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Dreams of Gold

von

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Hatsugen


 

05. Hatsugen

 

 

Mit einem Lächeln auf den Lippen öffnete Ataru die Augen, ließ die mittlerweile vertrauten, schimmernden Blautöne des Meeres auf sich wirken und tat einen tiefen Atemzug. Salziges Wasser bahnte sich den Weg durch ihre Lungen und es war beinahe, als könnte sie fühlen, wie ihr Körper den Sauerstoff, den sie zum Leben brauchte, daraus filterte. Für einige Atemzüge konzentrierte sie sich allein auf diese Empfindung, schwebte regungslos unter den Wellen und genoss die Kraft, die sie aus jedem Einatmen ziehen konnte.

Von oben fielen glitzernde Sonnenstrahlen durch die Wasseroberfläche, verwandelten die ohnehin schon unwirklich wirkende Welt ihres Traumes in ein leuchtendes Paradies, wenn sie sich in den Schuppen der Fische brachen, die immer wieder in Schwärmen an ihr vorbeizogen. Ohne, dass sie sich bewusst dafür entschieden hatte, begann sie sich langsam durch die sanften Strömungen zu bewegen, jagte für ein paar Minuten verspielt den kleinen Tieren hinterher, ehe sie sich dazu anschickte tiefer zu tauchen.

Leuchtendes Türkis wurde ganz allmählich zu strahlendem Royalblau, das sie einhüllte, und dann noch dunkler, bis nur noch vereinzelter Lichtschein die Welt um sie herum durchbrach. Das Funkeln an der Oberfläche schien fast schon meilenweit von ihr entfernt zu sein. Nie war sie bisher so tief in die Welt unter Wasser vorgedrungen, aber statt Angst fühlte sie nur den Drang, weiterzuschwimmen. Ganz als würde sie etwas suchen und unbewusst hoffen, es hier zu finden.

Kaum hatte sie diesen Gedanken formuliert, tauchte in der Ferne ein goldenes Glitzern auf, das ihr Herz augenblicklich schneller schlagen ließ. Für eine Sekunde verharrte sie regungslos, um sicherzugehen, dass sie es sich nicht nur einbildete. Dann setzte sie sich mit kräftigen Schwimmzügen wieder in Bewegung. Sie musste einfach wissen, was – oder wem – sie schon so lange auf der Spur war. Für eine Sekunde verspürte sie eine regelrecht verzweifelte Sehnsucht danach, dieses Rätsel endlich zu lösen. Auch wenn es vielleicht vergebens war, es fühlte sich an, als könnte sie alle Antworten finden, wenn sie nur herausfand, was sich hinter diesem goldenen Glanz verbarg, der ihr seit Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging. Aber leicht machte es ihr das merkwürdige Phänomen auch in dieser Nacht nicht. Sobald sie das Gefühl hatte, dem Glimmen näherzukommen, verschwand es, nur um wenig später an anderer Stelle erneut aufzutauchen. Fast wie ein Irrlicht, das sie immer weiter in die Tiefe locken wollte, um sicherzugehen, dass sie den Weg nach Hause nie wieder fand.
 

Ataru hätte nicht sagen können, wie lange sie ohne nachzudenken dem Locken des Lichts gefolgt war, aber als sie sich das nächste Mal umsah, konnte sie kaum noch die Konturen der Riffe um sich herum erkennen. Nur wenn sie nach oben sah, war in weiter Ferne eine schwache Helligkeit auszumachen, die ihr zeigte, dass es noch eine Meeresoberfläche gab, zu der sie zurückkehren konnte. Um sie herum herrschte jedoch beinahe nachtschwarze Dunkelheit.
 

„Bitte …“ Sie wusste nicht warum, aber die beiden Silben verließen geflüstert ihren Mund, verhallten ungehört in den Tiefen des Meeres. Unruhig sah sie sich um und fühlte sich mit einem Mal vollkommen verloren in dieser unergründlichen Weite, die nichts mehr von der Wärme zu haben schien, die sie bisher immer umgeben und so vertraut gehalten hatte. „Lass mich nicht allein …“
 

Ihre Stimme klang verloren in der Stille, die so tief unter der Oberfläche herrschte, schien das einzige Geräusch zu sein, das hier in der Kälte existierte. Ganz so, als wäre nicht einmal das Wasser mehr real und sie würde stattdessen irgendwo im Nichts schweben.

Klein, schwach und alleingelassen. Ungeliebt. Unverstanden.
 

Mit einem Strom von kleinen Blasen entwich ihr sämtlicher Atem, bevor sie ihren Körper dazu zwingen konnte, nach Luft zu schnappen. Das kalte Meerwasser brannte wie Eis in ihren Lungen, ließ sie die Augen fest zusammenkneifen. Sie presste ihre Hände auf die Ohren, denn die Stille schien immer lauter, immer drückender zu werden – zu schwer, um noch erträglich zu sein. Stattdessen machte sie die bisher so wundervolle Zuflucht ihrer Träume zu einem schmerzhaften Albtraum.

Erneut verließ ein gebrochenes, jetzt beinahe lautloses Flehen ihre bebenden Lippen.

Ataru machte sich so klein, wie sie nur konnte, wollte verschwinden aus dieser Welt, die sie genau das körperlich fühlen ließ, womit sie ihr Leben lang hatte kämpfen müssen. All das, was sie gehofft hatte, endlich überwunden zu haben, schlug nun wie eine Welle über ihr zusammen. Die Empfindung war so allumfassend und überwältigend, dass es einige Augenblicke dauerte, bis ihr bewusst wurde, dass die Dunkelheit sich verändert hatte. Und dennoch war sie einige Herzschläge lang unfähig sich zu bewegen.

Erst nachdem sie noch einige Male vorsichtig durchgeatmet hatte, konnte sie den Kopf wieder heben. Blinzelnd öffnete sie die Augen und dort, fast direkt vor ihr, schwebte ein kleines warm-goldenes Licht im Wasser, wie ein Realität gewordener Hoffnungsschimmer.

Sie streckte vorsichtig ihre bebende Hand danach aus, als wäre der kleine Funke ein scheues Tier, das sie nicht verscheuchen wollte, aber sie musste nicht einmal warten – als hätte es entschieden, dass es Ataru vertrauen konnte, kam das Schimmern näher, bis es warm in ihrer Handfläche ruhte. Ihr war bewusst, dass dies hier nicht das gleiche Licht war, das sie bisher in ihren Träumen gesehen hatte, aber vielleicht war es ungleich wichtiger.
 

Hab keine Angst.‘
 

Die warme Stimme, die selbst diesen wenigen Worten einen melodischen Klang verlieh, schien direkt in ihrem Kopf zu existieren. Als sie sich umsah, war sie immer noch allein, aber irgendwo hatte sie genau diesen Satz, genau so gesprochen, schon einmal gehört.
 

Als hätte ihr Unterbewusstsein nur auf diese Erkenntnis gewartet, veränderte sich die Umgebung ohne Vorwarnung erneut. Ataru zuckte zusammen, als die bisherige Stille plötzlich vom Brüllen heftiger Brandung ersetzt wurde und unvermittelt ein stürmischer Wind an ihrem Haar zu zerren begann. Die Luft war klamm vor Gischt und roch nach aufgewühltem Meerwasser. Jede Welle schien ein Stück mehr des Strandes aufzufressen, auf dem sie stand und als sie an sich hinuntersah, konnte sie im Dunkeln gerade so ein Paar Kinderfüße ausmachen, das in gelben Gummistiefeln steckte.

Ihre Füße, die in den gelben Gummistiefeln steckten, die sie als Kind besessen hatte.

Ihr Mund wurde trocken, als sie begriff, was das bedeutete.

Das hier war kein Traum mehr. Es war eine Erinnerung.

