissen oder Pflanzen, nichts stellte ihn so recht zufrieden, geschweige denn dass es ihn begeisterte. Sicherlich, er hatte mal eine Fotostrecke zu Händen heraus gebracht – Yukino hatte dafür herhalten müssen und Stings Ex-Freund Rakheid, was ihre Bettabenteuer für eine Zeit lang sogar kräftig angeheizt hatte –, aber erstens wollte Sting etwas Neues haben und zweitens sollte es dieses Mal eben… anders sein.
Das Vibrieren seines Handys riss Sting aus seinen zunehmend frustrierten Gedanken. Er griff nach dem Gerät, dessen Display ihm ein Selfie von ihm selbst und Yukino zeigte. Die Weißhaarige blickte verlegen zur Seite und sah beinahe so aus, als wollte sie sich aus Stings Armen heraus winden – was sie tatsächlich damals versucht hatte, Yukino war so kamerascheu wie kein anderer Mensch, den Sting bisher getroffen hatte.
Aber sie war die weltbeste Zuhörerin, weshalb Sting zutiefst dankbar den Anruf entgegen nahm und sofort begann, sich den Frust von der Seele zu reden.
„Yukino, es funktioniert nicht! Ich bin ins Wohnzimmer umgezogen, habe Musik angemacht und mir meine alten Projekte noch mal angesehen, aber nichts davon hilft mir! Das ist, als wäre etwas in meinem Kopf kaputt!“
Maulend ließ Sting sich nach hinten fallen und lümmelte sich auf der Zweisitzercouch, die er vor vier Jahren mit Yukino für die gemeinsame WG erstanden hatte – damals das erste Möbelstück, das sie für das Wohnzimmer besorgt hatten, am Anfang waren nur ihre jeweiligen Schlafzimmer und die Küche eingerichtet gewesen. Mittlerweile hatten sie Beide gute Nebenjobs, die es ihnen erlauben würden, in eine Wohnung mit Heizungen aus diesem Jahrhundert umzuziehen und eine Couch zu besorgen, die nicht bei jeder Bewegung wie unter Todesqualen ächzte, aber irgendwie hingen sie Beide an der Wohnung und der Couch und allem. Yukino vielleicht noch ein bisschen mehr als er selbst, vermutete Sting.
„Du hast einfach zu hohe Erwartungen an dich selbst“, erklärte Yukino geduldig und Sting konnte hören, wie die Stimmen im Hintergrund leiser wurden.
Anscheinend entfernte seine Mitbewohnerin sich etwas weiter von ihrer Reisegruppe, mit der sie gerade in Enca war. Für jemanden, der so sehr begeistert von Geschichte war, war so ein Land natürlich der reinste Leckerbissen. Sting hegte den Verdacht, dass seine beste Freundin schon lange den Wunsch gehegt hatte, mal nach Enca zu reisen, aber nie Zeit und Geld dafür gehabt hatte. Da war die Studienreise, auch wenn Yukino sie für ihr Studium gar nicht mehr gebraucht hatte, natürlich ideal gewesen.
„Aber es muss doch gut werden!“, jammerte Sting weiter und trampelte mit seinen Füßen auf der einen Armlehne herum, während er auf der anderen seinen Kopf ablegte. „Das wird mein Abschlussprojekt! Damit muss ich die Leute von den Socken hauen!“
„Sting, wenn du etwas gefunden hast, was dich selbst begeistert und in das du all deine Energie stecken kannst, dann wird es ganz von selbst gut werden, aber du darfst es nicht erzwingen. So funktioniert Kunst nicht, hast du mir selbst mal gesagt.“
Sting zog einen Flunsch. Warum konnte Yukino sich besser an seine eigenen Sprüche erinnern als er? Dabei studierte sie nicht einmal Kunst, sondern Geschichte und Biologie auf Lehramt. Wahrscheinlich war es so ein Lehrerding, dass sie sich solche Sprüche so gut merken konnte.
Er wusste, dass viele Leute Yukino in den ersten Semestern als angehende Lehrerin nicht ernst genommen hatten. Die hatten sich das Maul darüber zerrissen, dass sie viel zu schüchtern dafür sei und sich bestimmt immer von den Schülern die Butter vom Brot nehmen lassen würde. Es war allein Yukino zu verdanken, dass Sting sich in der Zeit nicht alle Nase lang mit diesen Idioten angelegt hatte. Letztendlich hatte sie sich ganz alleine da durch gebissen und sie hatte den Leuten wieder und wieder bewiesen, was sie auf dem Kasten hatte. Vielleicht war sie am Anfang wirklich nicht die geborene Lehrerin gewesen, aber heute war sie es – und überhaupt: Wofür studierte man, wenn man am Anfang des Studiums bereits der perfekte Lehrer sein sollte? War die Motivation für diese Berufswahl nicht viel wichtiger?
