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Dreams of Gold

von

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Ningyo


 

02. Ningyo

 

 

Auch in den folgenden Nächten hatte Ataru immer wieder von diesem in tausend Facetten glitzernden Meer geträumt, das sie so liebevoll und sicher gehalten hatte. Und jedes Mal war sie am Morgen mit einem kleinen Lächeln aufgewacht – selbst wenn sie nicht genau sagen konnte, warum eigentlich, war da ein Funke hoffnungsvoller Wärme in ihrem Brustkorb, der sie optimistischer in den neuen Tag blicken ließ, selbst wenn sich sonst nichts verändert hatte.

Wie erwartet hatte sie bisher weder Die noch Toshiya wiedergesehen, aber die Erinnerung an ihren gemeinsamen Abend hatte ihr wieder etwas Mut gemacht, dass vielleicht doch nicht jeder so engstirnig war, wie die meisten Leute in ihrer Heimatstadt.

 

Noch ein wenig verschlafen blinzelte sie der Morgensonne entgegen, die durch die Fenster ins Zimmer fiel, streckte sich für einen Moment, nur um sich dann noch einmal entspannt auf der Matratze zusammenzurollen. Egal wie schwül-warm der Tag noch werden würde, für den Moment genoss sie das Gefühl, hier einfach so zu liegen und das erdende Gewicht ihrer Bettdecke auf sich zu spüren. Sie schloss ihre Augen noch einmal und nahm einige tiefe Atemzüge, blickte erst wieder auf, als sich die Schiebetür zu ihrem Zimmer vorsichtig öffnete und ihre Großmutter den Kopf hereinsteckte.

Mit einem warmen Lächeln sah die ältere Frau zu ihr herunter und vermutlich hätte nicht viel gefehlt, dass sie zu ihr hinübergekommen wäre und ihr in einer liebevollen Geste die vom Schlaf verworrenen Haare aus dem Gesicht gestrichen hätte.
 

„Hab ich dich geweckt?“ Ataru schüttelte nur den Kopf.
 

„Alles gut, bin von der Sonne wach geworden.“ Das Lächeln im Gesicht der älteren Frau weitete sich, ließ die vielen Lachfalten darin noch etwas deutlicher hervortreten.
 

„Ich wollte dir nur kurz Bescheid geben: ich bin erst einmal unterwegs, einige Besorgungen machen. Kannst du dich später ums Mittagessen kümmern?“ Mit einem beinahe schelmischen Grinsen hielt sie kurz inne und zwinkerte ihrer Enkelin verschwörerisch zu. „Du kennst das ja, wenn ich das Kochen deinem Großvater überlasse, muss danach die Küche renoviert werden.“

Ataru konnte nicht anders, als leise zu lachen, richtete sich schließlich etwas in ihrem Bett auf.
 

„Natürlich“, meinte sie dann, erwiderte das Lächeln ihrer Großmutter mit dem gleichen Humor. „Ich weiß doch, wie sehr du an deiner Einrichtung hängst, ich halte ihn vom Herd fern.“

 

Ein letztes Mal nickte ihre Großmutter, zog sich dann aus ihrem Zimmer zurück und nur wenige Augenblicke später konnte Ataru hören, wie sich die Haustür hinter ihr schloss. Mit einem herzhaften Gähnen streckte sie sich noch einmal und erhob sich dann, noch immer etwas schwerfällig, aus ihrem Bett, um ins Bad zu gehen.
 

Ihr Großvater war vermutlich auch schon lange unterwegs, sodass sie das Haus im Moment für sich allein hatte. Und so sehr sie ihre Großeltern liebte, so dankbar sie ihnen für alles war, was sie für sie getan hatten, hin und wieder war es doch schön, einfach die Ruhe hier genießen zu können. Einfach nur sein zu können, ohne mit jemandem reden zu müssen.

Sie stellte das kleine Radio an, das schon so lange sie denken konnte seinen Platz im Badezimmer hatte und schlüpfte dann rasch aus ihrem Slip und dem übergroßen T-Shirt, das sie zum Schlafen trug. Mit mittlerweile geübten Bewegungen band sie ihr langes Haar zu einem lockeren Knoten zusammen und trat unter die Dusche. Wie so oft strich sie in einer beinahe unbewussten Geste über die schmalen Narben unter ihrer Brust, ließ ihre Hände für einige Momente fast schon forschend über ihren Körper wandern und war wie jedes Mal von einer glücklichen Wärme erfüllt, als sich alles so anfühlte, wie es immer schon hätte sein sollen. Es war ein so langer Weg gewesen, aber all der Schmerz – ob körperlich oder seelisch – hatte sich gelohnt.