 
 

Ataru wusste nicht, ob die Nässe auf ihren Wangen vom Regen kam oder ob es Tränen waren. Sie spürte mehr, als dass sie sich bewusst in Bewegung setzte, wie sie weiter in Richtung des Wassers stolperte, ehe sie irgendwann einfach im nassen Sand in sich zusammensackte. Immer wieder kamen die Wellen ihr bedrohlich nahe, umspielten die Schaumkronen ihre Knie, ließen sie vor Kälte erzittern. Und je mehr Zeit verging, desto deutlicher wurde die Erinnerung in ihrem Geist.

Sie musste fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein und nach einem Streit mit ihren Eltern wieder einmal zu ihren Großeltern geflüchtet. Als würde sie es zum ersten Mal erleben, spürte sie den Schmerz, der sie damals überwältigt hatte. Die Verzweiflung darüber, dass nicht einmal ihre Eltern ihr zugestehen wollten, zu wissen, wer sie war. Dass sie ihr nicht zutrauten sich selbst besser zu kennen, als sie es taten und ihr zu glauben, was sie sagte. Die allumfassende Angst, dass sie nie so sein würde, wie sie sie haben wollten, weil sie einfach nicht das war, was sie von ihrem Kind erwarteten. Weil sie eben nicht der Sohn war, den sie sich gewünscht hatten, sondern eine Tochter, die sie nicht akzeptieren konnten.

Heftige Schluchzer schüttelten ihren kleinen Körper, machten ihr das Atmen fast unmöglich, während sie ihre Finger in den Boden grub, um wenigstens irgendetwas, das sie spürte, selbst bestimmen zu können. Und sei es nur das Kratzen der groben Sandkörner auf ihrer Haut.
 

Warum weinst du?“
 

Die Worte waren so unerwartet, dass sie dachte, sie hätte sich nur eingebildet, dass dort jemand sprach, vielleicht nur Stimmen im Wind gehört, der nicht nachzulassen schien. Erst als sich die Frage noch einmal wiederholte, diesmal besorgter, eindringlicher, hob sie den Kopf und sah sich aus verquollenen Augen um. Einen Moment lang konnte sie in der Dunkelheit nichts ausmachen, bis sie eine Bewegung im Wasser erkannte und sich gleich darauf einem neugierigen Augenpaar gegenübersah.
 

Ist alles in Ordnung?“
 

Unfähig die Erscheinung im Wasser wirklich zu verarbeiten, nickte sie einfach nur. Stumm musterte sie das ebenmäßige Gesicht der fremden Frau, die da gerade in der Brandung aufgetaucht war und sich von den Wellen, die um sie herum brachen, anscheinend nicht im Geringsten gestört fühlte. Und die so ungefähr das Schönste war, das sie je gesehen hatte.
 

Bist du ein Geist?“, brachte sie schließlich zögerlich hervor, was die Fremde nur glockenhell lachen ließ.
 

Leben Geister im Meer?“
 

„Ich weiß nicht?“
 

Nein, ich bin kein Geist.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung kam die Frau näher, so nah, dass sie sich neben Ataru mit den Ellenbogen im Sand abstützen konnte. Sie blieb ganz entspannt so liegen, als würde gerade schönstes Sommerwetter herrschen, während die Wellen alles daran zu setzen schienen, sie zurück in die stürmischen Fluten des Meeres zu ziehen. „Du kannst mich Shiori nennen“, fügte sie hinzu, sah sie noch immer so forschend an. „Was machst du hier so allein? Und noch dazu im Dunkeln?“
 

Ataru unterdrückte ein neuerliches Schluchzen, atmete zittrig ein und zuckte dann mit den Schultern, konnte sich aber zu keiner Antwort durchringen. Wie sollte sie das alles auch erklären, wenn sie doch selbst keine wirklichen Worte dafür hatte?
 

Wie heißt du?“
 

„… A-Ataru.Mit einer vom Sand klebrigen Hand wischte sie sich über die Wange, um wenigstens irgendetwas gegen ihre Tränen zu tun, und holte noch einmal tief Luft. „Ist dir nicht kalt?“
 

Wieder lachte Shiori dieses helle Lachen, das sie fast schon einzuladen schien, darauf einzustimmen und ihre Sorgen zu vergessen.
 

Nein.“ Sie streckte eine Hand aus, um sie auf Atarus zu legen. Ihre Haut war kühl und glatt und als sie genauer hinsah, konnte sie zwischen ihren Fingern durchscheinende Schwimmhäute erkennen. „Ich lebe im Meer“, erklärte die Ältere, noch immer lächelnd. „Für mich fühlt es sich angenehm an. Aber du musst doch frieren … Bist du nicht zu jung, um ganz alleine hier zu sein, mitten in der Nacht?“
 

Statt zu antworten begann Ataru vorsichtig mit Shioris Hand zu spielen und mit den Fingerspitzen über ihre Haut zu streicheln, die selbst in der fast vollkommenen Dunkelheit ein wenig zu schimmern schien.
 

Ich laufe weg“, stieß sie schließlich trotzig hervor. Ein Plan, den sie in derselben Sekunde gefasst hatte, in der die Worte ihren Mund verließen. „Meine Eltern wollen mich eh nicht. Ich werd einfach auch im Meer leben, so wie du.“
 

Kannst du denn schwimmen?“
 

Natürlich!“
 

Shiori setzte sich auf und nun konnte Ataru erkennen, dass sie tatsächlich keine Kleidung zu tragen schien. Langes, dunkles Haar fiel ihr in nassen Bahnen bis weit über die Schultern und verhüllte ihren Oberkörper. Es bildete einen geradezu verblüffenden Kontrast zu ihrer Haut – bis diese auf Höhe ihrer Hüften in dunkel glänzende Schuppen überging. Und wenn Ataru die Fremde schon interessiert gemustert hatte, so war dies umgekehrt ebenso der Fall. Die dunklen Augen lagen nachdenklich auf ihr, schienen für einen Moment ein wenig glasig zu werden, als Shiori ihre Hand noch einmal nach ihr ausstreckte und sie ihre langen Fingernägel über ihre Haut geistern fühlte.
 

Vielleicht ist das Meer tatsächlich irgendwann deine Heimat, Ataru“, sagte sie schließlich. „Aber dafür bist du noch ein bisschen zu jung, meinst du nicht?“ Mit dem ausgestreckten Zeigefinger stupste sie die Nase des Kindes vor sich an, lächelte nun voller Zuversicht. „Deine Großeltern würden sich doch Sorgen machen, wenn du nicht zurück zu ihnen kommst.“
 

Aber –“
 

Vertrau mir, es wird alles gut werden. Es wird sicher nicht einfach, aber irgendwann wird alles genau so sein, wie du es dir wünschst.“
 

Ohne dass sie es verhindern konnte, regte sich ein kleiner Funken Hoffnung in Ataru. Vielleicht hatte diese Frau aus dem Meer ja recht. Vielleicht musste sie einfach nur Geduld haben und wenn sie groß war, wäre alles gut?
 

Woher weißt du das?“, wollte sie dennoch wissen, wagte es nicht, einfach so auf vage Hoffnungen zu vertrauen.
 

Ich weiß Dinge. Das ist meine Gabe.“ Shiori zwinkerte ihr kurz zu, begann dann sich langsam etwas mehr in Richtung Wasser zu bewegen. „Und wenn ich dich ansehe, dann weiß ich zwei Dinge: Du wirst glücklich sein und das Meer wird dich niemals im Stich lassen, Ataru. Hab keine Angst. Die Zukunft wird besser sein, als du es dir vorstellen kannst.“

 
 

~*~

 

Ataru schlug die Augen auf und schaute an die Zimmerdecke, ohne wirklich etwas zu sehen, spürte nur, wie sich heiße Tränen den Weg über ihre Wangen bahnten. Ihre Kehle fühlte sich eng an, fast zu eng, um zu atmen, und ihr Brustkorb war wie zugeschnürt. Von draußen fiel das kühle Licht der Morgendämmerung in ihr Zimmer, begleitet vom ewig steten An- und Abschwellen des Meeres. Im Gegensatz zur Ruhe des anbrechenden Tages herrschte in ihrem Kopf lautes, ungezähmtes Chaos. Wie hatte die das alles nur vergessen können?