„Aber ich finde halt nichts“, brummelte Sting, woraufhin seine Freundin nachsichtig seufzte.
„Das wirst du Sting, ganz bestimmt. Vielleicht solltest du einfach mal mit deiner Kamera spazieren gehen. Wie ist das Wetter bei euch?“
„Kalt und windig. Das Fenster klappert immer noch“, antwortete er düsterer, als es wahrscheinlich angemessen war, aber er hatte gerade keine Lust, sich vernünftig aufzuführen.
„Mal etwas anderes: Ich habe völlig vergessen, dich zu fragen, ob du dich um mein Futtersilo kümmern könntest“, wechselte Yukino das Thema.
Das war auch eine ihrer Strategien. Zig mal hatte sie Sting bereits gepredigt, dass er sich selbst nicht zwingen durfte, und dann versucht, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Deshalb war die Wohnung jetzt besonders sauber und besonders Stings eigenes Schlafzimmer war jetzt zum ersten Mal seit vier Jahren wieder ordentlich – was alles unter seinem Bett hervor gekommen war, als Yukino ihn dazu animiert hatte, dort auch mal all die Kisten auszumisten, die er immer nur achtlos drunter geschoben hatte, war teilweise wirklich nicht mehr feierlich gewesen.
„Futtersilo?“, wiederholte Sting langsam und hielt mit seinen Füßen inne, um den Kopf nach links zu drehen und zu einem der Fenster zu schielen, vor dem Yukino an dem Gitter, das eigentlich für Blumenkästen gedacht war, ein kleines Futtersilo für Vögel angebracht hatte.
Es war so ein kleiner Zylinder als Plastik, den man am Deckel befüllen konnte und der drei kleine Nischen hatte, in welche das Futter für die Vögel rutschte, welche wiederum auf kleinen Stangen davor landen konnten. Daneben hing eine Spirale, die dick genug für einen Apfel wäre, nun jedoch nur noch einen halben Meisenknödel enthielt. Das Futtersilo selbst war so gut wie leer.
Langsam setzte Sting sich auf und stellte seine Füße auf den Boden. „Klar kann ich mich drum kümmern. Wo hast du das Futter?“
„Das ist in einer Kiste im Konservenschrank. Achte nur darauf, dass die Dosen später wieder fest verschlossen sind, damit nichts schimmelt.“
„Als hätte ich jemals etwas verschimmeln lassen“, schnaufte Sting und wuchtete sich in die Höhe.
Am anderen Ende der Leitung erklang dieses kesse Kichern, das außer Sting wahrscheinlich kaum jemand kannte. „Ich erinnere bloß an das Sandwich in deinem Wanderrucksack unterm Bett…“
„Das war ein Versehen!“, protestierte Sting entrüstet. „Als ich den da runter geschoben habe, dachte ich, der wäre leer.“
Zur Antwort erhielt er nur ein unschuldiges Summen, woraufhin er schmollend in die Küche stapfte, um die zuvor erwähnte Kiste zu suchen. Als er sie gefunden hatte, überprüfte er ihren Inhalt. Neben einem kleinen Eimer mit Meisenknödeln, die allesamt bereits aus irgendeinem Grund aus ihren Netzen befreit worden waren, befanden sich noch ein Behälter mit Erdnüssen darin und einer mit-
„Sind das Würmer?“, rief er angeekelt aus.
„Getrocknete Mehlwürmer, genau. Die werden auch gerne genommen. Achte darauf, dass du Würmer und Erdnüsse gut mischst. Das heißt, wenn du dich traust, die Würmer anzufassen“, fügte Yukino hinzu.
„Natürlich traue ich mich!“, rief Sting entrüstet. „Als ob ich Schiss vor solchem Viehzeug hätte!“
Dazu schwieg Yukino verdächtig lange. Wenigstens erinnerte sie Sting nicht an diese peinliche Geschichte, als er bei einer Biologen-Exkursion mitgekommen war und am Ende des Tages eine Zecke auf seinem Kopf ertastete hatte. Er hatte beinahe eine Panikattacke bekommen, sodass Yukino alle Autorität hatte ausspielen müssen, um ihn zur Ruhe zu bringen, damit sie die Zecke entfernen und ihn dann zum Arzt schleifen konnte.