Mit diesem Gedanken stellte Ataru das Wasser an, wartete einen Augenblick, bis es warm war und stellte sich dann direkt unter den wohltuenden Strahl, der ihre Lebensgeister nun langsam aber sicher vollends erweckte.

 

Gleichzeitig wanderten ihre Gedanken einmal mehr zu den beiden jungen Männern, die sie kennengelernt hatte. Auch wenn sie nie gut darin gewesen war, andere Menschen zu schätzen, viel älter als ihre eigenen zwanzig Jahre konnten die beiden eigentlich kaum gewesen sein. Die vielleicht etwas älter als Toshiya, nur minimal, auch wenn da etwas in den Augen des Schwarzhaarigen gewesen war, was ihn irgendwie reifer hatte erscheinen lassen. Oder vielleicht auch nur ein wenig ernster. Vor allem im Kontrast zu Dies fast schon kindlich verspielter Art, die aber ebenso gut zu ihm passte, wie das charismatische Grinsen, das er ihr im Laufe des Abends mehr als einmal gezeigt hatte.

Aber je mehr sie über die Beiden nachdachte, desto mehr breitete sich nun eine ganz andere Art von Wärme in ihrem Körper aus. Wärme, die für Gefühle sprach, die ohnehin von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, selbst wenn sie ihnen noch einmal über den Weg laufen sollte. Und überhaupt – allein die Tatsache, dass sich diese Gefühle nicht nur auf einen der Männer bezogen, ließ sie sich fast schon vor sich selbst schämen. Selbst wenn eine Frau wie sie überhaupt irgendeine Chance auf eine kleine Sommerromanze hätte und Die und Toshiya nicht offensichtlich mehr als freundschaftliche Gefühle füreinander hegen würden; es war doch einfach nur gierig, so zu denken, oder?

Mit einem leisen Seufzen und einem energischen Kopfschütteln zwang Ataru sich selbst dazu, Überlegungen dieser Art hinter sich zu lassen. Es brachte nichts ihre Zeit mit „Was wäre, wenn“ zu vergeuden. Ja, sie hatte einen schönen, lustigen Abend mit den beiden erlebt, den ersten seit Langem, wenn sie ehrlich war, aber damit war dieses Kapitel – so schade es auch sein mochte – leider auch erledigt. Sie sollte lieber endlich damit anfangen darüber nachzudenken, was sie tun würde, wenn der Sommer vorüber war, statt hier Fantasien hinterherzuhängen, die zu nichts führten, außer einem weiteren kleinen Knacks in ihrem Herzen.

 

Auch wenn das Lächeln auf ihren Lippen vielleicht nicht zu einhundert Prozent ehrlich war, immerhin war es da, als sie, nun wieder leise mit dem Radio mitsummend, die Dusche verließ und sich in ein großes Handtuch wickelte. Ihre Großmutter bestand noch immer darauf die Wäsche draußen im Garten zu trocknen und als sie hier eingezogen war, hatte sie die kratzige Struktur der Badetücher als störend empfunden – mittlerweile mochte sie das Gefühl des rauen Stoffs auf ihrer Haut, fast so als würde es ihr dabei helfen, ihre Vergangenheit von sich abzuwaschen, so abwegig dieser Gedanke vielleicht war. Sie musste sich schließlich für nichts schämen.

Es war ja nicht ihre Schuld, dass sie nicht so geboren war, wie sie eigentlich hätte sein sollen. Und wenn sie sich das nur oft genug sagte, würde sie es vielleicht auch irgendwann wirklich glauben können.

 

Nur mit ihrem Handtuch bekleidet ging Ataru wieder zurück in ihr Zimmer, zog sich dort ein luftiges Shirt und bequeme Shorts über und brachte kurz ihr Bett in Ordnung. Sie öffnete die Schiebetüren, die von ihrem Zimmer hinaus auf die Veranda führten, um noch etwas Luft hinein zu lassen, bevor es zu stickig wurde. Noch war der Himmel klar, aber über dem Meer tummelten sich bereits die ersten Wolken, die für den Tag vermutlich noch einige Schauer versprachen.

Nach einigen Augenblicken wandte sie sich ab und ging hinüber in die Küche, um zu sehen, womit ihre Großmutter sie zum Frühstück hatte überraschen wollen und hoffte aus tiefstem Herzen, dass es ihr irgendwann möglich sein würde, in Worte zu fassen, wie unendlich dankbar sie ihren Großeltern für alles war, was sie für sie getan hatten.