Wie hatte ihr diese merkwürdige Begegnung bloß so vollkommen entfallen können?

Erinnerungen an ihre Kindheit waren zwar selbst im besten Fall oft nur verschwommen, aber das? So etwas vergaß man doch nicht einfach. Eine Person wie Shiori vergaß man nicht.

Mit einem unterdrückten Schluchzen, von dem sie hoffte, dass es niemand gehört hatte, rollte sie sich auf der Seite zusammen und kniff die Augen zu. Sie zog ihre Bettdecke mit zitternden Fingern bis zum Kinn, machte sich ganz klein darunter. Sie wollte gerade nicht wach sein, wollte das alles nicht wissen, wenn sie ehrlich war. Sie verstand nicht, warum dieser Traum so wehgetan hatte. Warum er ihr jetzt noch so weh tat und wusste ebenso wenig, was sie mit der Erkenntnis, dass sie anscheinend tatsächlich schon einmal eine Nixe getroffen hatte, anfangen sollte. Nichts von alledem ergab Sinn, konnte gar keinen Sinn ergeben. Und gerade war sie fast schon wütend auf ihr Unterbewusstsein und darauf, dass es ihr diese Offenbarung gemacht hatte.
 

Es dauerte lange Minuten, bis ihr Körper sich schließlich so weit entspannte, dass ihre Atmung langsam ruhiger wurde. Nun starrte sie blicklos in das Halbdunkel ihres Zimmers und hatte das Gefühl, nicht einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können. Außer dem, dass sie nicht wusste, wie sie den heutigen Tag überstehen sollte.

Denn natürlich erinnerte sie sich noch sehr genau daran, wie wenig Glauben ihre Eltern ihr von Anfang an geschenkt hatten, eben nie darauf vertraut hatten, dass sie sich doch selbst am besten kennen musste. An dieser Einstellung hatte sich schließlich bis heute nichts geändert. Aber gerade fühlte sie sich, als wäre sie wirklich wieder ein Kind und hätte diese kalte Ablehnung zum ersten Mal erfahren. Es brach ihr das Herz, ließ mit jeder Sekunde, in der sie diesem Gefühl Raum gab, neue Tränen über ihre Wangen laufen. Manchmal wünschte sie sich, dass sie ihre Eltern hassen könnte, aber gleichzeitig war ihr klar, dass ihr das weder helfen noch etwas an der Situation, in der sie war, ändern würde.

In einer fahrigen Geste wischte sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht, atmete dann noch einmal bewusst tief durch. Es brachte nichts, wenn sie weiter darüber nachdachte. Ihre Eltern hatten ihren Standpunkt in den letzten fünfzehn Jahren nicht geändert und würden es vermutlich auch in den nächsten fünfzehn nicht tun. Oder überhaupt jemals. Damit musste sie sich einfach abfinden, selbst wenn es immer noch wehtat. Abgesehen davon hatte sie immer noch ihre Großeltern, die für sie da waren und ihr den Rückhalt gaben, den sie brauchte. Die ihr eine bessere Familie waren, als sie je für möglich gehalten hätte. Und vielleicht, ganz vielleicht, hatte sie jetzt außerdem noch Toshiya und Die, die sie so annahmen und mochten, wie sie war. Auch wenn sie nicht wusste, wie das, was da zwischen ihnen war, langfristig weitergehen sollte. Ob es überhaupt eine Zukunft haben konnte.

Wenn sie ehrlich war, war das allerdings die letzte Sache, über die sie sich jetzt den Kopf zerbrechen wollte. Gerade brauchte sie vor allem den Lichtblick, den die beiden für sie darstellten. Vielleicht nicht auf ewiges Glück, aber zumindest als Zeichen dafür, dass die Dinge tatsächlich besser werden konnten und es so etwas wie eine Zukunft für sie gab.

Diesen Gedanken bewusst so zu formulieren, brachte das Brennen zurück in ihre Augen, ließ sie das Gesicht endgültig in ihrem Kissen verbergen, während sie sich ihren Tränen vollends ergeben musste, ob sie nun wollte oder nicht.

 
 

~*~

 

Als sie einige Stunden später langsam am Meer entlang ging, fühlte sie sich ruhiger, aber auch seltsam leer, aufgebraucht und erschöpft. Dass die Nacht keine erholsame gewesen war, sah man ihr definitiv an, aber gleichzeitig hatte sie keine Kraft gefunden, etwas dagegen zu unternehmen. Wozu sollte sie Zeit mit Make-up verschwenden, wenn sie später ohnehin im Meer schwimmen würde? Da waren ihr Augenringe immer noch lieber als Mascara-Reste, die sie nur wie einen schlecht gelaunten Panda aussehen lassen würden.

Mit einem leisen Seufzen straffte Ataru ihre Schultern und zwang sich dazu, zumindest ein bisschen schneller zu gehen, auch wenn sie es vorgezogen hätte, sich den ganzen Tag lang in ihrem Bett zu verkriechen. Vermutlich war es besser, dass sie schon Pläne hatte, die sie dazu zwangen das Haus zu verlassen. Nicht nur, weil sie sich ja eigentlich auf ihre Freunde freute, ihr waren auch die besorgten Blicke nicht entgangen, die ihre Großeltern ihr beim ungewohnt schweigsamen Frühstück zugeworfen hatten. Entweder hatten sie ihr Weinen also doch gehört oder sie hatte tatsächlich noch mieser ausgesehen, als sie selbst befürchtet hatte. Und so wie sie ihre Familie kannte, würden die beiden sie in der nächsten Zeit vermutlich genauestens im Auge behalten, um sicherzugehen, dass sie lediglich einen schlechten Tag hatte und nichts Schwerwiegenderes im Argen war. Sie sollte dankbar dafür sein, aber im Moment erschien ihr auch das einfach nur unfassbar anstrengend. Schließlich war es nicht so, dass sie ihre Erschöpfung und miese Laune glaubhaft mit einem verqueren Traum erklären konnte. Auf der anderen Seite stand es gänzlich außer Frage ihre Großeltern anzulügen, wenn es um ihren Gemütszustand ging. Also lieber gar keine Gespräche, wenn es irgendwie möglich war.

 

Es war albern, aber manchmal wollte sie schlicht und ergreifend weg von hier, weg von allem, was hier passierte und allem, was sie kannte. Einfach nur irgendwo anders sein, an einem namenlosen Ort, an dem niemand wusste, wer sie war und an dem sie zur Ruhe kommen konnte. Eine kleine Oase, an der sie für sich existieren könnte. Aber sang- und klanglos zu verschwinden würde ihren Großeltern die Herzen brechen und ihr selbst genauso, wenn sie ehrlich war. Vielleicht war sie hier also letztlich doch besser aufgehoben, als in einer fremden Stadt, in der sie keine Menschenseele kannte und in der sie sich wahrscheinlich noch mehr isolieren würde, als es ohnehin schon der Fall war.

Überhaupt, sie sollte sich erst einmal auf das konzentrieren, was im Augenblick in ihren Händen lag, statt über fadenscheinige ‚was wäre, wenn‘-Szenarien nachzudenken, die nur zu immer mehr Negativität führen würden. Damit war gerade niemandem geholfen, am wenigsten ihr selbst. Allein schon, weil sie sich eigentlich auf diesen Tag heute gefreut hatte, geradezu daraufhingearbeitet hatte, weil sie unbedingt wissen wollte, was Die und Toshiya ihr zeigen wollten. Was dieser mysteriöse, für die beiden so besondere Ort war und was der Grund dafür war, dass sie ihn ihr jetzt offenbaren wollten.