„Danke jedenfalls, dass du das machst. Es wäre auch nicht so schlimm, wenn ein paar Tage nicht aufgefüllt wird, aber-“
„Kein Hit, das dauert ja nicht lange und die kleinen Flattermänner können bei dem Mistwetter jede Hilfe gebrauchen“, erwiderte Sting, schlang einen Arm um die Kiste mit dem Vogelfutter und machte sich damit auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer. „Wie ist es eigentlich in Enca? Wo seid ihr gerade?“
„Sagt dir Uthron etwas?“, erwiderte Yukino und ihre Stimme hatte dabei diesen verträumten Singsang, den sie jedes Mal bekam, wenn es um etwas ging, was ihr besonders gut gefiel. Nur zu gut sah Sting vor sich, wie ihre großen Augen vor Begeisterung leuchteten und ihre Wangen mal aus einem ganz anderen Grund als Verlegenheit rot wurden. Er mochte diese Seite an Yukino und beinahe empfand er jetzt Bedauern, weil er sie so nicht sehen konnte.
„Ähm…“
Bevor er endgültig zugeben konnte, dass er noch nie etwas von Uthron gehört hatte, erklang bei Yukino im Hintergrund eine Stimme. Sie war männlich und angenehm tief mit einem leichten Schnurren in der Tonlage, als würde ihrem Besitzer etwas besonders gut gefallen. „Yukino, es geht weiter, kommst du?“
Zur Antwort stieß Yukino ein Quietschen aus, das Sting vor Schreck zusammen zucken ließ. „W-w-wie? J-ja… ja, ich komme!“, stammelte Yukino mit viel höherer Stimme als sonst. „Danke noch mal, Sting, und mach’s gut!“ Und dann legte sie einfach auf.
Verdutzt nahm Sting sein Handy vom Ohr und starrte auf den Bildschirm, um sich zu vergewissern, dass seine beste Freundin ihn gerade tatsächlich abgewürgt hatte. Wegen eines Typen! Auf Stings Gesicht breitete sich ein vergnügtes Grinsen aus. Das würde er Yukino unter die Nase reiben, sobald sie wieder telefonieren konnten, jawohl! Und wenn sie wieder hier war, würde er sie aushorchen, wer der Kerl war, der sie so aus der Fassung brachte!
Nun gleich viel vergnügter als noch vor einer halben Stunde, warf Sting sein Handy auf die Couch und ging zum Fenster hinüber, um sein Versprechen an Yukino zu erfüllen. Doch drei Schritte vorm Ziel entfernt blieb er stehen, als er einen kleinen Vogel an der Spirale entdeckte. Er hing kopfüber daran und pickte an dem Meisenknödel. Mit Vögeln kannte Sting sich nicht wirklich aus, aber dass das hier eine Kohlmeise war, war wirklich einfach zu erkennen. Der tiefschwarze Kopf und der breite, schwarze Bruststreifen waren wirklich unverkennbar.
Es war ein Allerweltsvogel für Stings Empfinden. Auf jeder Vogelfutterpackung schien eine Kohlmeise abgebildet zu sein und wo auch immer ein Futterhaus stand, schien es auch Kohlmeisen zu geben – oft in Begleitung von Blaumeisen und Spatzen. Selbst Sting hatte alle drei Vogelarten schon wirklich oft gesehen.
Aber noch nie hatte er eine Kohlmeise so aus der Nähe gesehen.
Die Beine waren so dünn, dass Sting sich fragte, wie sie überhaupt irgendetwas tragen konnten, aber andererseits schien der Vogel selbst auch aus kaum mehr als Federn zu bestehen. An diesem Winzling konnte doch kein einziges Gramm Fett oder Muskeln sein!
Und dennoch hatte das Tier keine Schwierigkeiten damit, sich trotz des Winds an der Spirale festzuhalten. Eifrig pickte es an dem Meisenknödel, unbeeindruckt vom Schaukeln der Spirale und davon, dass sein Gefieder durcheinander gewirbelt wurde.