 
 

~*~

 

Es waren noch ein paar Tage vergangen, in denen die Regenzeit der kleinen Stadt am Meer noch einmal einen ungewöhnlich nassen Besuch abgestattet hatte, bis sie endlich einmal wieder dazu gekommen war, sich mit ihrer Kamera bewaffnet auf Wanderschaft zu begeben. So wenig sie mit den Menschen hier anfangen konnte, Fotomotive lieferte die kleine Halbinsel immer wieder mehr als genug und sie genoss es die Zeit zu haben, einfach allein unterwegs zu sein und auf Bildern festzuhalten, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Irgendwie war es einfach entspannend für sie zu versuchen ihre Umgebung auf Bildern festzuhalten, sich nur darauf konzentrieren zu können – selbst zu Schulzeiten war der Fotoclub eine ihrer liebsten Aktivitäten gewesen.

Und ganz offensichtlich war sie heute so in ihr Hobby versunken gewesen, dass sie sich tatsächlich ein wenig mehr verausgabt hatte, als geplant, denn ihr Körper machte ihr nun deutlich klar, dass er noch mehr Ruhe brauchte, als sie selbst wahrhaben wollte.

 

Leise über sich selbst und ihren Dickschädel schimpfend ließ sie sich schließlich auf einem Felsen nieder, der weit ins Meer hineinragte. Nachdem sie vorsichtig ihre Kamera eingepackt hatte, zog sie sich, wenn auch ein wenig ungelenk, ihre Wanderschuhe und Socken aus. Mit einem zufriedenen Grinsen wackelte sie einige Male mit den Zehen und drehte dann ihr Gesicht der Sonne entgegen. Sie genoss die Wärme, auch wenn sie noch immer eher schwüler Natur war, ebenso wie das beständige Rauschen des Meeres, das immer wieder gegen die umliegenden Felsen brandete.

Sie überlegte gerade, ob sie noch etwas weiter nach vorn rutschen konnte, um ihre Füße ins Wasser baumeln zu lassen, als sie etwas fest am linken Knöchel packte und ihr damit einen spitzen Schrei entlockte, der sie nicht nur ihren Atem, sondern beinahe auch das Gleichgewicht gekostet hätte. Ohne darüber nachzudenken trat sie einmal kräftig nach unten, zog dann rasch ihre Beine zurück, als sie etwas traf und ihr Bein daraufhin losgelassen wurde. Mit heftigem Herzklopfen richtete sie sich weiter auf und wusste im nächsten Moment nicht, ob sie lachen oder fluchen sollte, als sie in Dies Gesicht schaute, dessen Ausdruck irgendwo zwischen höchst amüsiert, schuldbewusst und schmerzlich verzerrt lag, während er sich mit einer Hand über die Stelle an seinem Brustkorb rieb, die sie anscheinend getroffen hatte. Aber noch bevor sie etwas sagen konnte, drang tatsächlich ein Lachen an ihre Ohren, das ihren Kopf herumschnellen ließ.

 

„Ja, ja, sehr lustig“, beschwerte Ataru sich zerknirscht. Ihr Herz raste noch immer und sie konnte fühlen, wie ihre Hände zitterten, auch wenn sich zu diesem eher unangenehmen Gefühl nun die Freude darüber gesellte, die beiden wiederzusehen. Toshiya sah sie vom Wasser aus einen Moment nachdenklich an, bevor er langsam etwas näher geschwommen kam. In einer vollkommen selbstverständlich wirkenden Geste legte er Die einen Arm um die Schultern.
 

„Du bist ganz schön blass geworden. Ist alles in Ordnung?“

 

„Jetzt schon.“ Ataru atmete einmal tief durch, versuchte ihr inneres Gleichgewicht wiederzufinden. „Aber bitte warnt mich das nächste Mal vor, ich hab mich wirklich erschrocken. Ich...kann es nicht so gut haben, wenn mich jemand so unverhofft anfasst.“
 

„Verdammt, das tut mir leid, wirklich.“ Die wirkte ehrlich betroffen und sein schlechtes Gewissen war ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Für einen Moment schien es, als würde er in einem Anflug von Unsicherheit ein wenig Schutz bei seinem Freund suchen. Sein „Wird nie wieder vorkommen, versprochen.“ wirkte ungewohnt kleinlaut und verleitete Toshiya dazu ihn noch etwas näher an sich zu ziehen, bevor er zu Ataru sah.