 

Das erste Mal an diesem Tag zupfte um ihre Erschöpfung herum ein kleines, ehrliches Lächeln an ihren Lippen, als sie die Stelle erreicht hatte, an der sie Die und Toshiya nach dem Tanabata wiedergesehen hatte.

Leise summend trat sie sich ihre Turnschuhe von den Füßen und ließ sich im Schneidersitz auf dem grasbewachsenen Felsen nieder, genoss die Wärme, die dieser trotz des bedeckten Himmels ausstrahlte. So unnachgiebig der Stein war, es hatte etwas Beruhigendes, Tröstendes, hier zu sitzen. Sie konnte gar nicht anders, als die Augen zu schließen und sich für einige tiefe Atemzüge einfach die würzige Seeluft um die Nase wehen zu lassen. Auch wenn die kreisenden Gedanken in ihrem Kopf keine Ruhe gaben, so hatte sie das Gefühl sich zumindest ein bisschen entspannen zu können, obwohl ihr bewusst war, dass es nur von kurzer Dauer sein würde.

Früher oder später, das wusste Ataru, würde sie sich mit diesen Gedanken beschäftigen müssen, sie würden sich nicht ewig verdrängen lassen. Aber für den Augenblick wollte sie sich ein wenig davon lösen. Oder sich zumindest nicht den Tag davon verderben lassen, dass dieser Traum und alles, was er ausgelöst hatte, sie so aus der Balance brachten.

Deswegen verharrte sie, wie sie war, äußerlich vollkommen still. Sie spürte den weichen Wind, zählte die Wellen, die sich zahm an den Felsen unter ihr brachen und genoss die Stille, die davon abgesehen um sie herum herrschte. Wie so oft schaffte es die altbekannte Geräuschkulisse, sie ruhiger werden zu lassen, sodass sie sich allmählich wieder mehr wie sie selbst zu fühlen begann.

Als Bewegungen im Wasser die Gleichmäßigkeit der Wellen unterbrachen, öffnete sie fast schon widerwillig die Augen, lächelte aber, als ihre Vermutung bestätigt wurde. Unter ihr schwammen Die und Toshiya im Meer, schienen abgewartet zu haben, dass sie sie bemerkte.

 

„Hey.“ Selbst in ihren eigenen Ohren hörte sie sich müde und abgeschlagen an und auch ihre Freunde schienen zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Wie so oft war es Die, der zuerst näher kam.

 

„Wir wollten dich nicht erschrecken.“, erklärte er ihr abwartendes Verhalten, woraufhin Ataru nur den Kopf schütteln konnte.

 

„Alles gut, habt ihr nicht.“ Wie um ihren Zustand zu bestätigen, musste sie sich die Hand vor den Mund halten, als sie ein tiefes Gähnen überkam. „Ich hab nur nicht besonders gut geschlafen.“
 

Wenn sie ehrlich war und ihn so ansah, hatte auch Die selbst schon erholter ausgesehen. Offensichtlich versuchte er, es sich nicht anmerken zu lassen, aber er wirkte unruhig, beinahe fahrig. Immer wieder schaute er zwischen ihr und Toshiya hin und her, der seinerseits einen Gesichtsausdruck zur Schau trug, den sie nicht deuten konnte. Er lächelte sie an, aber auch hinter dieser Geste glaubte sie, noch etwas anderes zu erkennen, als wäre er mit seinen Gedanken nicht ganz hier. Oder aber – und diese Möglichkeit musste sie definitiv in Betracht ziehen – sie war im Moment einfach zu angespannt und deswegen ein bisschen überempfindlich.

 

„Meint ihr, dass das Wetter heute hält?“, fragte sie deswegen, um die merkwürdige Stimmung und ihre eigenen Zweifel gleichermaßen zu übertönen. Aber dennoch war die Frage berechtigt, schließlich hatten sie, das hatten ihr die beiden erklärt, durchaus ein Stück Weg vor sich. Wenn ein Sturm aufzog, würde es zu gefährlich sein, diesen schwimmend oder tauchend zurückzulegen.

 

„Das sollte kein Problem sein“, antwortete Toshiya. Er blinzelte an den dunklen Strähnen seines nassen Haars vorbei nach oben, folgte mit seinen Blicken einigen dahintreibenden Wolken. „Uns sollte spätestens in ein, zwei Stunden ein strahlend blauer Himmel erwarten.“ Seine Augen wanderten zu ihr und nun schien sein Lächeln endlich die Wärme und Ehrlichkeit auszustrahlen, die sie eben noch vermisst hatte. „Und der nächste Taifun sollte auch noch ein bisschen auf sich warten lassen, denke ich.“

 

„Na, das beruhigt mich.“ Ataru zog die Nase kraus und beobachtete die beiden Männer aufmerksam dabei, wie sie aus dem Wasser und entlang der Felsen zu ihr nach oben kletterten. Es war der jüngere der beiden, der sie zuerst erreichte. Sie erwartete beinahe, dass Toshiya sie, tropfnass wie er war umarmen würde – stattdessen hockte er sich stumm neben sie und lehnte für einen Moment vorsichtig seine angenehm kühle Stirn gegen ihre. Ganz von allein schlossen sich Atarus Augen für einige Sekunden, in denen sie diese gänzlich unschuldige Nähe genießen konnte. Vorsichtig hob sie eine Hand an seine Wange, liebkoste die sonnengebräunte Haut und sah ihn schließlich erst wieder an, als er ein wenig von ihr abrückte.

 

„Ist es wirklich nur der Schlaf?“, wollte er leise wissen, presste im nächsten Moment seine Lippen in ihre Handfläche, ohne seine dunklen Augen von ihr zu nehmen.

 

„Wirklich. Ich hab nur schlecht geträumt, das ist alles.“ Sie zwang sich dazu, ihn so ruhig wie möglich anzusehen, damit er ihr Glauben schenkte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie im Moment wenig Lust ihren Traum und alles, was er ausgelöst hatte, mit den beiden auseinanderzunehmen. Um das irgendwann tun zu können, benötigte einen klareren Kopf und ein bisschen Abstand von der letzten Nacht.

Toshiya sah aus, als wollte er noch weiter nachhaken, wurde aber von Die mehr oder minder sanft mit einem Fuß beiseite geschoben. Er hatte es irgendwie geschafft sein langes, nasses Haar am Hinterkopf zusammenzuknoten und hielt ihr nun seine Hände hin, wackelte auffordernd mit den Fingern, bis sie danach griff und sich von ihm auf die Beine ziehen ließ. Nachdenklich musterte er Atarus Gesicht schweifen, nur um dann mit den Schultern zu zucken und einen kleinen Kuss auf ihrer Nasenspitze zu platzieren.
 

„Ich hab ja von Anfang an gesagt, du brauchst keinen Schönheitsschlaf“, meinte er schlicht, entlockte ihr damit ein unfreiwilliges Lachen.

 
 

~*~

 

Weit hatten sie nicht an der Küste entlang laufen müssen, aber sie ließen sich Zeit auf ihrem Weg. Vielleicht hatten Toshiya und Die es selbst nicht wirklich eilig, vielleicht spürten sie auch, dass Ataru doch weniger fit war, als sie zugeben wollte. Aber glücklicherweise war das Schweigen, in das sie immer wieder verfielen, nicht so erdrückend oder unangenehm, wie sie erst befürchtet hatte, sondern schien einvernehmlich. Denn selbst wenn sie versuchten, sich nichts anmerken zu lassen, je länger sie liefen, desto sicherer war sich Ataru, dass irgendetwas in der Luft lag. Dass es irgendetwas gab, was ihre Freunde verunsicherte oder zumindest nachdenklich stimmte.

Vielleicht hatte es etwas damit zu tun, was sie ihr zeigen oder sagen wollten?