Etwas an diesem Bild brachte eine Saite in Sting zum Klingen, die er schon seit Wochen vermisste – und verursachte dabei eine Melodie, die ihm in ihrer Intensität so noch nie berührt hatte…
Langsam ging Sting rückwärts und stellte die Kiste mit dem Vogelfutter neben dem Couchtisch ab. Mit einem Blick über die Schulter vergewisserte er sich, dass die Kohlmeise noch da war, dann sprintete er los in sein Zimmer. Im eigens dafür vorgesehenen Regal stand seine Spiegelreflexkamera, für die er Ewigkeiten gespart hatte. Aller Eile zum Trotz nahm er sich die Zeit, um sich den Sicherungsriemen um den Hals zu hängen, erst dann machte er sich auf den Rückweg ins Wohnzimmer.
Erleichtert atmete er aus, als er sah, dass die Kohlmeise noch da war. Direkt an der Wohnzimmertür blieb er stehen und machte ein Foto, aber der Fensterrahmen störte das Bild in diesem Winkel, weshalb Sting mehrere Schritte auf das Fenster zu trat, ehe er die Kamera wieder hob. Dieses Mal hatte er einen guten Winkel, auch wenn er jetzt schon sehen konnte, dass das Licht blöd war. Dennoch wollte er gerade auf den Auslöser drücken, als der Vogel aufblickte – und dann einfach davon flog.
Sting verzog das Gesicht und ließ seine Kamera wieder sinken. Er war es nicht gewohnt, dass seine Motive einfach davon flogen. Nicht einmal Yukino war so unfotogen!
„Blödes Vieh“, grummelte Sting, ging abermals zurück zum Couchtisch, legte seine Kamera vorsichtig darauf ab und hob die Kiste wieder, um nun endlich das Futtersilo aufzufüllen. Getrocknet fand er die Würmer gar nicht so schlimm, auch wenn er nicht verstehen konnte, warum die Piepmätze so darauf abfuhren. Wie er zwei neue Meisenknödel in die Spirale rein bekam, fand er nach einigem Ausprobieren auch heraus und so schloss er schließlich nach erfolgreicher Arbeit das Fenster wieder und brachte die Kiste zurück in die Küche, wo er erst einmal den Wasserkocher anschaltete, um sich einen Früchtetee zu machen und aus einem anderen Schrank eine Packung Kekse hervor zu holen.
Mit einem Keks zwischen den Lippen, der Packung unterm Arm und der dampfenden Teetasse in der Hand kehrte er ins Wohnzimmer zurück. Beinahe saß er schon wieder auf der Couch, als sein Blick zufällig aus dem Fenster fiel. An der Spirale war wieder eine Kohlmeise und dieses Mal war auch noch eine Blaumeise dabei. Sting war früher nie bewusst gewesen, wie viel kleiner die blauen Gesellen im Vergleich zu den Kohlmeisen waren, aber hier und jetzt fiel es wirklich extrem auf.
In seiner Hast, die Tasse abzustellen – die Kekse ließ er einfach auf die Couch fallen, indem er den Arm vom Körper nahm –, verschüttete Sting beinahe den Tee, aber er achtete kaum darauf, sondern ergriff wieder seine Kamera und schoss an Ort und Stelle mehrere Fotos von den beiden Vögeln. Bei den meisten Fotos hatte er sofort im Gefühl, dass sie nicht gut geworden waren. Den Tieren war es offensichtlich herzlich egal, wie unvorteilhaft sie sich voreinander setzten.
Normalerweise ging es für Sting darum, in aller Ruhe alle möglichen Winkel für seine Fotoobjekte auszuprobieren und mit Belichtungen und Fokuseinstellungen zu experimentieren. Aber hierbei, das erkannte er schließlich, ging es darum, den richtigen Moment abzuwarten. Und etwas an diesen doch eigentlich so gewöhnlichen Vögeln verlangte geradezu danach, dass Sting wenigstens ein gutes Foto gelang. Nur einmal wollte er festhalten können, wie filigran und doch kraftvoll die Tiere gleichzeitig wirkten, welche Eleganz in ihrer doch eigentlich so rastlosen Suche nach dem besten Futter lag…
Doch als Sting näher an das Fenster heran trat, flogen die Vögel wieder davon. Beleidigt blies Sting die Wangen auf, drehte sich herum und stampfte in die Küche, um einen der Stühle dort herbei zu schleppen und in guter Entfernung zum Fenster aufzustellen.
„Jetzt erst recht!“, verkündete er wild entschlossen und setzte sich auf den Stuhl, die Kamera auf seinem Schoss, den Blick unverwandt auf das Futtersilo gerichtet.