 

„Ich wollte ihn davon abhalten, ehrlich“, erklärte er, hatte selbst sein bestes Schuljungengrinsen aufgesetzt, das vermutlich schon hunderte von Herzen hatte schmelzen lassen, „aber er war leider zu schnell.“

 

Bevor Die protestieren oder sich noch irgendwie rechtfertigen konnte, war es nun der andere, der sich blitzschnell bewegte und Atarus ‚Angreifer‘ mit einiger Kraft unter Wasser drückte. Für einen kurzen Moment grinste er zu ihr nach oben, brachte sich dann aber rasch in Sicherheit, als sein Freund prustend wieder auftauchte und versuchte ihn nun ebenfalls zu fassen zu bekommen.

Selbst wenn sie es gewollt hätte – spätestens als sie Dies Gesichtsausdruck sah, wäre es ihr unmöglich gewesen ihr Lachen noch zurückzuhalten. Allein schon ihre Freude darüber die Beiden wiederzusehen, ließ ihr Herz förmlich singen und sie genoss jede Sekunde der Leichtigkeit, die sie gerade erfüllte.

Erst als Toshiya nach der Hand des anderen griff und ihn erneut in seine Arme zog, konnte sie sich langsam wieder beruhigen, auch wenn der entschuldigende kleine Kuss, der nun auf Dies Nasenspitze landete, sie weiterhin lächeln ließ.

Für einen Moment sah sie die beiden Männer einfach nur an, musste sich fast schon zurückhalten, um nicht ihre Kamera zu zücken – sie schienen sich einfach nur perfekt zu ergänzen, so vertraut und Eins wie sie vor ihr im Wasser schwammen. Aber kaum hatte sie dies gedacht, entfernten sie sich wieder ein wenig voneinander, kamen stattdessen zu ihr und stützten sich mit den Armen neben ihr auf dem Fels ab, während Ataru selbst nun doch ein wenig weiter an den Rand rutschte und nun wirklich ihre Füße ins Wasser hängen ließ. Sollte sie abrutschen wären schließlich zwei offensichtlich sehr gute Schwimmer zur Stelle, um sie zu retten.

 

„Was macht ihr eigentlich hier?“, fragte sie nach einer kurzen Weile, in der sie anscheinend alle mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen waren. Als Antwort zuckte Toshiya nur mit den Schultern, legte seinen Kopf dann auf den verschränkten Armen ab.

 

„Es war schönes Wetter“, meinte er dann, als wäre dies Erklärung genug. Die Aussage ließ Die gespielt mit den Augen rollen, bevor er ebenfalls antwortete.

 

„Hier an der Küste kann man gut tauchen, weil die Unterströmungen nicht so stark sind wie weiter südlich.“

 

„…ihr habt keine Ausrüstung dabei…“

 

„Gute Beobachtung.“ Die lachte leise und lehnte seinen Kopf an die Schulter seines Freundes. „Wir sind Freitaucher. Also ohne Anzug, ohne Sauerstofftank und all das.“

 

„Ach so…“ Ein wenig nachdenklich sah Ataru ihn an, wandte den Blick dann hinaus aufs Meer, um den Wellen zuzusehen, die von der kommenden Flut zu ihnen getragen wurden. „Das muss schön sein, so vollkommen frei…“, fuhr sie etwas leiser fort, zog die Augenbrauen leicht zusammen, als sie wieder zu den beiden sah. „Aber auch irgendwie beängstigend, oder?“

 

„Nicht wirklich“, antwortete jetzt Toshiya, zuckte erneut mit den Schultern. „Wir schwimmen und tauchen schon unser Leben lang… Es ist eher ein bisschen, als wäre man eins mit dem Meer, Teil des großen Ganzen, quasi.“

 

„Mhhh…das klingt schön…“

 

„Wenn du willst, können wir ja mal zusammen schwimmen oder tauchen gehen?“ Ohne, dass sie es hätte verhindern können, zuckte Ataru bei diesem offensichtlich gut gemeinten Angebot ein wenig zurück, schüttelte dann den Kopf.

 

„Ich…ich würde wirklich gern…“, sagte sie dann leise, schaffte es nicht länger in Toshiyas dunkle Augen zu sehen und betrachtete stattdessen ihre eigenen Finger, die nervös mit dem Halsriemen ihrer Kamera spielten. „…ich gehe nicht wirklich schwimmen.“

 

Ihr war selbst bewusst, wie dumm diese Aussage in den Ohren der beiden klingen musste. Sie liebte das Meer, das Wasser, die Wellen, hatte früher nur zu gern darin herumgetollt. Aber obwohl es jetzt eigentlich keinen Grund mehr dafür gab, konnte sie sich einfach nicht dazu bringen Badekleidung anzuziehen.