Sie selbst hatte tatsächlich keine Ahnung, was das genau sein könnte – außer der vagen Vermutung, dass sie einfach kein richtiges Zuhause haben könnten und an diesem geheimen Ort, den sie ihr zeigen wollten, lebten. Allerdings konnte sie nicht sagen, wie wahrscheinlich diese Theorie war, denn auch, wenn sie das ein oder andere erklären würde, so wirklich daran glauben konnte sie nicht. Vermutlich war es naiv, aber sie konnte das Bild, das sie von den beiden hatte, nicht mit dem von obdachlosen Menschen in Verbindung bringen. Sicher, Toshiya und Die schienen einfach in den Tag hinein zu leben und nur selten konkrete Pläne zu haben, aber das musste ja nicht zwingend etwas über ihre Umstände aussagen. Und vielleicht war es ihre eigene Behaftung mit Vorurteilen, aber die Leichtigkeit, die die beiden zu im Allgemeinen umgab, passte für sie nicht zu jemandem, der heimatlos war und sich auf der Straße durchschlagen musste.

 

Es hatte abermals für einige Minuten Schweigen zwischen ihnen geherrscht, als sie schließlich an einer kleinen Bucht stehen blieben, die nur einige dutzend Meter lang war. Der feine Strand schimmerte hell im Licht der Sonne, die mittlerweile mehr und mehr durch die Wolken brach, wurde aber immer wieder von dunklen Steinen durchsetzt, die im Wasser überhandzunehmen schienen. Ataru, die ihre Schuhe in ihren Rucksack gesteckt hatte, bevor sie losgelaufen waren, genoss es, statt Gras und warmer Erde nun den feuchten Sand unter ihren Fußsohlen zu fühlen. Sie konnte gar nicht anders, als ihre Zehen ein bisschen darin zu vergraben.

 

„Von hier aus schwimmen wir los“, erklärte ihr Toshiya, nachdem er für einige Momente nachdenklich aufs Wasser geschaut hatte. „Es sollte nicht zu anstrengend sein, das Wasser ist ruhig und es ist auch nicht furchtbar weit.“

 

„Okay.“

 

Atarus Augen flackerten unentschlossen zu ihren Begleitern, dann entledigte sie sich ihres Rucksacks und ließ ihn achtlos neben sich in den Sand fallen. Heute befand sich darin nichts, was kaputtgehen würde, aber selbst wenn, hätte sie wahrscheinlich gerade nicht daran gedacht. Stattdessen atmete sie gedanklich noch einmal tief durch, bevor sie sich mit einem Ruck ihr loses Sommerkleid über den Kopf zog. Ihren Blick hielt sie dabei, und als sie das Kleidungsstück fast schon hektisch in ihrem Rucksack verstaute, konzentriert auf den gemusterten Stoff gerichtet. Selbst diese Nichtigkeit war ihr im Augenblick ein willkommener Grund, um ihren Begleitern nicht in die Augen sehen zu müssen.

Nachdem sie sich vor ein paar Tagen überwunden hatte, den Bikini, den sie heute zum ersten Mal außerhalb ihres Zuhauses trug, zu kaufen, hätte sie nicht gedacht, dass es ihr so schwerfallen würde, sich darin zu zeigen. Allein schon, weil an den Sachen, die sie sonst zum Schwimmen trug, realistisch betrachtet nicht wirklich mehr Stoff war. Vielleicht hätte sie ihre Entscheidung am Morgen aber auch einfach etwas länger überdenken sollen, denn rein emotional war heute wohl der denkbar ungünstigste Tag für dieses Experiment. Zumindest, wenn sie in Betracht zog, wie unwohl sie sich ohnehin schon fühlte, seit sie aufgewacht war. Aber vielleicht war eben dieses Unwohlsein auch der Grund dafür, dass sie jetzt so hier stand – als hätte sie sich aus reinem Trotz dafür entschieden, sich diese Belastungsprobe heute auch noch anzutun. Nur, um sich selbst etwas zu beweisen, was auch immer das genau sein sollte. Denn gerade fühlte es sich eher danach an, als hätte sie sich für ihre neu aufgeflammte Verletzlichkeit bestrafen wollen.

Eigentlich wusste sie, dass ihr der Bikini stand: das dunkle Rot harmonierte gut mit dem Ton ihrer Haut und er passte, wie für sie genäht. Aber wie so oft halfen ihr rationale Gedanken in diesen von Unsicherheit geprägten Momenten reichlich wenig weiter und sie hätte sich am liebsten umgedreht, um wieder nach Hause zu gehen. Egal wie kindisch dieses Verlangen auch war. Nach der letzten Nacht fühlte sie sich einfach zu aufgewühlt, um damit umgehen zu können, dass sie gerade das Gefühl hatte, irgendwie ihre Weiblichkeit, ihr rechtmäßiges Dasein als Frau beweisen oder verteidigen zu müssen. Selbst wenn es dafür keinen tatsächlichen Anlass gab.

Erst als sie aus dem Augenwinkel bemerkte, dass Toshiya und Die sich in den letzten Augenblicken nicht gerührt hatten, sah sie schließlich auf. Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe, zuckte dann wortlos mit den Schultern.

Beide erwiderten ihren Blick, betrachteten sie und es hätte sie überrascht, dass ihr allein das nicht unangenehm war, hätte sich Die nicht nach wenigen Sekunden kommentarlos umgedreht. Ataru sah ihm nach, wie er in Richtung Wasser ging, ein gutes Stück zwischen den Felsen in die Wellen watete und sich schließlich ohne eine Silbe zu verlieren einfach in das kühle Nass fallen ließ. Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen wandte sie sich wieder an Toshiya, der jedoch nur gespielt mit den Augen rollte.

 

„Ignorier ihn, er hat heute wieder einen dramatischen Tag. Was er auf diese wortlose und absolut nicht umständliche Art sagen wollte: Du siehst toll aus.“

 

„Danke?“ Trotz ihrer anhaltenden Unsicherheit konnte sie sich ein schwaches Grinsen nicht verkneifen. Für einen Moment sah sie noch zum Wasser, ließ es zu, die Erleichterung zu spüren, die sie gerade durchflutete. Alles war okay. Alles war gut und dieser Tag würde auch irgendwie gut werden, egal wie er angefangen hatte. Sie musste es sich nur lange genug einreden.
 

Noch immer lächelnd hob sie ihren Rucksack auf und ließ sich von Toshiya eine Stelle am Rand der Bucht zeigen, an der sie ihn gut verstecken konnte und er auch später sicher sein sollte, wenn die Flut die Wellen weiter an Land trieb. Dann gingen sie gemeinsam zwischen den dunklen Felsen hindurch in Richtung Wasser, von wo Die sie mittlerweile aufmerksam beobachtete. Sein Gesicht wirkte jetzt entspannter und ein feines Lächeln umspielte seine Mundwinkel, während sie geradezu spüren konnte, wie seine Blicke jeder ihrer Bewegungen folgten. Dennoch wurde Ataru das Gefühl nicht los, dass er heute eine ungewöhnliche Unruhe ausstrahlte, auch wenn sie versuchte, sich zu sagen, dass sie nur ihren eigenen Gemütszustand auf ihn projizierte.

Sie verharrte schließlich an einer Stelle, an der die Felsen begannen teilweise recht steil ins Wasser abzufallen und beobachtete, wie Toshiya vor ihr noch einige Schritte weiter ging, dann ebenfalls innehielt. Mit einer Hand strich er sich seine schwarzen Haare aus der Stirn, die jetzt, wo sie fast trocken waren, leicht gewellt in sein Gesicht fielen. Er schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln, ehe er Die mit einem lang gestreckten Hechtsprung ins Wasser folgte.

 

Von dem Felsen aus, auf dem sie stand, strahlte das Meer in einem tiefen Türkis, das geradezu nach ihr zu rufen und sie zu sich zu locken schien. Vielleicht hätte dieses Gefühl ihre angespannten Nerven ein wenig beruhigt, hätten nun nicht zwei dunkle Augenpaare auf ihr geruht.

 

„Okay, du schaffst das Ataru“, murmelte sie halblaut, um sich den Mut zu machen, den sie sich nicht wirklich zutraute. Sie tastete sich langsam noch etwas weiter nach vorne, immer darauf vertrauend, dass ihre Begleiter sofort bei ihr wären, sollte es ein Problem geben. Die Felsen waren kühl und rau unter ihren Fußsohlen, gaben ihr die nötige Sicherheit für die letzten Schritte, bis sie schließlich an dem Punkt stand, von dem aus Toshiya gesprungen war.

Am liebsten hätte sie sich einfach, ähnlich wie Die vorhin, wie ein Stein ins Wasser fallen lassen, aber das Risiko, dass dabei ihr Bikini irgendwie verrutschen könnte, war ihr schlicht zu hoch. Deswegen ließ sie sich stattdessen vorsichtig auf dem steinigen Vorsprung nieder, um sich von dort abstoßen zu können.

Und wie jedes Mal, das sie jetzt gemeinsam mit ihren Freunden im Meer geschwommen war, ließen die ersten Momente der Schwerelosigkeit ihr Herz schneller schlagen. Sie musste sich dazu zwingen ruhig weiterzuatmen, trotz des Wissens, dass sich direkt unter ihr für einige Meter kein fester Boden befand. Während sie noch damit beschäftigt war, sich an genau diese Situation zu gewöhnen, kam Die mit wenigen, spielerisch leicht wirkenden Bewegungen zu ihr hinübergeschwommen und strich ihr mit einer Hand einige feuchte Strähnen ihres Haars aus der Stirn.

 

„Wenn irgendetwas ist oder es dir zu anstrengend wird, sag Bescheid, ja?“ Auch jetzt wirkte er ernster als sonst. Seine oft so melodische Stimme nahm einen fast schon beschwörenden Tonfall an, während seine Hand noch immer kühl an ihrer Wange ruhte.

 

„Mach ich.“ Am liebsten hätte Ataru ihn gefragt, was denn heute so anders war. Ob überhaupt etwas anders war und ob sie sich irgendwie Sorgen machen musste, aber sie fand nicht die richtigen Worte dafür. Stattdessen drehte sie ihren Kopf etwas und drückte einen beruhigenden Kuss Dies Handfläche, der ihm ein kleines Lächeln entlockte. Dann flackerte sein Blick zu Toshiya, der ebenfalls ein Stück näher gekommen war, nun eine Hand sacht über ihren unteren Rücken streicheln ließ.

 

„Ich werde voranschwimmen, folg mir einfach und Die bleibt sicherheitshalber hinter dir. Ich versuche, langsam zu machen, okay?“

 

„Okay.“ Sie beschloss die Ernsthaftigkeit der beiden für den Moment einfach weiter zu ignorieren, zog stattdessen die Nase kraus. „Dann mal los, bevor meine ganze Kraft fürs Auf-der-Stelle-Schwimmen draufgeht.“

 

„Ganz wie die Dame wünscht.“ Mit einem kleinen Zwinkern wandte Toshiya sich um, tauchte in derselben Bewegung unter, um die ersten kräftigen Schwimmzüge zu tun.

 
 

~*~

 

Im Nachhinein betrachtet konnte Ataru sagen, dass ihre Aufregung, zumindest was das Tauchen anging, definitiv ein bisschen übertrieben gewesen war. Ja, es war ungewohnt und anstrengend und sie hatte nicht viel Übung darin, über längere Zeit die Luft anzuhalten – aber es war machbar gewesen. Trotz der Anstrengung und der Tatsache, dass sie im Salzwasser kaum etwas hatte sehen können, hatte das Meer sie ebenso leicht umfangen, wie es in ihren Träumen der Fall war. So sehr, dass sie sich mehr als einmal versucht gefühlt hatte, sich nach dem altbekannten goldenen Schimmer umzusehen. Am liebsten hätte sie ihre Freude über dieses Erfolgserlebnis lautstark mit ihren Begleitern geteilt, aber kaum hatten sie die Höhle, die den Zugang zu dieser wirklich traumhaft schönen kleinen Lagune bildete, verlassen, hatte sie die allgemeine Anspannung zum Schneiden dick in der Luft gefühlt.

Unwillkürlich ballte Ataru die Hände zu Fäusten, als sie das Wasser verließ. Sie hatte kaum einen Blick für den puderweißen Strand oder den leuchtend blauen Himmel, der sich darüber spannte. An jedem anderen Tag hätte sie problemlos und mit Freuden die gleiche Geduld aufgebracht, die Die und Toshiya immer mit ihr hatten, aber heute wusste sie nicht, woher sie die Kraft dafür nehmen sollte.

Sie blieb abrupt stehen und drehte sich zu den beiden Männern, die langsam hinter ihr liefen, um. Der Anblick war fast schon ein bisschen traurig, so offensichtlich war es, dass sie etwas beschäftigte, das sie geradezu Schutz in der Nähe des anderen suchen ließ.

 

„Was ist eigentlich los?“, platze es schärfer aus Ataru heraus, als sie beabsichtigt hatte.

 

Als Antwort bekam sie vorerst nur Schweigen. Dann ein tiefes Seufzen und ein Kopfschütteln von Die, der zurückblieb, während Toshiya weiter auf sie zuging und offensichtlich nach den richtigen Worten suchte.

 

„Wir haben dir doch gesagt, dass wir dir etwas erzählen wollen, aber es … ist nicht so einfach.“

 

„Das verstehe ich ja.“ Sie musste sich beherrschen, um sich nicht mit beiden Händen durch die Haare zu fahren oder ihren Unmut noch mehr überhandnehmen zu lassen. „Ich hab nur mehr und mehr das Gefühl, dass ihr gar nicht hier sein wollt, zumindest nicht in dieser Situation und ganz ehrlich … Es fällt mir wirklich schwer, das nachzuvollziehen. Ich habe euch quasi eines der schwersten Dinge anvertraut, die ich so mit mir herumtrage, und das ohne großartig etwas über euch zu wissen. Wieso ist es so schwer für euch, mir auch ein bisschen Vertrauen entgegenzubringen?“

 

Sie war sich bewusst, dass sie nicht mehr nur angespannt klang, sondern sich mit jedem Wort mehr Frustration und Wut in ihre Stimme schlichen. Aber im Moment fühlte sie sich außerstande, etwas dagegen zu tun. Je mehr Zeit sie mit dieser nagenden Ungewissheit verbrachte, desto mehr hatte sie das Gefühl, sich verzweifelt an etwas zu klammern, das ihr unaufhaltsam durch die Hände zu rinnen schien.

 

„Ataru, bitte.“ Nun war es Die, der endlich den Mund aufbekam, auch wenn er noch immer nicht zu ihnen aufgeschlossen hatte, sondern ein paar Meter entfernt mit einem Fuß im Sand scharrte. Selbst als er weitersprach, schaffte er es nicht wirklich, sie anzusehen. „Es liegt doch nicht daran, dass wir dir nicht vertrauen.“

 

„An was liegt es dann, Die? Sag es mir. Weil je länger sich das hier hinzieht, desto mehr sehe ich doch, dass-“ Obwohl sie den Älteren eben unterbrochen hatte, schnitt sie sich nun selbst das Wort ab. Unwillkürlich wanderte eine Hand zu ihrem Magen, als sich ihr eine neue Möglichkeit dafür offenbarte, warum die beiden ausgerechnet hier mit ihr hatten sprechen wollen. Die Erkenntnis schickte eisige Kälte durch ihre Adern und die bisher angenehme Sommerbrise ließ sie zittern. Ihre Gedanken rasten und sie hätte am liebsten den Kopf über sich selbst geschüttelt. Natürlich. Wie hatte sie so dumm sein können?