 

„Das ist schade…“ Die, der sie anscheinend bisher beobachtet hatte, streckte seinen Arm aus und legte seine kühle Hand beruhigend auf ihren Unterarm. „Aber vollkommen okay.“

 

„Wirklich?“

 

„Na klar.“ Das warme Lächeln auf seinem Gesicht half ein wenig dabei sie zu beruhigen und entfachte einmal mehr auch die Wärme in ihrem Inneren, als er weitersprach. „Allein schon, weil es wirklich schwierig wäre dich zu finden, wenn du auch noch irgendwo tauchst. So müssen wir anscheinend immer einfach nur nach halbwegs abgelegenen Plätzen am Meer Ausschau halten.“

 

„Die…“ Toshiya stieß seinem Freund mehr oder weniger sanft mit dem Ellenbogen in die Seite, was diesen jedoch nicht mal wirklich zu stören schien.

 

„Was denn? Willst du Ataru denn nicht wiedersehen?“ Die Offenheit in seiner Stimme ließ ihren Puls, wie schon am Anfang dieser erneuten Begegnung, in die Höhe schnellen. Und als der Jüngere der beiden mit einem irgendwie selbstverständlich klingenden „doch, natürlich“ antwortete, konnte sie sich sicher sein, dass ihre Wangen nun wirklich vor Röte brannten. Ein wenig zitternd verschränkte sie ihre Finger mit Dies und drückte sie kurz.

 

„Danke.“

 
 

~*~

 

Mit einem kleinen Lächeln reichte Ataru ihrem Großvater die gut gekühlte Bierdose und setzte sich neben den alten Mann auf die Veranda. Der Rauch seiner Zigarette vermischte sich mit dem Räucherwerk, das sie gegen die Insekten abbrennen ließen, zu einem Aroma, das sie irgendwie immer mit ihm verbunden hatte, selbst als Kind.

Sie strich sich das noch vom Duschen feuchte Haar aus dem Gesicht und öffnete dann die Dose, die sie für sich selbst mitgebracht hatte, musste grinsen, als ihr Großvater ihr sein Getränk zum Anstoßen entgegenhielt. Mit einem dumpfen Geräusch prallte Blech auf Blech, bevor sie einen tiefen, genüsslichen Schluck Bier nahm.
 

„Irgendwie bin ich ja froh, dass sich dein Geschmack dahingehend nicht geändert hat“, meinte ihr Opa, ließ sie ob dieser Aussage fragend die Augenbrauen nach oben ziehen. „Na ja, bei all der Veränderung ist das eine kleine Konstante.“ Ataru zog die Nase kraus, nahm, rein um ihren Standpunkt klarzumachen, noch einen tiefen Schluck des bitteren Getränks.
 

„Das hat ja mal so gar nichts mit dem Rest zu tun“, sagte sie fast ein wenig mahnend, doch der Ältere winkte nur ab.
 

„Weiß ich doch, weiß ich doch. Trotzdem…“ Seine Augen wandten sich für einen Moment von ihr ab, während er einen tiefen Zug von seiner Zigarette nahm. „…es zeigt mir so ein bisschen, dass du noch die gleiche Person bist. Dass du schon immer warst, wer du warst, egal, was damit …“, mit der Hand, die noch immer den Glimmstängel hielt, machte er eine vage Bewegung in ihre Richtung, „…ist. Auch, wenn deine Eltern das immer noch nicht so recht einsehen wollen.“

 

„Ach, du…“
 

Wieder einmal empfand sie eine tiefe Dankbarkeit, dafür, dass ihre Großeltern sie so liebten, wie sie eben war. Manchmal hatten sie zwar Probleme damit bestimmte Dinge zu verstehen, aber statt sie dafür zu verurteilen, fragten sie nach, wollten wissen, was in ihr vorging. Und das, da hatte ihr Großvater recht, war definitiv mehr, als sie von ihren Eltern sagen konnte.
 

„Außerdem hab ich jetzt definitiv die hübscheste Enkelin der ganzen Stadt“, fügte der andere jetzt noch mit einem verschmitzten Grinsen hinzu, brachte sie so zum Lachen.

 

„Gut gerettet, alter Mann.“
 

Erneut stießen ihre Bierdosen aneinander, dann herrschte für einige Minuten Schweigen, während dessen sie ihren Gedanken nachhingen und hinaus aufs Meer sahen.
 

„Sag mal…“, nahm sie den Gesprächsfaden schließlich wieder auf, stellte die mittlerweile leere Bierdose neben sich auf der Veranda ab und lehnte sich gegen die Hauswand hinter sich.
 

„Mh?“ Ihr Großvater, der fast schon ein wenig weggedöst zu sein schien, sah sie mit dem kleinen Lächeln an, das er eigentlich immer trug, wenn sie miteinander sprachen.
 

„…gibt es hier Fische, die irgendwie golden schimmernde Schuppen haben?“ Wenn ihr irgendwer diese Frage, die sie schon seit Tagen umtrieb, beantworten konnte, dann schließlich jemand, der sein Leben lang auf See gearbeitet hatte. Ihr Großvater legte nachdenklich die Stirn in Falten, kratzte sich dann fast schon ein wenig abwesend im Nacken.
 

„Nicht, dass ich wüsste, nein“, meinte er schließlich. „Wie kommst du darauf?“

 

Ihr erster Instinkt war einfach mit den Schultern zu zucken, aber sie hatte das Gespräch angefangen, da hatte er auch Antworten verdient.
 

„Ich dachte nur, ich hätte neulich etwas Goldenes im Wasser schwimmen sehen…“, gab sie also zu, zuckte nun doch mit den Schultern. „Aber vielleicht war es auch nur Metall, dass irgendwer ins Meer geworfen hat.“

 

„Oder es war eine Nixe.“ Die Worte kamen so unerwartet, dass sie sich automatisch etwas aufrechter hinsetzte und ihr Gegenüber überrascht ansah.

 

„Was?“
 

„Eine Nixe.“

 

„Opa.“

 

„Schau mich nicht so an.“ Der alte Mann hob abwehrend die Hände.
 

„Es gibt keine Nixen, Meerjungfrauen oder was auch immer.“

 

„Sagt wer?“

 

Nun war sie ehrlich sprachlos. Auch wenn Fischer vermutlich schon immer dazu tendiert hatten, noch ein wenig abergläubischer zu sein als der Rest der Welt, ihr Großvater war sonst ein rationaler Mensch und ihn so reden zu hören, als wäre die Existenz irgendwelcher Fabelwesen eine vollkommen selbstverständliche Tatsache – es verwirrte sie.

 

„Hast du schon mal eine gesehen?“, wollte sie deswegen wissen, konnte die Neugier nicht aus ihrer Stimme verbannen. Selbst wenn sie nicht an dieses Märchen glaubte, vielleicht sprang ja zumindest eine gute Geschichte dabei heraus.

Ataru zog ihre Beine an, legte den Kopf darauf ab und sah ihn erwartungsvoll an, während er sich, ein wenig umständlich, eine weitere Zigarette anzündete. Vermutlich nur, um sie zappeln zu lassen.
 

„Ich nicht“, begann er dann. „Aber, Kurosawa, ein früherer Kollege von mir. Er hat mir davon erzählt und er meinte, das Wichtigste, was man wissen muss, ist, dass sie nicht so aussehen, wie man es manchmal hört. Wenn sie wollen, können sie wirken wie ganz normale Menschen, sind wohl auch sehr angenehme Gesprächspartner. Und ihre Fischschwänze sind mit goldenen Schuppen bedeckt.“

 

„Mhhh…“ So wirklich glauben konnte sie nicht, was ihr Großvater ihr gerade erzählte, aber auf der anderen Seite war er eben niemand, der solchem Gerede einfach so Glauben schenkte. „Und wie hat dein Bekannter diese Nixe getroffen?“, musste sie dann doch fragen. Wenn, dann wollte sie immerhin auch die ganze Geschichte hören.

 

„Er meinte, dass sie sich in seinem Netz verfangen hatte und ohne Hilfe nicht mehr losgekommen war.“ Daraufhin konnte Ataru nur stumm nicken und dem Zigarettenrauch nachsehen, der sich bläulich vom Abendhimmel absetzte.

 

„Hat er ihr geholfen?“
 

„Natürlich.“ Für einen Moment sah der alte Mann sie so eindringlich an, dass es ihr geradezu Gänsehaut bescherte. „Du darfst einer Nixe niemals etwas antun, schlechteres Karma kann man sich kaum zuziehen…Er wusste das und hat ihr geholfen, sie vorsichtig aus dem Netz befreit und dann schwimmen lassen. Er hat mir erzählt, als er am nächsten Morgen wieder zu seinem Boot kam, lag dort, fein säuberlich in ein kleines Stück Stoff eingeschlagen, eine einzelne goldene Fischschuppe. Fast handteller-groß.“ Wie zum Beweis hob er seine eigene Hand. „Und er war immer felsenfest davon überzeugt, dass sie ihm Glück bringen würde.“
 

„Hat sie das?“ Jetzt breitete sich wieder ein Grinsen auf dem Gesicht ihres Großvaters aus, ließ es noch runzliger wirken, als es war.
 