Die Wahrheit lag mit einem Mal so klar und deutlich vor ihr, dass sie sich beinahe schämte, nicht eher darauf gekommen zu sein. Ein nur allzu bekannter Selbsthass breitete sich geradezu überwältigend in ihr aus, dass sie Toshiyas nächste Worte erst mit einiger Verzögerung wirklich wahrnehmen konnte.

 

„Es liegt daran, dass wir eigentlich nicht darüber reden können. Oder dürfen.“

 

„Bitte was?“ Sie musste sich dazu zwingen, nicht aus Reflex vor ihm zurückzuweichen und das einzige, was sie innehalten ließ, war sein offensichtliches Unbehagen. Denn nun war es Toshiya, der sich in einer Geste, die fast schon verzweifelt wirken wollte, mit einer Hand durchs Gesicht fuhr.

 

„Es ist uns verboten darüber zu reden.“

 

Noch immer ungläubig verschränkte Ataru die Arme und wartete schweigend darauf, dass er fortfuhr. Als dies nicht zu passieren schien, stieß sie ein harsches „Warum?“ aus, blieb ansonsten aber zumindest äußerlich vollkommen unbewegt.

 

„Weil … Verdammt, das klingt alles so vollkommen bescheuert, wenn man es ausspricht.“ Jede Faser an Toshiya machte den Eindruck, als würde er im nächsten Moment aus der Situation fliehen wollen, aber sie konnte ihm nicht den Gefallen tun, ihn zu beruhigen. Nicht gerade jetzt, wenn ohnehin gleich das passieren würde, was sie befürchtet hatte, seit sie die beiden kannte. Deswegen kniff sie lediglich die Lippen zusammen und sah ihn an, bis er endlich fortfuhr, während sich ihre Nägel mit jedem Atemzug fester in ihre Oberarme gruben.

 

„Wir dürfen nicht darüber reden, wer wir sind … weil wir keine Menschen sind.“

 

Die Worte hingen ausgesprochen in der Luft zwischen ihnen und Ataru konnte nicht anders, als sprachlos zwischen Toshiya und Die hin und her zu sehen. Sie wartete darauf, dass einer von ihnen einen blöden Witz riss, oder wenigstens überhaupt irgendetwas sagte. Aber die beiden Männer musterten sie genauso abwartend, wie sie es umgekehrt tat. Am Ende sprach sie die einzigen Worte aus, die ihr gerade klar und deutlich durch den Kopf gingen:

 

„Wollt ihr mich eigentlich verarschen?“

 

„Was? Nein? Wie kommst du darauf?“

 

Ein trockenes Lachen bahnte sich den Weg zwischen ihren Lippen hervor.

 

„Glaubt ihr denn wirklich, dass ich euch das abnehme?“

 

„Ataru, ich weiß selbst, wie das klingt, aber lass es uns doch erklären, bitte.“

 

„Wenn ihr mich loswerden wollt, dann sagt es doch einfach, statt euch so einen Scheiß auszudenken!“ Ohne, dass sie es hätte verhindern können, ließ ein Schluchzen Atarus Stimme brechen. Ihre Augen brannten und am liebsten hätte sie den wenigen Abstand zu Toshiya überbrückt, nur um ihn mit aller Kraft und Wut, die sie hatte, von sich stoßen zu können. Sie hasste es, dass sie so schwach und verletzlich war. Dass sie bisher so dumm gewesen war. „Vermutlich geschieht es mir recht, aber wieso denn diese ganze Scharade? Dachtet ihr, dass ich euch eine Szene mache, wenn ihr sagt, dass ihr keinen Bock mehr auf mich habt? Habt ihr befürchtet, dass es jemand mitbekommen könnte, dass wir Zeit miteinander verbracht haben?“

 

Mit jedem Wort, das sie von sich gegeben hatte, wirkte Toshiya ein wenig fassungsloser, bis er geradezu versteinert dastand. Ganz, als könnte er nicht glauben, was sie da sagte und als würde er noch weniger wissen, was er darauf erwidern sollte. Sie sah den Schmerz in seinen Augen, auch wenn sie ihn nicht verstand. Sie hatte ihren Plan durchschaut – war für die beiden doch egal, sie würden auch letztlich bekommen, was sie gewollt hatten. Zitternd atmete sie durch, wollte gerade weiterreden, als Dies Stimme ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

 

„Ataru.“ Im Gegensatz zu seiner Anspannung vorhin klang er nun so ruhig, dass es sie fast noch wütender gemacht hätte, hätte sie dazu die Kraft gehabt.

 

„Was?“ Die Silbe verließ ihren Mund, ohne dass sie ihren Blick von Toshiya löste.

 

„Ataru, schau mich bitte einfach an.“ Obwohl sie dem Wunsch des Älteren eigentlich nicht nachkommen wollte, nicht noch mehr Lügen hören wollte – da war etwas in seiner Stimme, dass sie geradezu dazu drängte. Es lockte sie, wie eine Melodie, die so in den wenigen Worten nicht vorhanden sein sollte.

 

Ihr erneutes „Was?“ blieb ihr im Hals stecken, als sie seiner Bitte nachkam. Die stand nicht mehr, wie noch vor wenigen Augenblicken, etwas unbeholfen ein paar Meter von ihnen entfernt am Strand. Nein, er saß fast schon entspannt in der seichten Brandung, als würde er einfach die Sonne genießen, die sein langes, karamellglänzendes Haar langsam trocknete und die Schuppen des eleganten Fischschwanzes, der die sonnengebräunte Haut seines Oberkörpers ablöste, wie polierte Bronze glänzen ließ.

Das einzige, was jetzt Atarus Lippen verließ, war ein ersticktes Einatmen und für einen Moment befürchtete sie, dass ihre Beine unter ihr nachgeben würden. Aber auch nach mehrmaligem bewussten Zwinkern änderte sich nichts an dem Bild, das sich ihr bot. Obwohl die Umstände so vollkommen anders waren als in ihrer Erinnerung, war es, als würde sie die Begegnung mit Shiori erneut erleben. Nur, dass sie jetzt gerade noch fassungsloser war als damals, selbst wenn es vielleicht genau umgekehrt hätte sein sollen.

 

Langsam und immer noch zitternd ging sie auf Die zu, der ihren Blick lediglich mit einem Lächeln erwiderte und schließlich eine Hand nach ihr ausstreckte. Sie blieb stehen, ohne sie zu ergreifen, war weiterhin vollauf damit beschäftigt zu begreifen, was hier eigentlich gerade passierte.

 

„Verstehst du jetzt, warum wir hier in Ruhe mit dir reden wollten?“, fragte er schließlich, schickte mit den wenigen Worten einen Schauer über Atarus Körper. Sie konnte zur Antwort nur nicken, während ihre Augen den kleinen Mustern und Reflexionen folgten, die die glänzenden Fischschuppen auf Dies Oberkörper und den Sand um ihn herum warfen.

 

„Tut … mir leid, dass ich gerade so ausgetickt bin“, brachte sie schließlich heiser stammelnd hervor, weil dies der einzige Gedanke war, den sie zu Worten formen konnte. Sonst herrschte vollkommene Leere in ihrem Kopf. Einmal mehr brannten ihre Augen vor Tränen, die sie nicht vergießen wollte. Und als Die diesmal seine Arme für sie öffnete, konnte sie nicht anders, als diese Einladung anzunehmen und zuzulassen, dass er sie an sich zog. Sie ließ sich auf die Knie fallen, hätte sich am liebsten für die nächste Zeit in dieser Umarmung verkrochen. Allein schon, weil ihr eben einfach die Worte fehlten, um auch nur ansatzweise ausdrücken zu können, was in ihr vorging.

Dies Haut fühlte sich an ihrem erhitzten Gesicht angenehm kühl an und an der Seite ihres Beines konnte sie die Schuppen fühlen, die gleichzeitig glatt und seltsam rau waren. Ganz so, als wären sie wesentlich stabiler, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Ataru atmete tief ein, genoss für einen weiteren Augenblick diese beruhigende Nähe, die der andere ihr gab, hätte am liebsten weiterhin darin verharrt, zwang sich aber schließlich, sich wieder aufzurichten.