„Er ist seit sechzig Jahren glücklich verheiratet und verbringt seinen Lebensabend in einem herrlichen kleinen Häuschen auf Okinawa. Ich finde, das spricht schon dafür, oder?“

 
 

~*~

 

Ataru hatte an diesem Abend noch lange über die Worte ihres Großvaters nachgedacht, aber ob sie ihm diese doch eher unglaubliche Erzählung nun abkaufte oder nicht – irgendwie weiterhelfen tat es ihr nicht. Denn selbst für den wirklich, wirklich unwahrscheinlichen Fall, dass es hier irgendwelche Fabelwesen gab: Warum sollte sie immer wieder von ihnen träumen?

Es war schließlich nicht so, dass sie schon einmal selbst eine Nixe gesehen hatte.

Mit diesen Gedanken wälzte sie sich schlaflos in ihrem Bett hin und her, verstrickte sich immer mehr in ihnen und fand doch keine Lösung.

Vielleicht grübelte sie manchmal doch ein wenig zu sehr über die Dinge nach, die ihr so im Kopf herumspukten, auch wenn ihr zu viel Denken doch irgendwo lieber war als zu wenig. Mit einem unwilligen Murren drehte sie sich auf den Bauch und vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen, sodass es einige Sekunden dauerte, bis sie begriff, dass sie ein leises Klopfen hörte, das aber nicht aus dem Inneren des Hauses zu kommen schien. Verwundert richtete sie sich auf, sah in Richtung der Veranda, als das Klopfen erneut ertönte und stand dann zögerlich auf. Noch im Gehen zog sie sich ihr Schlafshirt, so weit es ging, über die Oberschenkel nach unten.

Vielleicht war es gerade eine sehr dumme Idee einfach so die Tür zu öffnen, schließlich hatte sie keine Ahnung, wer da war, aber im Zweifelsfall waren ihre Großeltern immerhin nicht weit weg. Diese Tatsache änderte allerdings wenig daran, dass sie heftiges Herzklopfen hatte, als sie die Tür vorsichtig ein wenig aufschob, um nach Draußen sehen zu können.

Und einmal mehr war sie auf den Anblick, der sich ihr bot, nicht vorbereitet.
 

„Die?“
 

„Hallo.“ Das Lächeln des jungen Mannes wirkte fast ein wenig schüchtern, als er sie ebenfalls begrüßte.
 

„Was machst-“ Atarus Augen wurden groß, als sie ihn jetzt näher betrachtete und schon im nächsten Moment bedeckte sie ihre Augen mit beiden Händen, auch wenn sie nicht sicher war, ob sie dies tat, um sich selbst davon abzuhalten zu starren, oder um die Röte in ihrem Gesicht vor Die zu verbergen. „Warum bist du nackt?“ Selbst in ihren eigenen Ohren hörte sich ihre Stimme schrill und sogar ein wenig panisch an.

Aber hier stand schließlich aus dem Nichts ein unbekleideter Mann vor ihr, noch dazu einer, den sie ohnehin schon ziemlich attraktiv fand. Was sollte sie bitte sonst machen?

Auch, wenn ihr nächtlicher Besucher ihre Reaktion anscheinend nicht wirklich nachvollziehen konnte, wenn sie ihn sich so zwischen ihren Fingern hindurch blinzelnd betrachtete.
 

„Oh…stimmt“, sagte der nämlich nur, als wäre ihm das selbst gerade erst aufgefallen und sah in gänzlich unpassender Weise an sich herunter, fügte dann aber immerhin noch ein „Sorry“ hinzu.
 

Ataru nahm eine Hand von ihrem Gesicht und tastete, fest entschlossen ihr Gegenüber nicht anzusehen, damit nach dem Handtuch, das sie früher am Abend in ihrem Zimmer liegengelassen hatte, nachdem sie es benutzt hatte, um ihr Haar zu trocknen. Als sie es zu greifen bekam, streckte sie es Die entgegen und wartete mit weiterhin abgewandten Augen, bis er ihr das Okay gab, endlich nicht mehr ganz unbekleidet zu sein. Dann atmete sie einmal tief durch, um sich ein bisschen zu sammeln.

 

„Also nochmal: Was genau willst du hier? So mitten in der Nacht?“ Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht so angespannt klang, wie es ihr gerade vorkam, aber selbst wenn es so war, ließ der Ältere sich nichts anmerken. Stattdessen hielt er ihr seine Hand entgegen, in der sie etwas glitzern sah.

 

„Das gehört dir, oder?“, wollte er wissen und seine Stimme klang auch jetzt so warm und entspannt, als wäre ihr Zusammentreffen gerade absolut nichts Ungewöhnliches. Für den Moment weigerte sie sich darüber nachzudenken, ob das jetzt gut oder schlecht war und musterte stattdessen mit Erstaunen das kleine Schmuckstück, das er ihr immer noch vor die Nase hielt.
 

„…wo hast du das denn her?“ Automatisch wanderten ihre Augen zu ihrem Knöchel, an dem sich die filigrane Kette normalerweise befinden sollte, aber natürlich war dort keine Spur von dem Schmuckstück.
 

„Wir haben sie vorhin noch beim Tauchen gefunden. Sie muss irgendwie aufgegangen sein, als du heute Nachmittag deine Füße im Wasser hattest.“
 

„Danke…das ist…“ Wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht wirklich, was sie genau sagen wollte, aber die Geste berührte sie mehr, als sie bereit war zuzugeben. Selbst wenn Die hier mitten in der Nacht aufgetaucht war – allein die Tatsache, dass er sich die Mühe gemacht und ihr das Kettchen wiedergebracht hatte, war mehr als sie je erwartet hatte.

Deswegen brauchte sie auch nicht darüber nachdenken, wie sie reagieren sollte, als er leicht die Arme ausbreitete, sondern ließ sich nur zu gern von ihm umarmen und verbarg für einen Moment ihr Gesicht und damit die Tränen, die ihr vor Rührung in die Augen gestiegen waren, an seinem Brustkorb.
 

„Gern geschehen“, murmelte seine dunkle Stimme an ihrem Ohr. Sie nickte lediglich, verharrte noch einen Moment länger so und hob dann den Kopf, um ihn ansehen zu können.
 

„Und warum genau bist du nackt hier aufgetaucht?“, wollte sie dann noch einmal wissen, konnte sich ein Grinsen im Nachhinein nicht mehr verkneifen. Dazu war das Ganze einfach zu absurd.

 

„Wir waren noch schwimmen?“
 

„Ich dachte Freitauchen heißt ohne Equipment und nicht ohne Kleidung?“
 

Jetzt war es Die, der verlegen lachte.

 

„Naja, nachts sieht das ja keiner…im Normalfall zumindest. Ich hoffe, ich hab dich jetzt nicht traumatisiert oder so.“ Er machte einen raschen Schritt zurück, als Ataru ihm spielerisch gegen die Schulter boxte.

 

„Ich glaube, da überschätzt du dich ein bisschen. Und jetzt mach, dass du wegkommst, ich brauch meinen Schönheitsschlaf.“

 

„Na dem will ich dann nicht im Weg stehen, auch wenn du ihn wirklich nicht nötig hast.“
 

Sie wollte etwas erwidern, irgendetwas Flapsiges, um davon abzulenken, dass ihr Gesicht gerade in Flammen zu stehen schien, doch bevor ihr irgendetwas einfiel, näherte Die sich ihr ein weiteres Mal und drückte ihr ohne Umschweife einen kleinen Kuss auf die Wange.

 

„Sieht Toshiya übrigens genauso.“ Mit diesen Worten drehte er sich um, winkte ihr noch einmal kurz zu und verschwand dann in Richtung Strand aus ihrem Blickfeld.

 

 

Auch Minuten später stand Ataru noch bewegungslos im Rahmen der Verandatür und sah in die Nacht hinaus, unfähig zu glauben, dass sich das tatsächlich gerade alles so abgespielt hatte. Nur langsam hob sie ihre Hand, strich mit den Fingerspitzen über ihre Wange und konnte das kühle Metall des Fußkettchens an ihrer noch immer überhitzten Haut spüren. Erst als ihr Puls sich wieder etwas beruhigte, schien ihr Denkvermögen wieder einzusetzen. Und während sie die Tür langsam wieder zuschob, um zu ihrem Bett zurückzugehen, waren es am Ende zwei Gedanken, die sich langsam aus dem Chaos in ihrem Kopf herauskristallisierten:

Es war unfair, dass jede noch so kurze Begegnung mit Die und Toshiya sie nur noch ein Stück mehr aus dem Konzept brachte. Und, vielleicht noch wichtiger: woher hatte Die eigentlich gewusst, wo sie wohnte?



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