 

Toshiya stand noch immer einige Schritte von ihnen entfernt, die Spannung in seinem Körper ebenso deutlich erkennbar, wie der Schmerz in seinen Augen, während er sie betrachtete. Schuldbewusst biss sie sich auf die Lippen, kam dann mühsam auf die Beine.

 

„Es tut mir wirklich leid“, wiederholte sie ihre Worte von eben lauter, sodass auch er sie hören konnte. „Ich … es ist … Ich hab heute keinen besonders guten Tag. Emotional betrachtet.“ Während sie sprach, rappelte sie sich unbeholfen wieder auf und überbrückte langsam den Abstand zu ihm. „Ich weiß, dass das keine Entschuldigung ist. Aber es war alles … ein bisschen viel. Und ich hab nicht verstanden, was los ist, und hab angefangen zu zweifeln und dachte, dass ihr mich vielleicht doch nicht mehr wollt und-“ Sie hielt inne, als Toshiyas Hände ihre eigenen umschlossen und sacht zudrückten. Sie hob den Kopf, um ihn ansehen zu können. „Ich wollte dich nicht verletzen.“

 

Ein leises Seufzen verließ die Lippen ihres Freundes. Er schüttelte langsam den Kopf und auch wenn seine Augen weiterhin ernst wirkten, zog er sie vorsichtig noch etwas näher zu sich.

 

„Wir würden dich niemals einfach wegschicken, Ataru“, sagte er dann leise, aber so bestimmt, als wollte er allein mit diesem Satz sämtliche Zweifel und Selbstzweifel aus ihren Gedanken verbannen. „Der einzige Grund, warum wir das hier tun, ist, damit wir dazu nie gezwungen sind.“
 

„… Okay.“

 

Auch jetzt hätte sie gern mehr gesagt, hätte nur zu gern erklärt, wie sehr sie das alles hier und ihr Leben im Allgemeinen momentan überforderte. Angefangen bei dem Traum der letzten Nacht und dem Schmerz über die Ablehnung ihrer Eltern, bis hin zu der Tatsache, dass allein die Möglichkeit Toshiya und Die zu verlieren so schmerzhaft war, dass sich ihr Brustkorb noch immer wie zugeschnürt anfühlte. Sie hatte jetzt nach dieser unfassbaren Offenbarung noch weniger eine Ahnung, wie das zwischen ihnen überhaupt funktionieren sollte als ohnehin schon, aber wenn sie eines mit Sicherheit sagen konnte, dann dass sie hier und jetzt bei ihnen sein wollte.

Vorsichtig löste sie eine Hand aus Toshiyas beruhigendem Griff, wischte sich damit grob über die Augen – nicht ohne nun definitiv froh darüber zu sein, ihr Make-up heute Morgen verschmäht zu haben – bevor sie mit einem zaghaften Lächeln zu Toshiya nach oben blinzelte.

 

„Zeigst du mir, wie du wirklich aussiehst?“

 

Für einen kurzen Moment wirkte er unschlüssig, dann aber schlich sich auch auf seine Lippen ein kleines Lächeln, fast als würde er sich über etwas amüsieren, wovon sie nichts wusste.

 

„Komm“, war alles, was er schließlich sagte. Er festigte den Griff um Atarus zweite Hand und ging gemeinsam mit ihr zum Wasser, wo Die sich geradezu in der Sonne aalte, ohne noch irgendwelche Anzeichen seiner bisherigen Anspannung zu zeigen. Im Gegenteil, er wirkte ganz so, als sei die Sache für ihn damit erledigt und als stünde einem entspannten Nachmittag nun nichts mehr im Wege.

Er reckte sich Toshiya entgegen, als dieser sich zu ihm beugte, um ihm einen flüchtigen Kuss zu geben, und bedeutete dann Ataru sich wieder zu ihm zu setzten. Sie sah dem Schwarzhaarigen hinterher, als dieser wortlos weiter ins Meer ging.

 

„Ich wollte ihm das wirklich nicht alles so an den Kopf werfen …“, sagte Ataru leise. Sie zuckte leicht zusammen, als sie Dies Hände spürte, die vorsichtig durch ihr nasses Haare kämmten, versuchte aber sich unter den sanften Berührungen zu entspannen.

 

„Er ist nicht nachtragend, mach dir keine Sorgen.“

 

„Trotzdem. Ich hätte das alles so nicht sagen sollen.“

 

„Er hat nicht damit gerechnet, dass du so reagierst. Ich glaube, das macht ihm viel mehr zu schaffen, als das, was du gesagt hast. Es passiert nur sehr selten, dass ihn etwas so unvorbereitet trifft.“ Einen Herzschlag lang spürte sie Dies Lippen auf ihrer Schulter, bevor er sein Kinn darauf stützte. „Wir haben uns heute alle nicht gerade von unserer besten Seite gezeigt, würde ich sagen.“

 

Vielleicht hätte er noch mehr gesagt, aber in diesem Moment tauchte Toshiya, der bisher in den seichten Wellen verschwunden gewesen war, wieder auf und schwamm mit wenigen fließenden Bewegungen zu ihnen.

[LEFT]Für das letzte Stück nahm er seine Arme zu Hilfe, fand so seinen Platz auf Atarus anderer Seite. Sie hatte gedacht, dass sie allein durch Dies Anwesenheit auf den Anblick, den er bot, vorbereitet hätte sein müssen, verschlug es ihr dennoch die Sprache. Auch die Schuppen, die Toshiyas untere Körperhälfte bedeckten, glänzten golden in der Sonne, aber wo sie bei Die warme, bronzene Untertöne hatten, konnte sie nun immer wieder violett-blaue Reflexe entdecken. Fast ohne ihr Zutun streckte sie eine Hand aus und ließ ihre Fingerspitzen ehrfürchtig darüber streichen, bevor seine mit Schwimmhäuten besetzten Finger ihre einmal mehr einfingen.[/LEFT]

[LEFT]

„Bekommt ihr Ärger, weil ich jetzt von euch weiß?“, wollte sie besorgt wissen, sah kurz zwischen den beiden hin und her. „Ich werde niemandem etwas sagen, versprochen.“ Schließlich hatte sie keine Ahnung, wie sich das bei Nixen – oh Gott, die beiden waren tatsächlich Nixen, wer würde ihr das bitte überhaupt glauben, wenn sie es selbst noch nicht fassen konnte? – so verhielt oder ob sie überhaupt mit anderen ihrer Art zusammenlebten.
 

Auch jetzt verließ ein leises Seufzen Toshiyas Lippen, wurde aber von einem schiefen Lächeln abgewiegelt, das es nicht so wirken ließ, als würde er sich was das betraf große Sorgen machen. Stattdessen streckte er sich kurz, bevor er sie unter Dies aufmerksamen Blicken an sich zog.
 

„Wir werden sehen, aber mach dir darüber erst mal keine Gedanken.“[/LEFT]


Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay, erst mal eine dicke fette Entschuldigung dafür, dass das Update so lang gedauert hatte. Teile des Kapitels gab es tatsächlich schon im November und dann war das Weihnachtsprojekt und dann irgendwie die Luft raus und joa. Dafür ist es relativ lang?
Kurz ein, zwei Anmerkungen: ich habe mich entschlossen Atarus Namen auch in ihrer Kindheit beizubehalten, weil ich da a) nicht irgendwie spekulieren und das Ganze komplizierter machen wollte, als es sein musste und b) Ataru ein Name ist, der im Japanischen an kein Geschlecht gebunden ist - was mir hier entgegenkommt (gleiches gilt übrigens für Shiori :D ).
Und: auch wenn ich noch nicht weiß, wann das nächste Kapitel kommt, es wird definitiv ruhiger und fluffiger, als das hier, alles andere übersteh ich selbst emotional nicht ^^° Komplett anzeigen

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